„Marion: Roxys Geheimnis“ ist ein gesellschaftskritischer Erotikroman in epischer Tiefe. Im Mittelpunkt steht die erfolgreiche, aber einsame Wirtschaftsjuristin Marion, die von der jungen Ausreißerin Roxy in einen faszinierenden Lifestyle entführt wird. Dabei entfesselt sie ihre lange unterdrückte Leidenschaft und entschlüsselt Roxys geheime Identität.
Kapitel 1 — Versuchung an Heiligabend: das Punk-Girl und die Businessfrau
„Viele Grüße und ein Frohes Fest“ tippte Marion noch schnell unter die E-Mail mit den umfangreichen Anhängen, an denen sie seit dem frühen Vormittag gesessen hatte. Das Gutachten, das Sie für ihren Technologiekonzern als Wirtschaftsjuristin anfertigen musste, hatte sie schon seit Wochen an den Schreibtisch gefesselt. Nicht dass ihr das etwas ausmachte – im Gegenteil, es war eine ihrer größten Stärken, sich ganz auf ein Ziel zu konzentrieren. Aber sie war nun doch erleichtert, dass sie sich endlich den wohlverdienten Feiertagen widmen konnte.
Sie sah zum ersten Mal seit Langem wieder von ihrem Bildschirm auf und stutzte. War es schon so spät? Alles um sie herum lag in einer eigentümlichen Dämmerung, nur erhellt von dem wenigen Licht, das der schon dunkelblaue Himmel durch die bodentiefen Fensterflächen des futuristischen Bürogebäudes warf.
Marion stand auf und schaute hinaus. Die sonst hell erleuchteten, sterilen Fertigungshallen für die hochsensiblen Elektronikteile lagen in einem für sie völlig ungewöhnlichem Dunkeln. Auch im Seitenflügel ihres Bürogebäudes konnte sie nur die vereinzelten Lichterketten erkennen, mit denen manche – meist ältere und weibliche Angestellte – ihr Büro für die Adventszeit schmückten. Auch Dorothea, ihre Assistentin hatte einen erzgebirgischen Schmiedebogen aufgestellt.
Sie schaute auf die Uhr – kurz vor fünf. Dann wurde ihr klar: heute hatten alle frei. Es war Heiligabend. Marion hatte sich für ihre Arbeit einmal mehr so sehr von der Außenwelt abgekapselt, dass ihr das erst jetzt so richtig bewusst wurde. Dorothea würde wieder mit ihr schimpfen. „Sie arbeiten zu viel, wenigstens an Heiligabend sollten Sie bei Ihrer Familie sein“.
Im Grunde genommen hatte sie ja recht. Allerdings hatte sie Doro nie erzählt, dass sie keine Familie hatte. Sie war Einzelkind, genau wie ihre beiden Elternteile, die jetzt zusammen auf den Kanaren ihren Lebensabend verbrachten. Ihren Mann hatte sie vor fünf Jahren rausgeworfen und für Freundschaften hatte sie keine Zeit, weil sie sich nach ihrer Scheidung noch mehr in die Arbeit stürzte.
Urplötzlich fühlte sie sich erschöpft, einsam und traurig. Früher hatte sie nach getaner Arbeit ein wahres Glücksgefühl. Jetzt war es mehr eine Erleichterung. Aber diese schien wohl auch immer weniger lange anzuhalten. Nun ja, dachte sie sich, das Alter geht auch an mir nicht spurlos vorüber. ‚
Forever Young‘. Der Song von Alphaville kam ihr in den Sinn. Er versinnbildlichte lange ihre Einstellung, doch jetzt passte er nicht mehr zu ihr. Nächsten Monat würde sie vierzig werden. Eigentlich auch nur ein Jahr mehr, aber eine symbolische Schwelle, die lange Zeit noch so weit weg war.
Wie wenn sie so die dunklen Gedanken einfach vertreiben könnte, ging sie zur Tür und drückte alle Lichtschalter gleichzeitig. Die grellen LED-Leuchten fluteten ihr großes Büro mit weißem Licht. Schlagartig wurde die Welt draußen pechschwarz und die Fensterflächen schienen sich in Spiegel zu verwandeln. Sie sah sich darin, stehend inmitten eines modern-steril eingerichteten Raumes, angeleuchtet von kühlem Licht.
Sie betrachtete ihre Silhouette; ihr Businesskostüm schmiegte sich nach wie vor elegant an ihren vom regelmäßigen Lauf- und Krafttraining perfekt geformten Körper. Das dunkle Haar fiel ihr wallend über die Schultern und ihr Gesicht strahlte trotz der Erschöpfung, die sie empfand, die Eleganz und Schönheit aus, um die sie viele Menschen bewunderten. Aber so manche Frau auch beneidete.
Ihre dunklen, feurigen Augen, ihre vollen Lippen, ihren südländischen Teint und ihre fast strengen, aber sehr grazilen Gesichtszüge hatte sie von ihrer Mutter. Einer Spanierin mit nordafrikanischen Vorfahren. Marion wirkte immer wie eine jüngere Ausgabe von ihr.
Sie trat näher an das Fenster, um ihr Gesicht genauer zu betrachten. Zum ersten Mal nahm sie bewusst die ersten Falten um die Augen und den Mund wahr. Betrübt sah sie zur Seite und ihr Blick fiel auf den einzig einladend wirkenden Fleck in ihrem Büro. Auf dem Besprechungstisch stand ein leuchtend roter Weihnachtsstern und daneben ein Geschenkpäckchen mit roter Schleife. Die Pflanze hatte Doro am Nikolaustag hingestellt. Aber wo kam das Päckchen her?
„Alles liebe zu Weihnachten von Doro“ las Marion in der beiliegenden, selbstgebastelten Glückwunschkarte. Ihre Augen wurden feucht. Seit ihrer Trennung hatte sie keine Geschenke mehr zu Weihnachten erhalten. Und jetzt brach sie fast in Tränen aus. Wurde sie mit dem Alter sentimental? Oder war es die Scham, dass sie es nicht registriert hatte, als Doro das Geschenk am Vorabend abgestellt hatte und sich in die Feiertage verabschiedet hatte? Sie hatte ihr nur abwesend ein Frohes Fest gewünscht…
Zehn Minuten später stand sie am S-Bahnhof und zog den Kragen ihres Mantels hoch. Der Himmel war sternenklar und es ging ein eisiger Wind. Kaum zu glauben, dass der Wetterbericht weiterhin unbeirrbar eine weiße Weihnacht für ihre Region vorhersagte. Marion ärgerte sich, dass sie am Morgen nicht daran gedacht hatte, mit ihrem Mercedes GLA ins Büro gefahren zu sein. ‚Macht der Gewohnheit‘ maßregelte sie sich, schließlich war es an normalen Werktagen absoluter Unfug, sich mit dem Auto durch die verstopften Straßen der Stadt zu quälen. Aber eben nur an normalen Werktagen.
Der Wagon der Bahn war leer bis auf eine ältere, freundlich wirkende Dame. Sie hatte eine große Plastiktüte eines Spielwarenladens aus der Innenstadt dabei. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg zu ihren Enkeln, dachte sich Marion. Sie bekam gleich wieder Tränen in die Augen, als sie sich vorstellte wie die Augen der Kinder beim Auspacken leuchten würden. Die Dame schien ihre Gedanken zu erraten und lächelte ihr freundlich zu.
Verlegen lächelte sie zurück und beschloss sodann, Doro eine ausführliche Nachricht auf ihrem Smartphone zu tippen, um sich für das Päckchen zu bedanken. Sie freue sich wie ein Kind darauf, es bei der Bescherung aufzupacken, schrieb sie ihr.
Am Hauptbahnhof musste sie in die U-Bahn umsteigen. Auf dem Weg durch die Katakomben, vorbei an den vielen Kiosken, Backshops, Stehcafes und Fast-Food-Läden herrschte an Feierabend immer ein heilloser Trubel. Heute war es fast wie ausgestorben.
Sie schlug ihren gewohnten Weg ein, der an dem kleinen unterirdischen Platz vorbeiführte, der ursprünglich wohl als Wartebereich für Bahnreisende gedacht war. Jahrelang machten die Einwohner der Stadt einen großen Bogen um das Areal, denn hier hatte sich die Drogen- und Obdachlosenszene niedergelassen.
Im vergangenen Sommer aber nahm sich die Initiative Zukunft 21 der Menschen am Rande der Gesellschaft an. Diese trafen sich zwar immer noch an dieser Stelle, aber die Streetworker und Ehrenamtlichen des Projektes machten daraus eine Begegnungsstätte, in der schon einige Menschen wieder den ersten Kontakt zur Gesellschaft und weg von der Straße fanden. Möglich war dies wohl auch, weil die Initiative von Althippies und jungen – Marion würde sagen – „Edelpunks“ getragen wurde. Das Projekt machte sogar landesweit positive Schlagzeilen und ließ die schlechte Presse über die Dauerbaustelle Tiefbahnhof eine Zeit lang in den Hintergrund treten.
Sie erinnerte sich noch an ihren ersten Kontakt mit der Gruppe, als sie von einer jungen, fröhlichen Frau angesprochen wurde. Roxy stellte sich als Erstsemesterstudentin vor, warb für die Initiative und bot ihr Eintrittskarten für ein hochkarätig besetztes Benefizkonzert an. Noch in Gedanken an ihren Arbeitstag war Marion zunächst etwas irritiert, als sie von der für ihre Verhältnisse sehr extravagant gestylten Roxy angesprochen wurde.
Rastalocken, aber sehr gepflegt, eine Nietenlederjacke, ein knapper, edel-zerrissener Jeansrock, hohe Schnürstiefel und ein bauchfreies T-Shirt mit einem frechen Spruch. Tattoos überall. Je fünf Piercings in beiden Ohren, je eins in der linken Augenbraue und dem rechten Nasenflügel sowie zwei Perlenstecker schmückten ihr hübsches Gesicht und ihren entwaffnend lächelnden Mund. „Entschuldige die Störung, hättest du mal einen Moment Zeit für mich?“ begann Roxy das Gespräch ganz unbefangen. Und die Geschäftsfrau fand es ganz und gar nicht respektlos.
Sie musste lächeln, als sie an Roxy dachte. Sie hatten sich in den letzten Wochen öfter an dem Platz auf einen Plausch getroffen. Marion wartete hin und wieder auch einmal geduldig ab, wenn Roxy gerade mit einem Passanten im Gespräch war. Dabei beobachtete sie die junge Frau, wie sie ihre „Opfer“ mit ihrer frech-fröhlichen Art alle um den Finger wickelte.
Drei, vier Mal hatte sie Roxy in ein Cafe eingeladen und sich angeregt mit ihr unterhalten. Sie studierte BWL, wie sie es einmal tat, und nicht nur so gab es viele gemeinsame Anknüpfpunkte für angeregte Gespräche. Und gemeinsam amüsierten sie sich über die verstohlenen Blicke der anderen Gäste, die sich wohl wunderten, in welcher Beziehung die elegante Enddreißigerin und ihre fast schon zu sexy gekleidete, blutjunge Begleiterin standen.
„Nun ja, heute wird wohl niemand in der Begegnungsstätte sein“, dachte sich Marion, als sie um die Ecke bog, und nur flüchtig ihren Kopf in Richtung des gähnend leeren, kalten Platzes drehte.
Doch dann blieb ihr Blick an einer zusammengekauerten Person hängen, die in der Ecke am Boden saß. Sie sah genauer hin und erkannte die frechen Rastalocken. „Roxy?“ sagte Marion und ging ein paar Schritte auf die Person zu. Die junge Frau schaute auf. Sie zitterte und hatte verheulte Augen, doch lächelte sofort, als sie Marion sah.
„Hallo Marion, schöne Weihnachten“, lächelte sie gequält. „Oh Gott, Mädchen, du bist ja ganz durchgefroren. Was ist denn passiert?“ fragte sie besorgt. „Warum bist du dann nicht zuhause?“ Eine zitternde Stimme formte einen erschreckenden Satz: „Ich hab‘ kein Zuhause…“
Kurz darauf saßen beide in einem der wenigen Cafes, die in Bahnhofsnähe noch offen hatten. Sie hatten bei einem übelgelaunten Kellner zwei große heiße Kaffees bestellt und Roxy berichtete ihrer Freundin schluchzend von ihrer misslichen Lage. Marion hielt ihr dabei beide Hände, nicht nur um die durchgefrorenen, zarten Finger zu wärmen, sondern ihr auch zu zeigen, dass sie für sie da war.
Vor einem Jahr hatte sie sich mit ihrem Vater endgültig überworfen und war zu ihrer Freundin gezogen. Diese bekam jedoch überraschend für das Wintersemester einen Platz an einer englischen Uni. Seither machte sie „Couchsurfing“ bei Kumpels und Bekannten.
„Ist ja nur vorübergehend, ich habe eine Studentenbude für den Beginn des Sommersemesters in Aussicht“ entschuldigte sie sich quasi. Normale, selbst klitzekleine Wohnungen in der Stadt sind für Studierende unerschwinglich. „Die kleinen Gefälligkeiten als Gegenleistung für das mietfreie Wohnen erbringe ich deshalb gerne, wenn du weißt was ich meine…“.
Marion wusste im Moment nicht, was sie meinte, hörte aber weiter aufmerksam zu. Zurzeit war Roxy bei einem jungen Ingenieur untergekommen, der mit Frau und Kind im Ruhrgebiet lebte, aber hier arbeitete. Am Wochenende hatte sie die Wohnung für sich allein, was sehr angenehm war, und so freute sie sich auch auf die Feiertage. Bis er ihr heute Nachmittag eröffnete, dass seine Frau auf der Anreise sei. Sie wolle unbedingt mal wieder eine weiße Weihnacht erleben.
„Ich hätte den blöden Arsch umbringen können“. Mit diesen Worten kehrte die Marion eher vertraute, selbstbewusste Seite ihrer jungen Freundin wieder zurück. „Ich wollte einfach nur weg von dem Typen, hab nur mein Handy geschnappt und bin raus. Er hat mir noch Nachrichten geschrieben, aber da kann er lange warten, bis ich die lese.“
Sie kam dann zum Bahnhof, weil sie hoffte, dort ihren Kommilitonen Olli zu treffen, der ihr über Weihnachten „den roten Teppich ausgerollt hätte“. Er war aber nicht da, und zu allem Überfluss war jetzt auch noch ihr Akku alle, so dass sie nicht wusste, was er auf ihre Nachricht geantwortet hatte.
„Der Akku müsste jetzt wieder genügend Saft haben“ sagte Marion mit Blick auf das teure IPhone, das am Ladekabel hängend neben ihnen auf dem Tisch lag. „Du wirst seh’n, der rote Teppich liegt schon für dich bereit“ munterte sie ihre Freundin auf, die jetzt tatsächlich wieder lächeln konnte. Mitfühlend beobachtete sie die Mimik des hübschen Mädchens, als sie das Gerät einschaltete und wartete, bis die Nachricht von Olli erschien.
Leider verdunkelte sich ihre Mine wieder. „Fuck! Olli ist bei seinen Eltern in Hamburg.“ Roxy errötete leicht, nahm die Hand vor den Mund und flüstere „Sorry, das war jetzt nicht die feine Art.“ Marion lächelte nur vergebend und legte ihre Hand besänftigend auf Roxys. Sie bewunderte die junge Frau, wie abgeklärt sie mit der Situation umging. Weihnachten, minus fünf Grad und kein Dach über dem Kopf. Sie selbst brauchte immer Planungssicherheit und würde an Roxys Stelle völlig durchdrehen.
„Ich probier’s mal noch bei Susanne“ sagte Roxy, hielt sich das Handy ans Ohr und drehte sich zur Seite, um ungestört telefonieren zu können. Peinlich berührt schaute Marion zum Fenster hinaus. Eigentlich war es ihr nicht recht, ein Telefongespräch mitzuhören, bei dem das Mädchen womöglich um etwas eigentlich selbstverständliches betteln musste. Aber sie wollte jetzt auch nicht aufstehen und Roxy allein lassen, also versuchte sie so gut wie möglich wegzuhören. Was aber naturgemäß nicht funktionierte.
„Ja, freu mich auch deine Stimme zu hören…. mir geht’s soweit ganz gut…Du, Susi kann ich ein paar Tage bei dir pennen? … ach so, ja klar… doch, Anja kenn ich auch, ist ’ne ganz Nette… da freu ich mich für euch… dir auch schöne Weihnachten und ’nen guten Rutsch… ganz liebe Grüße auch an Anja…treibt’s nicht so doll… Bussi… Ja Ciao mach’s gut… Ich dich auch…“
Die hübschen Augen der jungen Frau waren nun wieder ganz feucht. Marion konnte nicht genau sagen ob nun aus Enttäuschung, Trauer oder Wut. Sie wusste nicht wer Susanne war, und in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen. Möglicherweise ihre Schwester.
Kurz dachte sie, es könnte vielleicht die Freundin sein, die in England studiert. Doch fiel ihr das Tattoo auf Roxys linkem Unterarm ein. Ein wunderschönes, plastisches Herz mit einem Pfeil hindurch und einem romantisch verschnörkelt geschriebenem Namen darin. Mitfühlend fasste sie wieder beide Hände ihrer Freundin und frage: „Was ist mit Lara? Sie ist doch deine Freundin, oder? Kannst du über die Feiertage nicht bei ihr unterkommen?“
Roxy schaute sie mit großen Augen an. „Woher weißt du das mit Lara? Ich hab‘ dir doch sicher nicht von ihr erzählt…“. Marion schaute nur kurz auf den linken Ärmel der Lederjacke, da beantwortete Roxy schon ihre Frage selbst. „Ach ja, das Tattoo. Du bist also doch eine gute Beobachterin.“
Marion wurde etwas verlegen, war es doch eigentlich nicht ihre Art, sich in die Intimsphäre Anderer einzumischen. „Na ja, ich dachte, ihr… aber ich will nicht zu neugierig sein…“. „Nein, nein, ist schon in Ordnung“ entgegnete Roxy mit betrübtem Gesicht. „Um es mit Facebook zu sagen: es ist kompliziert…“
Jetzt traten auch Marion wieder die Tränen in die Augen. Sie fühlte so sehr mit Roxy mit. Auch sie hatte sich heute schon einsam und verlassen gefühlt. Und das änderte sich schlagartig, als sie unverhofft die sonst so lebenslustige junge Frau traf, die sie irgendwie schon vom ersten Moment an in ihr Herz geschlossen hatte.
Aus einem für sie selbst überraschenden Impuls heraus sagte sie: „Roxy, wenn du möchtest kannst du selbstverständlich mit zu mir kommen.“ Als Roxy ihr nur überrascht in die Augen schaute, fuhr sie fort: „Ich bin allein zuhause, du würdest ganz und gar nicht stören. Im Gegenteil…“ Als ob sie eine Falle wittern würde, entgegnete Roxy: „Aber du hast es doch sicher nicht nötig, Weihnachten mit einer obdachlosen Schlampe zu verbringen!“
Jetzt war Marion irritiert und fast ärgerlich. „Bitte sprich nicht so von dir. Du bist einer der wunderbarsten Menschen, die ich je kennengelernt habe, bist für dein beneidenswert junges Alter in mancherlei Hinsicht schon so reif. Und du erwartest doch wohl nicht im Ernst, dass ich dich jetzt hier einfach so deinem Schicksal überlasse und es mir in meinem warmen Zuhause gemütlich mache!“
Roxy schien kurz nachzudenken, bevor ihre Augen und ihr Mund wieder das so fröhliche Lächeln annahmen. „Danke, das ist so lieb von dir.“ Sie führe Marions Hände zu ihrem Mund und küsste sie dankbar. „Und sorry, ich muss sehr undankbar auf dich gewirkt haben. Natürlich komm ich mit zu dir. Und du sollst es auch nicht bereuen.“
Ein weiteres Mal irritiert entgegnete Marion: „Da gibt es ganz sicher nichts zu bereuen. Ich bin unheimlich gern mit dir zusammen. Und wann immer du allein sein willst, kannst du dich ins Gästezimmer zurückziehen. Also alles kein Problem.“
Roxy schaute ihr tief in die Augen und sagte: „Ich bin auch unheimlich gern mit dir zusammen. Und ich werde dir auch nichts schuldig bleiben.“ Die selbstbewusste junge Frau war wohl zu stolz um etwas geschenkt zu bekommen und so signalisierte Marion ihr Verständnis: „Mach dir keine Gedanken. Wir werden uns schon einig werden“. „Sehr gern“ und ein weiterer Kuss auf ihr Hand waren die Antwort…
Nach drei Haltestellen und zweihundert Meter Fußmarsch kamen die beiden in Marions Appartement an. „Geh doch gleich durch ins Wohnzimmer, nehm‘ dir eine Decke und setzt dich aufs Sofa. Du bist schon wieder ganz durchgefroren“ sagte Marion, als sie die Tür aufschloss.
Etwas schüchtern ob der nobel wirkenden Eirichtung aber durchaus neugierig trat Roxy in den Flur, blieb dann aber unentschlossen stehen. „Na geh schon, ich komm gleich nach. Ich muss nur kurz für kleine Mädchen. Ist immer so, wenn ich nach Hause komme. Pawlow lässt grüßen…“ grinste Marion entschuldigend und verschwand gleich in der Gästetoilette.
Während sie die Hände wusch, dachte sie daran, wie überraschend sich der Tag doch entwickelt hatte. Eigentlich hatte sie sich auf ein einsames aber ruhiges Weihnachten eingerichtet. Ausschlafen, ein gutes Buch lesen, einen Schneespaziergang, ‚Drei Nüsse für Aschenbrödel‘ schauen. Stattdessen hatte sie nun Besuch, der sie sicher auf Trab halten würde.
Eine Ausreißerin, wie Marion jetzt erst so richtig bewusst wurde. Ob sie sich wirklich in ihrer sterilen Nobelwohnung wohlfühlen wird? Möglicherweise hat sie jetzt schon wieder Reißaus genommen, kam ihr plötzlich in den Sinn. Kurz wurde ihr ganz heiß. Sie hatte ihre Handtasche gedankenlos auf dem Garderobenschrank abgestellt. Da war einiges an Bargeld drin, auch ihre Autoschlüssel, ihr Handy und ein teures Eau de Parfum…
Besorgt öffnete Marion die Toilettentür und ihr Blick suchte sogleich ihre Handtasche. Sie stand noch da, wie sie sie hingestellt hatte. Und es war noch alles da. ‚Marion, du misstrauische alte Kuh, das hat die Kleine wirklich nicht verdient‘ schalt sie sich in Gedanken und ging ins Wohnzimmer. Doch das Sofa war leer. „Roxy?“ rief sie fragend in das geräumige Wohnzimmer, das durch den Essbereich und die offene Küche geradezu riesig wirkte.
„Du hast es wunderschön hier“ kam die vertraute Stimme von Richtung Fenster. Wie ein Kind bei seinem ersten Zoobesuch stand sie staunend vor den bodentiefen Fenstern und schaute auf die weihnachtlich beleuchtete Stadt hinab. Marion trat zu ihr, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und entgegnete: „Danke. Freut mich, dass es dir gefällt. Ich fühl mich sehr wohl hier.“
Roxy drehte sich plötzlich um, schlang beide Arme um Marions schlanke Taille, schaute ihr tief in die Augen und sagte: „Ich fühle mich auch sehr wohl bei dir“.
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