Eine gute halbe Stunde später lagen die beiden kuschelnd auf dem Sofa, eingehüllt in blütenweiße, flauschige Bademäntel, das nasse Haar in Handtücher gewickelt. Nachdem Marion schnell das Bettlaken in die Waschmaschine gesteckt hatte, stürzten beide noch zwei große Gläser Mineralwasser hinunter. Die Tagesereignisse hatten sie doch recht durstig gemacht. Auf dem Sofatischchen stand zudem eine Literflasche kühler Diät-Cola, die auch schon bis auf einen kleinen Rest geleert war.

Vom großen Flachbildschirm flimmerte nun doch „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Roxy hatte den Weihnachtsklassiker tatsächlich noch nie am Stück geguckt. Zum Glück hatte Marion ihn auf ihrem Festplattenrekorder, so dass er jederzeit für sie verfügbar war.

Marion konnte sich nicht erinnern, jemals ein Weihnachten verbracht zu haben, ohne ihren Lieblingsfilm aus der Kindheit zu schauen. An den Festtagen wurde sie immer sentimental und sie fand, dass der Klassiker wie kein anderer auf eine zeitlose Weise pure Romantik verströmte. Und sie bewunderte die Figur des Aschenbrödel schon als kleines Mädchen unheimlich.

Wahrscheinlich lag es daran, dass diese Verfilmung mit der Darstellung einer selbstbewussten, ihr eigenes Glück bestimmenden Heldin, den jungen Zuschauerinnen Mut machen sollte, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Interessanterweise verkörperte die Hauptdarstellerin das in doppeltem Sinne, denn sie setzte sich unter über 2.000 Bewerberinnen um die Rolle durch.

Marion musste schmunzeln. Als Dreizehnjährige wollte sie unbedingt sein wie Libuse Safrankova. Sie war wunderhübsch, klug, frech, selbstbewusst und in dem Film auch auf magische Weise wandlungsfähig. War sie damals vielleicht ein Wenig in sie verknallt?

Automatisch wanderten die Gedanken zu der jungen Frau, die sich auf der Seite liegend an sie gekuschelt hatte und interessiert der Filmhandlung folgte, während sie sich kraulen ließ. Auch Roxy war wunderhübsch, klug, frech, selbstbewusst und auf magische Weise wandlungsfähig. Schloss sich jetzt etwa der Kreis? War Roxy die Prinzessin, in die sie ihr Leben lang heimlich verliebt war?!

Unwillkürlich überkam sie der Drang, ihre Geliebte fest an sich zu drücken, ihr einen zarten Kuss auf die Stirn zu drücken, und ihr aus tiefstem Herzen ein „Ich liebe dich!“ zuzuflüstern.

Roxy schaute sofort zu ihr auf, lächelte dankbar und antwortete mit einem verliebten „Ich dich auch!“, bevor sie ihr hübsches Köpfchen wieder an Marions Schulter kuschelte und sich dem Fortgang des Films widmete.

Es war so wundervoll! Wie oft hatte sie schon einsam hier gesessen und mit Tränen in den Augen Aschenbrödel geschaut. Und jetzt war Roxy bei ihr! Zum ersten Mal genoss sie ihr festlich beleuchtetes Wohnzimmer und ihre Kindheitserinnerungen an Weihnachten nicht allein!

In tiefer Verbundenheit verfolgten die beiden die restliche Handlung bis zum sentimentalen Happy End. Dabei suchten ihre Hände immer wieder gegenseitig nackte Haut zum Streicheln. Sie suchten Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, Zweisamkeit, Liebe. Bald waren die ohnehin nur leicht geschnürten Gürtel der Bademäntel geöffnet und gaben die femininen Körperrundungen preis. Doch beide vermieden es, allzu erogene Zonen zu berühren. Wieder einmal waren sie sich ohne Worte einig, dass dies jetzt nicht passend wäre.

Als zu der bekannten Filmmelodie der Abspann über den Bildschirm lief, setzte sich Roxy langsam auf, und begann sich genüsslich zu räkeln.

„Hach, war das schön.“ Sie wischte sich eine kleine Kullerträne aus dem Äuglein. „Ich wusste gar nicht, dass du so eine Romantikerin bist.“

„Schon hin und wieder mal“ entgegnete Marion, während sie auf den Aus-Knopf der Fernbedienung drückte. „Ich mag halt glamouröse Prinzessinnen, die sich die meiste Zeit hinter ihrer Alltagsmaske verstecken.“ Sie schaute Roxy auffordernd an.

Als diese nur fragend die Stirn runzelte fuhr Marion fort: „Nicht wahr, mein süßes Aschenbrödel?“

Jetzt reagierte Roxy: „Na komm, ich bin doch kein kleines, dummes Prinzesschen, das nur davon träumt, ihren Traumprinzen zu heiraten!“ Sie zuckte mit der Schulter. „Obwohl! Kommt vielleicht darauf an, wer der Prinz ist.“ Jetzt schaute Roxy auffordernd zurück.

Marion lächelte und strich ihr zart über die Wange. „Du bist süß. Aber ich sehe dich und das Aschenbrödel in diesem Film ganz und gar nicht als dummes Prinzesschen. Und du bist zudem noch einmal klüger, stärker und geheimnisvoller.“

„Stimmt, das wird mir erst jetzt so richtig klar. Irgendwie kenne ich nur Märchenfilme, in denen die Frauen auf ihre Rolle als Hausfrau reduziert werden. Selbst wenn sie die Titelpersonen sind.“

„Ach ja? Siehst du das nicht etwas zu verbissen?“

„Ja, vielleicht. Aber denk doch mal zum Beispiel an Frau Holle. Oder an Schneewittchen, die den Zwergen den Haushalt macht. Und was ist meist ihr Ziel? Einen Prinzen heiraten. Die Frau des Königs werden. Bloß nicht selbst regieren oder auf andere Weise die Welt verändern.“

Marion dachte kurz nach. „Stimmt, da könntest du Recht haben. Märchen stammen aber nun mal aus dem Mittelalter, da war die Frau wichtig, um Hof und zusammenzuhalten.“

„Und? Leben wir jetzt etwa immer noch im Mittelalter, oder was?“ Roxy klang leicht ärgerlich.

„Nein natürlich nicht. Aber ist es vielleicht genau das, was wir Frauen an den Märchen so romantisch finden? Dass sich die Heldin nach durchlebtem Abenteuer nicht länger dem harten Alltag stellen muss, aber trotzdem geborgen und angesehen ist? Außerdem finde ich die Figur des Aschenbrödel in diesem Film saustark. Ganz anders als Aschenputtel bei Grimm oder Cinderella bei Disney.“

„Genau, das wollte ich ja eigentlich sagen. Die Rolle ist verblüffend modern für so einen angestaubten Film. Von wann ist der? Anfang der Neunziger?“

Marion musste auflachen. „Nee, Anfang siebziger!“ Dann fuhr es ihr leicht in den Magen, als ihr bewusst wurde, dass genau diese zwanzig Jahre zwischen ihnen beiden lagen. Sie wurde ernst und meinte nachdenklich: „Gott, bin ich eine alte Kuh geworden…“

Sofort nahm Roxy ihre Hand und streichelte ihre Wange. „Quatsch, alte Kuh! Ich sagte doch, der Film ist seiner Zeit um Längen voraus. So wie du auch…“

„Danke. Trotzdem wünschte ich, ich wäre so jung wie du und etwas weniger altmodisch aufgewachsen.“

Roxy zuckte mitfühlend mit der Schulter, um zu zeigen, dass das überhaupt keine Rolle spielt. Als sie aber nichts sagte, kam Marion auf den Film zurück: „Ich denke, der Film hebt sich deshalb von den anderen Märchenfilmen seiner Zeit ab, weil es eine DDR-CSSR-Koproduktion war.“

Jetzt runzelte Roxy fragend die Stirn. „CSSR?“

„Ja, Tschechien und die Slowakei waren zur Zeit des Kommunismus noch vereint und nannten sich so.“ Auf seltsame Weise fühlte sich Marion erleichtert, dass sie zur Abwechslung auch mal Roxy etwas beibringen konnte, nicht immer nur umgekehrt.

„Mhm, das dürfte auch die Erklärung sein. Klassenkampf im Märchengewand. So gut es auch ist, dass es das Stasi-Regime nicht mehr gibt. Aber leider sind mit dem Ostblock auch einige gute Dinge untergegangen.“

„Ja, der Trabbi fehlt mir auch“ scherzte Marion, der im Moment nicht nach politischen Debatten zumute war. Obwohl Roxy mit ihrer weltoffenen und vorbehaltlos fairen Einstellung bestimmt goldrichtig lag. Sie nahm den vorherigen Faden des Gesprächs wieder auf:

„Na, dann glaubst du mir jetzt, dass du mein kluges, starkes und geheimnisvolles Aschenbrödel bist? Meine heimliche Prinzessin?“

Roxy nickte nur nachdenklich, deshalb fuhr Marion fort:

„Doch ganz im Ernst. Du bist mir so unendlich nah und trotzdem weiß ich so wenig über dich. Nicht wo du herkommst, warum du keine Wohnung hast, warum du dich vor deinen Eltern versteckst und was für ein Geheimnis du mit dir trägst. Ich weiß nicht, ob die Tattoos, die Piercings und die zerrissenen Klamotten deine Verkleidung sind, oder dein Glamourlook. Ich weiß nicht mal deinen Nachnamen und wann du geboren bist…“

„Gerstetter, Roxanne Gerstetter. Meinen eigentlichen Vornamen willst du nicht wissen.“

Marion war kurz perplex, dass Roxy ihr wie aus der Pistole geschossen antwortete. Aber dann durchschaute sie das kleine Luder sogleich. Sie hakte genau da ein, wo sie Antworten parat hatte. Entsprechend kühl setzte Marion wieder an:

„Soso, Fräulein Gerstetter. Und wann sind wir geboren, hm?“ Sie schaute Roxy streng an.

Ihre schaute verlegen zurück. Doch in ihren Augen funkelte etwas. Es war wieder der Schalk in ihrem Nacken. Ihr Mund zuckte und Marion war ihr schon wieder hoffnungslos unterlegen, als sie grinsend sagte:

„Naja, ich weiß nicht in welcher grauen Vorzeit du das Licht der Welt erblickt hast. Ich hab jedenfalls am 17. März Geburtstag.“

„Okay, dann wirst du also in drei Monaten… 21?“ Roxy nickte nur kurz und fragte schnell:

„Und du, wann hast du Geburtstag?“

„Nächsten Monat. Am 9.1. werde ich vierzig.“

Roxy legte den Kopf schräg und schaute ungläubig. Dann prustete sie los:

„Quatsch nee, vierzig! Brauchst nicht sarkastisch zu sein, nur weil ich vorhin blöd von grauer Vorzeit rausgelabert hab.“

„Ich bin nicht sarkastisch. Es ist, wie es ist. Ich bin keine Zwanzig mehr.“

„Ja, ja. Aber deshalb musst du dich ja nicht gleich doppelt so alt machen. Wie alt wirst du wirklich, sag schon!“

Jetzt wurde Marion ärgerlich, dass Roxy sie als Lügnerin hinstellte. Sie stand energisch auf, holte ihre Handtasche, kramte nach ihrer Brieftasche und warf ihre Personal — ID-Karte auf den Beistelltisch.

Roxy schaute leicht erschrocken und sofort schämte sich Marion.

„Tschuldige meine schroffe Art. Aber mich nervt es, so alt zu sein. Und dann bin ich bereit, es nicht zu leugnen, und dann glaubst du mir’s nicht mal. Kannst ruhig nachgucken.“

Vorsichtig nahm Roxy die Karte in die Hand und las laut vor. „Marion Michaela Jolanda Zimmermann, geboren neunter Januar… FUCK!“

Roxy drehte die Karte zweimal hin und her, als ob sich irgendwo noch ein passenderes Geburtsjahr finden ließe. Dann schaute sie Marions an, stand auf, kam auf sie zu, legte die Arme um ihre Taille und schmiegte sich entschuldigend an sie.

„Tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt hab. Du… ich meine… ich hätte dich gut und gerne sechs Jahre jünger geschätzt.“ Dann wieder ein schelmisches Grinsen. „Hast dich echt gut gehalten.“

„Danke für das Kompliment“ entgegnete Marion etwas traurig.

Roxy munterte sie aber gleich wieder mit ihrer fröhlichen Art auf:

„Na dann hab ich gerade noch rechtzeitig von deinem bevorstehenden runden Ereignis erfahren. Da denk ich mir natürlich ein ganz besonderes Geschenk für dich aus!“

„Nee Roxy, lass es bitte. Stürz dich nicht in Unkosten. Du brauchst dein Geld doch selbst zum Leben.“

„Nur keine Angst, ich werd schon nicht verhungern. Das Modeln wirft genügend ab.“

Jetzt waren sie wieder an dem Punkt und Marion sah die Gelegenheit, weiter zu bohren.

„Aha, wenn das also so ist, warum lebst du dann quasi als Punkerin auf der Straße, hm?“

Sie schaute Roxy ernst in die Augen. Sie wollte jetzt keine Ausflüchte mehr. Die Kleine schaute verlegen, fast verschüchtert zu Boden. Sofort brach in Marion wieder der Beschützerinstinkt aus. Sie nahm sie in die Arme und streichelt ihr sanft übers Haar, bevor wieder die Tränen fließen konnten.

Nach einer Weile löste sich Roxy und sie begann zögernd:

„Weißt du, es ist halt… wenn ich offiziell etwas anmieten will, dann…“. Sie stockte, überlegte kurz, fuhr dann fort: „… dann meldet mich der an das Einwohnermeldeamt.“

Marion wartete auf die weitere Erklärung, es kam aber nichts.

„Na und? Das ist halt nun mal so. Wo ist das Problem?“

„Na dann weiß doch alle Welt, wo ich zu finden bin.“

„Dann beantrag halt eine Auskunftssperre.“

Roxy lachte sarkastisch auf. „Das ist für die doch kein Hindernis.“

Jetzt stutze Marion. „Wer sind ‚die‘? Deine Eltern?“

Mit leiser Stimme antwortete Roxy: „Auch. Überhaupt die ganzen Typen, die hinter uns her sind.“

„Uns? Wen meinst du jetzt mit uns??“ Marion wurde besorgt.

„Lara und ich. Ich sagte doch, wir haben Mist gebaut.“

„Mensch Roxy, was habt ihr denn für Mist gebaut? Sucht euch die Polizei?“ Marion starrte sie besorgt an.

Roxy wand sich etwas: „Ja… nein… nicht direkt. Wir haben nicht wirklich was verbrochen. Ist ziemlich kompliziert und ich will dich da nicht mit reinziehen.“

Marions Besorgnis mischte sich mit ihrem Beschützerinstinkt und ihrer Neugier. Sie fasste Roxys Gesicht mit beiden Händen und zwang sie, sie anzuschauen.

„Nicht mit reinziehen? Wo reinziehen? Herr Gott nochmal, Roxy! Ich liebe dich über alles. Zusammen schaffen wir das. Egal wie schlimm es ist. Vertrau mir!“

„Ich liebe dich doch auch. Und ich vertraue dir völlig. Aber gerade deshalb darf ich dich da nicht mit reinziehen. Bitte vertrau du mir! Es ist wirklich besser, wenn du Nichts weißt. Und keine Sorge, so dramatisch, wie es klingt, ist es nun auch wieder nicht.“

Marions Gedanken rotierten und sie schaute Roxy immer noch ernst an. „Nicht so dramatisch wie es klingt? Mensch Roxy, ihr seid auf der Flucht!“

„Nee, so darfst du das nicht sehen. Wir wollen nur nicht gefunden werden.“

Marion lachte sarkastisch auf. „Ha, das ist doch das Gleiche.“

Roxy schüttelte den Kopf, nahm Marions Hände aus ihrem Gesicht, hielt sie ganz fest und sah ihr flehend in die Augen. „Bitte vertrau mir. Wenigstens in dieser einen Sache. Wir sind nicht auf der Flucht. Es ist nur so… ich hab mir da was in den Kopf gesetzt… das ist mir sehr wichtig…“

Marion platzte fast vor Ungeduld: „Was hast du dir in den Kopf gesetzt?“

„Schau, es so. Ich könnte mich jederzeit melden und Lara und mir würde nichts passieren. Außer dass wir unser normales Leben wieder hätten… Aber ich war halt jung und stur. Und wir haben uns geschworen, das durchzuziehen. Glaub mir, es vergeht kein Tag, an dem ich meine Entscheidung nicht anzweifle.“

Zig Gedanken schossen Marion gleichzeitig durch den Kopf, ohne dass sie auch einen davon ordnen konnte. Sie schaute Roxy nur fragend in die entschlossen wirkenden Augen.

„Mari-Schatz, ich weiß, das ist unheimlich verwirrend für dich, und ich wünschte, das würde nicht zwischen uns stehen. Aber ich kann nicht anders. Und ich darf auch nicht. Dir zuliebe. Weil ich dich liebe.“

Marion schüttelte nur fragend und enttäuscht den Kopf.

Jetzt drückte die kleine Ausreißerin Marions Hände noch fester und sagte entschlossen:

„Liebling, wir machen das jetzt so: Ich sag dir den Teil, den nicht mal Lara weiß, und im Gegenzug versprichst du mir, nie mehr auch nur ein Wort über das Thema zu verlieren. OK?“

Verzweifelt gestand sich Marion ein, dass sie wohl keine andere Wahl hatte. Roxy war so eine starke Persönlichkeit. Eine zweite Chance, mehr zu erfahren, würde sie wohl nicht bekommen.

„OK. Lass es uns versuchen.“

„Nicht nur versuchen. Du musst es versprechen.“

„Ich versprech’s.“

„Gut, dann setzen wir uns am besten.“

Die junge, starke Frau zog Marion zu sich auf Sofa, legte deren Hände, die sie weiter festhielt, in ihren Schoss und ließ kurz den Kopf hängen, um ihre Gedanken zu sammeln. Dann schaute sie zu Marion auf:

„Also. Es geht um eine Erbschaft. Mein hat mir Optionsscheine vermacht. Aber er hat meinen als Testamentsvollstrecker eingesetzt, bis ich alt genug bin, um zu entscheiden, was damit passieren soll.“

„Verstehe. Und wo ist das Problem?“

„Tja das Problem ist, dass meinem Vater schon Opa ständig dazu gedrängt hat, die Dinger einzulösen. Sie sind ziemlich wertvoll, aber auch schmutzig. Als mein Opa überraschend gestorben war, hatte er mir die Bürde der Entscheidung übertragen.“

„Aha. Und jetzt versuchst du dich um diese Entscheidung zu drücken, indem du dich versteckst?“

„Naja, die Entscheidung habe ich schon getroffen, als ich am Tag vor meinem 18. Geburtstag abgehauen bin, bevor er mich zwingen konnte, den Auflösungsvertrag zu unterzeichnen.“

„Roxy, Süße, versteh mich nicht falsch, aber die erzwungene Unterschrift wäre doch eh nichts wert.“ Jetzt war Marion wieder ganz in ihrem fachlichen Metier. „Im Testament ist doch sicher geregelt, dass über die Sache vor einem bestimmten Zeitpunkt, also wahrscheinlich deinem…“

Roxy sprang ihr zur Hilfe: „… 21. Geburtstag…“

„Okay, ja, also vor deinem 21. Geburtstag keine Verfügung getroffen werden darf.“

„Schon, allerdings hat Opa einen Fehler gemacht. Es gibt noch einen Erbvertrag, und da sind die Dinger nicht erwähnt.“

„Hm verstehe, und dein Vater hat das Testament deshalb angefochten. Allerdings heißt das ja nicht, dass er voll recht bekommt.“

„Richtig. Das Gericht hat einen Vergleich vorgeschlagen…“

„… dem du zustimmen sollst. Aber weil du so ein Sturkopf bist…“

Roxy schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Exakt. Du hast so eine Wahnsinns Auffassungsgabe. Siehst du jetzt, warum ich dich nicht mit reinziehen will?“

„Ehrlich gesagt nein. Da lässt sich doch sicher eine Lösung finden. Ich kann doch…“

Roxy fuhr ihr streng ins Wort. „Nein, kannst du nicht. Ich habe es Opa auf dem Sterbebett versprochen. Und Lara hat sich all die Zeit für mich den Arsch aufgerissen. Ich zieh das durch!“

„Ja, klar. Das respektier ich ja. Trotzdem könnte man doch versuchen, die Sache in ganz im Sinne deines Opas…“

Wieder fuhr Roxy ihr streng ins Wort: „Sag mal, red ich etwa Suaheli? Das ziehen wir so durch, basta!“

„Okay, und wie lange soll das noch gehen? Bis an dein Lebensende? Irgendwann wird das Gericht ja eine Entscheidung treffen, wenn du sie nicht triffst.“

„Schon, aber bis dahin sind die Optionsscheine abgelaufen.“

„Ach komm, glaubst du, dein Vater ist solange untätig? Er wird natürlich rechtzeitig auf eine gerichtliche Entscheidung drängen.“

„Nö, wird er nicht, glaub mir.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Nun, zum einen weiß er nicht, dass die Scheine auslaufen. Und außerdem braucht er die Originale, um sie einzulösen.“

„Und die Originale sind wo?“

„Tja, das gehört zu dem Teil, der nicht von unserer Abmachung umfasst ist.“

„Ach komm Roxy, du bist gemein. Jetzt hast du A gesagt, und musst auch B sagen.“

Mit energischer Stimme entgegnete Roxy: „Nein muss ich nicht. Wir hatten eine Abmachung. Ich hab dir eh schon mehr erzählt, als ich je wollte.“ Ihr Blick wurde ganz weich. „Bitte Liebling, ich hab’s dir erzählt, damit du dir keinen Kopf machst. Dass du nicht glaubst, ich bin ne Kriminelle oder so, und mich hochkant rauswirfst.“

Jetzt wurde Marions Herz ganz weich, und sie fasste wieder das unschuldig blickende, hübsche Gesicht mit beiden Händen: „Mein Liebling, ich würde dich nie rausschmeißen. Selbst wenn du eine Bank ausgeraubt hättest. Zur Not käme ich mit dir auf die Flucht…“

Roxy strahlte, allerdings mit einem wehmütigen Unterton. „Das ist lieb von dir. Aber das ist ja nicht nötig, wie du siehst. Können wir das Thema jetzt bitte abhaken, und nie mehr ein Wort darüber verlieren? Bitte?“

Marions Magen zog sich zusammen. Ihr war immer unwohl, etwas zu versprechen, bei dem sie sich nicht zu hundert Prozent sicher war. Trotzdem sagte sie:

„Gut, das ist jetzt unser gemeinsamer Teil deines Geheimnisses. Und du weißt, dass du mir sehr viel abverlangst, wenn ich nie wieder darüber nachdenken darf. Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben. Aber dafür musst du mir noch eine Frage beantworten.“

„Okay, genau eine Frage hast du noch. Schieß los.“

„Wie lange soll denn der Spuk noch gehen und wissen deine Eltern, dass es dir gut geht?“

„Das waren jetzt zwei Fragen!“

„Roxy!“

„Ist ja gut! Die Scheine laufen nächstes Jahr am 30.6. aus. Und ich lass meinem Vater regelmäßig Postkarten zukommen.“

„Und weiter?“

„Marion bitte! Du hast es mir versprochen!“

Die Neugier und die Schuldgefühle rangen in Marion um die Oberhand. Warum wollte Roxy sie unbedingt aus der Sache raushalten?

„Ich versuche ja, dich zu verstehen. Warum du dir dein Leben so schwer machst. So unnötig schwer. Und warum du Lara mit reingezogen hast, aber mich unbedingt außenvor lassen willst.“

Weitere Geschichten zum Thema

Gerne gelesene Kategorien

Wähle eine Erotik-Kategorie aus, die dich interessiert.