„… ein unbedeutender Hauch von Nichts. Vergiss das nie. Jedes offen gezeigte Gefühl werden sie dir als Schwäche auslegen. In jeder Wahrheit eine Lüge finden. Wann auch immer du zurückweichst, werden sie dir folgen, bis du mit dem Rücken zur Wand stehst. Dann ist es zu spät, um noch zu kämpfen.
Vertraue niemandem, denn nichts macht dich so angreifbar, so manipulierbar. Die Familie, der du mehr Lügen erzählt hast, als du zählen kannst, weil sie dich an jeden Fehler, an jedes Problem auch noch zehn Jahre später immer wieder erinnern. Der beste Freund aus Kindertagen, der sich einfach auf die Seite des Klassenstärksten gestellt, gelacht hat, als sie dich getreten haben. Die Freundin, die sich abends mit einem Kuss verabschiedet und am nächsten Tag ignoriert, als würde sie dich kaum kennen. Dir mit einer Anzeige wegen Stalkings droht, weil du zwei Wochen später wissen wolltest, was eigentlich passiert sei.
Nur …“
*****
Hinter Wolff war das Quietschen einer Türklinke zu hören. Betont unaufgeregt ließ er seinen Notizblock in der Tasche verschwinden, ungeachtet dessen, dass ein mitten im Satz beendeter Abschnitt irgendwo auf einer zufälligen Seite niemals eine Fortsetzung bekommen würde.
So wie der Großteil aller anderen auch. Dieser Teil für eine seiner kleinen Geschichten war so wie so nicht interessant genug, niemand wollte lesen, wie andere sich selbst bemitleideten. Ein strahlender Held, der jedes Rätsel in zwei Minuten löste und währenddessen fünf Männer zu Boden brachte, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten, kam einfach besser an.
„Okay, wenn wir mit dem Bericht in den nächsten zwei Stunden fertig werden, reicht es vielleicht ausnahmsweise für ein wenig Freizeit heute Abend“, murmelte er, ohne dabei nach hinten zu sehen.
Mit einer kurzen Mausbewegung ließ er den Bildschirm vor sich wieder aufleuchten. Das weiße, kalte Licht blendete über den gesamten Arbeitsplatz. Wieder einer dieser Tage, an denen man die Sonne höchstens als nervige Reflexion registrierte, ohne jemals länger als ein paar Minuten Tageslicht zu genießen.
„Du weißt genauso gut wie ich, dass zwei Stunden niemals reichen werden“, antworte eine Stimme deutlich näher bei ihm, als er erwartet hatte.
Überrascht drehte er sich um. In der Tür sah er nur noch den Arm einer Person, die ein leises ‚Sorry‘ murmelte und sie wieder schloss. Nur wenige Zentimeter neben ihm stand Sel, die ihm offenbar schon länger unbemerkt über die Schulter gesehen hatte. Ein Spitzname – für was, wusste er nicht. Er kannte keinen echten Namen. Was auch immer ihre Geschichte dazu sein mochte — er wollte es vermutlich nicht wissen.
Mit einer Handbewegung zog sie sich einen Stuhl heran und ließ sich offensichtlich wenig motiviert darauf fallen. Ihr Blick war zwar auf den Bildschirm gerichtet, jedoch so leer, als hätte sie drei Tage lang nicht geschlafen. Angesichts der letzten Wochen nicht verwunderlich: Zehn Stunden – Montag bis Sonntag. Wie auch immer sie es nach eigener Aussage regelmäßig dennoch zum Sport schaffte.
Er seufzte und betrachte sie von der Seite. Ihre langen, bis beinahe zur Hüfte reichenden schwarzen Haare fielen wild durcheinander, verdeckten ihr Profil beinahe vollständig. Nur das freizügige Oberteil fiel auf, weil er sie normalerweise nur in einfachen T-Shirts kannte.
„Es hat heute keinen Sinn mehr, oder?“
Sie deutete ein Kopfschütteln an.
„Tut mir leid …“
Er wusste, dass er hätte etwas erwidern sollen, nickte stattdessen nur wortlos und schaltete den Computer aus. Wenn auch wahrscheinlich nicht für lange. In kaum einer Stunde später würde er daheim sein, vor seinem eigenen Bildschirm sitzen. Irgendeine Serie auf Netflix schauen, bis er müde genug war, um schlafen zu gehen. Immerhin reichte es heute wahrscheinlich für zwei oder drei weitere Folgen.
Ritualartig, mit leerem Kopf wie die letzten Tage, ließ er seine fast ausgetrunkene Wasserflasche im Rucksack verschwinden, stand schwerfällig auf und warf ihn sich über den Rücken. Mehr aus Gewohnheit wartete er auf Sel, die ihn mit entschuldigendem Blick ansah, dann zurückschreckte und seinem Blick auswich.
„Wirklich. Ich will nicht neben dir sitzen und bei der Arbeit zusehen …“
Sie flüsterte beinahe, als befürchtete sie, dass sie noch jemand anders hören könnte. Wahrscheinlich rein zufällig stieß ihre Hand gegen seine. Bevor sie reagieren konnte, ergriff er sie reflexartig, ohne zu wissen, warum eigentlich. Sie öffnete überrascht ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, klappte ihn jedoch stumm wieder zu und drückte seine Hand kurz. Ließ dann doch los, als wäre nichts passiert.
„Wie viel hast du eben mitgelesen?“
„Hm?“
Sie sah ihn für einen Moment verwirrt an, wich seinem Blick jedoch erneut aus und befreite sich aus seinem Griff.
„Ich wollte nicht …“, flüsterte sie so leise, dass er das Ende ihres Satzes nicht mehr hören konnte.
„Du weißt, dass es nur Geschichten sind, oder?“
„Ich weiß, dass das eine Lüge ist …“
Wolff biss sich auf die Lippe. In seinen Geschichten steckte mehr Wahrheit, als er sich selbst eingestehen wollte. Allerdings strich er auch alle Teile, die zu nah an der Wirklichkeit waren im Nachhinein gewissenhaft hinaus, bevor es irgendjemand außer er selbst zu Gesicht bekam. Und jetzt Sel.
„Tut mir leid, ich weiß dass du darüber …“
Sie stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie nichts mehr dazu sagen brauchte. Wolff nickte nur, machte sich wortlos auf den Weg in Richtung Ausgang. Sie folgte ihm genauso wortlos. Wie ein zurechtgewiesener Hund, der seinem Herrchen folgt. Er fühlte sich schuldig, ohne eine Idee, wie er die Situation bereinigen könnte. Er schob es auf seine Müdigkeit.
Sie hatten noch immer kein weiteres Wort gewechselt, als die um diese Uhrzeit noch einigermaßen gut gefüllte U-Bahn einfuhr. Mit für alle sichtbarer Erschöpfung ließ er sich auf einem der letzten beiden freien Sitzplätze fallen. Hinten in der Ecke. Sel tat dasselbe neben ihm, suchte seinen Blick und fand ihn.
Verdammt, wenn er doch nur wüsste, was er sagen könnte, damit sie sich besser fühlte. Ohne wieder lügen zu müssen. Gegenüber saß ein älteres Ehepaar. Siebzig, vielleicht fünfundsiebzig. Sie hielten sich dennoch an den Händen wie siebzehnjährige. Beider Blick ruhte stumm auf ihm und Sel, dachten wahrscheinlich, sie seien eben jenes junge Paar.
Fast hätte er ihnen gesagt, sie seien nur Kollegen, nichts weiter, bis ihm auffiel, dass auch dies eine Lüge gewesen wäre. Sels Blick ruhte noch immer auf ihm, noch immer wusste er nicht, was er ihr sagen konnte. Das Ehepaar beobachtete sie weiter, als würden sie wie in einem Film gespannt abwarten, was als Nächstes passiert. Wolff versuchte Sel mit einer Handbewegung darauf hinzuweisen, was ein schmales Lächeln auf ihre Lippen zauberte. Was auch immer er getan hatte, es schien richtig gewesen zu sein.
Noch eine Station. Dafür musste er sich jedoch an Sel vorbeidrücken, die ihn sanft, aber nachdrücklich aufhielt.
„Bis morgen“, verabschiedete er sich von ihr mit müder Stimme.
„Ich wollte dich noch etwas fragen“, flüsterte sie leise genug, sodass nur er es hören konnte.
„Du hast zwanzig Sekunden.“
Sie lächelte unsicher und ließ die ersten zehn Sekunden ohne ein Wort verstreichen.
„Kann ich den Anfang lesen?“
„Was?“
Seine Antwort klang ein wenig zu harsch. Sie zuckte zurück, er bereute es sofort. Auf dem Gesicht des älteren Ehepaars meinte er bei beiden, ein schmales Grinsen auszumachen. Ach verdammt, er war hier doch nicht das Abendprogramm in Form irgendeiner Soap im Ersten.
„Nächste Station …“, hallte die Ansage über die Lautsprecher wie immer so verständlich, als hätte jemand bei der Aufnahme Mikrofon und Toaster verwechselt.
Vielleicht hätte er sich eine Sekunde länger Zeit genommen, über seine nächste Handlung nachzudenken, wenn er wacher gewesen wäre, so jedoch griff er einfach nach Sels Hand und zog sie mit hinaus. Sie sah ihn überrascht an, ihr Lächeln wurde jedoch breiter, als er sie festhielt, bis die U-Bahn abgefahren war und in Richtung Ausgang nickte.
Ihre Augen blitzten im Laternenlicht, sei ließ sich widerstandslos den Weg entlangführen. Hand in Hand, wie … Fiel das eigentlich nur ihm auf? Natürlich, das vermaledeite Projekt hatte viel Zeit in Anspruch genommen, sie hatten die Zeit miteinander verbracht und natürlich auch über viele Dinge geredet. Aber wann war daraus mehr geworden als eine simple Freundschaft?
Natürlich hatte sie bereits ein paar Zeilen seiner in geschwungene Worte verpackten Erinnerungen gelesen — ungefragt — aber irgendwie war das vollkommen in Ordnung. Als wäre es in Ordnung, wenn Sel seine Gedanken mitlesen könnte. Als wäre es in Ordnung, wenn Sel Dinge wusste, die er sich noch nicht einmal selbst eingestehen wollte.
Es fühlte sich viel zu selbstverständlich an, wie er die Wohnungstür aufsperrte und sie hineinschob. Es war irgendwie normal, als sie ihre Jacke über seine hing, ihre Tasche genau da abstellte, wo sonst seine stand und ihre Schuhe perfekt an den letzten freien, dafür vorgesehen Platz stellte. Da war sie wieder, die Freundin, die einfach ihm die Pause verbrachte, weil am Wochenende eh niemand anderes da war. Sich mit ihm über alles Mögliche unterhielt, über ihre eigenen Witze lachte und immer dann zuhörte, wenn es notwendig war.
Und doch war alles anders. In stummem Einverständnis holte er zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und dirigierte sie zu der kleinen Couch, auf der er oft die Abende verbrachte, wenn er nicht gerade an einer Story saß, die wahrscheinlich niemals fertig werden würde. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es seltsam war, zwei Flaschen Bier griffbereit im Kühlschrank zu haben, obwohl er doch hier alleine wohnte.
Auf dem Weg zog er seinen Laptop aus der Tasche, schließlich hatte Sel nach dem Anfang der Geschichte gefragt. Wieder einen Moment zu spät fiel ihm auf, dass auf seiner kleinen Couch eigentlich nur Platz für eine Person plus ein kleines Kind war. Und er sich überhaupt nicht daran erinnern konnte, dass dort jemals jemand anderes, als er selbst, Platz genommen hätte.
Sel schien das nur am Rande zu interessieren und wartete gespannt, bis er sich neben sie zwängte, in einer Hand den Laptop, in der anderen Hand die beiden Flaschen. Sie nickte kurz zum Dank und nahm eine davon. Warum nur fühlte es sich so an, als wäre es immer so? Warum fühlte es sich so an, als wäre es vollkommen normal, dass sie abends mit zu ihm kam? Warum fühlte es sich so vertraut an, als sie ihren Kopf auf seiner Schulter ablegte und auf den Bildschirm seiner Laptops starrte, während er sich durch das Labyrinth an Ordnern klickte, dass er für hunderte angefangene Geschichten angelegt hatte? Manche davon beinhalteten kaum fünf Sätze.
Als er endlich den richtigen Ordner gefunden hatte, zögerte er kurz. Einen Moment zu lange.
„Selinayra“, sagte sie plötzlich, „Selinayra Malina de la Cruz.“
Sie ließ eine Pause, in der er beinahe vergaß, zu atmen.
„Es ist nicht einfach, wenn man einen Namen hat, mit dem Google alles in Verbindung bringt. Meine Erzeuger fanden den Namen wahrscheinlich hübsch. Heute braucht nur irgendein Typ auf der Welt diesen Namen in die Adresszeile eintippen, und bekommt einen kompletten Lebenslauf, Fotos und Facebookposts aus meiner Schulzeit, weil meinem jugendlichen Ich niemand gezeigt hat, was man öffentlich posten sollte und was nicht.
Die Lektion habe ich erst sehr viel später gelernt, als ich mich auf einen Nebenjob beworben habe und ich beim Vorstellungsgespräch mit den Ergebnissen einer Suche nach meinem Namen konfrontiert wurde. Das erste Ergebnis ist eine Todesanzeige mit Zeitungsartikel: Meine Eltern, vor acht Jahren bei einem Autounfall. Oben die Anzeige eines Bestattungsunternehmens in der Nähe. In der Mitte ein Bild von einem völlig zerstörten Auto. Unten wünscht man mir dann mit meiner Familie alles Gute. Natürlich hat der Zeitungsschreiber die Nachnamen weggelassen. Dass mein Vorname reicht, um meinen weiteren Werdegang exakt nachvollziehen zu können, ist egal.
Man findet einige Links zu meinem Abschlussball. Auf den Bildern sieht man mich mit meinem damaligen Freund. Ein weiterer Klick bringt dich darauf, was aus ihm geworden ist: Ein Kleinkrimineller. Nichts Großes, aber zwei Klicks reichen, um mich im Kreis von Leuten zu beobachten, die ich heute wahrscheinlich nicht einmal ansehen würde.
Wer meinen Namen kennt, erfährt auf eigenen Wunsch mehr, als ich irgendjemandem erzählen würde. Mit ihm bekommt jedermann auf Wunsch ein ganzes Buch mit meinem Gesicht auf dem Cover und einem Kapitel zu allem, was das Herz begehrt. Eine ausführliche Biographie, die andere für mich geschrieben haben.
Im ersten Semester hat mir ein Professor mal sein Beileid ausgedrückt. Ich bin keine Randerscheinung, die Rücksicht braucht. Aber das durfte ich bisher meistens nicht selbst entscheiden. Namen habe eine Bedeutung, die oft weiter reicht, als wir uns das vorstellen können. Also gebe ich meinen nicht mehr leichtfertig weiter — es könnte jemand eine Bedeutung finden, die nicht mehr viel mit mir zu tun hat.“
Wolff hätte ihr gern in die Augen gesehen, gerne gewusst, ob sie sie geschlossen hielt, um die Worte zu formulieren, oder ob sie leicht von den Lippen gingen. Ihre Stimme klang so warm wie immer, andererseits war er es auch nicht gewohnt, dass sie ihm dabei so nah war. Vielleicht brauchte sie für heute Abend aber auch einfach nur eine Schulter, die nicht nachgab, nichts weiter.
„Was ist, zeigst du mir nun deine Geschichte, oder nicht?“
Es klang seltsam, als würde sie irgendetwas mit aller Kraft zurückhalten. Andererseits war er sich noch immer nicht sicher, was sie hier eigentlich tat. Auf seiner Couch in seiner Wohnung. Bis ihm auffiel, dass er nach ihrer Geschichte über Namen nun in der Bringschuld war.
Er rang sich dazu durch, ihren Wunsch endlich zu erfüllen. Vielleicht war es nicht der wirkliche Grund, warum sie hier war. Aber immerhin war es eine seltene Gelegenheit, eine Geschichte nicht sofort wieder zu vergessen.
*****
„Noch ein Platz frei?“
Nicholas nickte stumm, war ehrlich froh darüber, dank vollem Mund nicht antworten zu müssen. Die Kantine war um diese Uhrzeit immer voll — der Grund, warum er normalerweise versuchte, etwas früher da zu sein. Meistens war er fertig, bevor der große Ansturm kam, und vermied so unangenehme Treffen, die ihn nur von der Arbeit abhielten.
Aylin war der Typ Traumfrau, die für gewöhnlich mehr Freunde um sich scharte, als er bei kurzen Blicken in ihre Richtung zählen konnte. Sie war diejenige, die keinen Gedanken an Mode verschwendete und trotzdem auf den Fotos immer ganz vorne stehen durfte. Vor zwei Jahren hatte mal ein Journalist einer Lokalzeitung mit der gesamten Belegschaft Interviews geführt. Aylins war das Einzige, das in voller Länge veröffentlicht worden war. Selbstverständlich mit Bild. Kurzum: Niemand, der auch nur annähernd in derselben Liga wie ein Laborratte — zum Beispiel seiner Wenigkeit — spielte.
„Hast du nicht gestern den Vortrag gehalten?“
Ihre Stimme war klar und warm. Wie ein Sonnenaufgang. Dennoch: Wo war ihre Begleitung und was hatte das mit ihm zu tun?
„Hmhm“, antwortete er nur, innerlich schwitzend.
Er hatte sie gesehen. Natürlich. Und sie die Hälfte der Zeit über direkt angestarrt, während er Dinge vortrug, die für ihn vollkommen logisch erschienen und nur die Zeit bis zu den interessanten Aspekten ein wenig streckte. Sie hatte ihm mehrmals zugelächelt. Hoffentlich fragte sie ihn nicht, warum er immer nur in ihre Richtung gesehen hatte.
„Du hast gesagt, die Tabellen am Ende würden nur die besten Ergebnisse zeigen. Hast du noch die Zahlen über den kompletten Verlauf?“
Der Bissen in seinem Mund verschwand beinahe unzerkaut im Rachen. Was wollte sie von ihm? In zwei Wochen kam der Bericht, dann konnte sie alles haarklein nachlesen. Sie hatte doch bestimmt bessere Möglichkeiten, ihre Zeit zu verbringen.
„Klar, komm einfach nachmittags bei mir im Büro vorbei“, hörte er sich stattdessen sagen.
Ihr freundliches Lächeln zur Antwort war entwaffnend.
**TODO**
Es klopfte. Zwei Minuten, bevor er eigentlich für heute Schluss machen wollte. Er bereitete schon eine entsprechende, knapp gehaltene Antwort vor.
„Hey, ich hoffe, ich bin nicht zu spät?“
Der leise Fluch auf seinen Lippen wurde einfach weggewischt. Aylin sah ihn einfach nur an und machte allein damit diesen Tag zum schönsten seines bisherigen Lebens. Ihre großen, grünen Augen, die in der Mitte leicht türkisfarben wurden, hatten die Macht, ihm einfach alles abzuverlangen.
Lange, blonde Haare rahmten ein helles Gesicht mit hoher Stirn ein, zwei kleine Falten über dünnen, nach oben gezogenen Augenbrauen, die im Neonlicht der Deckenlampe kaum zu sehen waren. Eine schmale, spitze Nase mit einem kleinen Muttermal auf der rechten Seite erhob sich über dezent hellrot geschminkten Lippen.
Sie trug dasselbe, weiße Top von heute Mittag, mit einem angemessenen, aber dennoch großzügigem Ausschnitt für ebenso großzügiges Genmaterial. Kurze Ärmel – obwohl es bereits Winter war – und dünner, leicht aufbauschender Stoff. Warum auch immer sie sich für einen schwarzen BH darunter entschieden hatte, der an einer Ecke einige Millimeter hervorlugte und dessen Träger auf beiden Schultern eine dünne, rote Spur hinterlassen hatten.
*****
„Wie heißt sie?“
Sels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Auch, wenn es wahrscheinlich besser so war.
„Aylin, stand doch …“
Sels unterdrücktes Lachen ließ ihn abbrechen.
„Wie heißt sie wirklich?“, versuchte sie es noch einmal.
Wolff antwortete nicht sofort, überlegte, ob er sich einen weiteren Namen ausdenken sollte. Vielleicht wäre es eine gute Möglichkeit gewesen, wenn er dafür nicht schon seit Urzeiten entsprechende Generatoren verwenden würde, bei denen man praktischerweise auch Herkunft und Sprachfamilie einstellen konnte.
„Wenn du es nicht sagen willst, dann …“
Verdammt, er seine Pause war zu lang gewesen. Für einen kurzen Moment hatte er vergessen, dass Sel aus irgendeinem Grund wusste, dass es ein Vorbild gab.
„Nia.“
„Wie lange …?“
„Nicht ganz zwei Jahre. In der Geschichte sind es nur sechs Monate, alles andere wirkt unglaubwürdig. Niemand nimmt mir ab, dass sich jemand nach zwei Jahren und einem Verlobungsring um den Finger in einer Nacht dafür entscheidet, dem Partner das Leben zur Hölle zu machen.“
„Ihr wart …?“
„Ja.“
Er zwang sich dazu, nicht weiter zu reden. Das hatte er davon. Es gab einen Grund, warum er niemals darüber redete. Sel konnte nichts dafür. Im Gegenteil, sie hatte ihren Kopf nach wie vor auf seiner Schulter abgelegt, als würde er dort hingehören. Und dennoch hatte sie nun die Macht, ihn genauso unter Druck zu setzen, wie Nia. Er sah schon ein Schreiben von Nias Anwalt eintrudeln, das ihm mit Schadensersatz drohte, weil er in der Geschichte private Details über sie an Unbeteiligte weitergegeben hatte. Noch so ein Fakt aus der Realität, den er niemals in eine Geschichte einbauen konnte, weil es sie unglaubwürdig machen würde.
„Komme ich auch darin vor?“
Nein, natürlich nicht. Bisher waren nur all die schlechten Erfahrungen eingeflossen. Irgendwie bekam er keine fröhliche Geschichte mehr hin, seitdem Nia ihn einfach sitzen gelassen hatte.
„Noch nicht.“
„Vielleicht solltest du das tun. Ich würde gern ein Happy End lesen.“
Er spürte, wie Sel noch ein Stück näher an ihn heranrückte und einen Arm um ihn legte. Seine Lippen waren ausgetrocknet, doch sein Getränk war leer und sogar ihm fiel auf, wie seltsam es wirken musste, wenn er sich nun darüber leckte, um sie wieder zu befeuchten. Er konnte Sel nicht einfach in den Plot aufnehmen. Außerdem: Ein Ende, in dem er in den Armen einer Freundin landete, mit der er einen ganzen Abend einfach nur geredet hatte, war ziemlich schwach.
„Küss mich.“
Ihre Worte trafen ihn wie ein Blitz. Wie bitte? Natürlich hatte er darüber schon nachgedacht. Das blieb nicht aus, wenn man noch immer nicht über eine enttäuschte Liebe hinwegkam, seine Zeit dementsprechend einsam verbrachte und tagsüber mit einer durchaus ansehnlichen Kollegin zusammenarbeitete. Genauso hatte er sich aber geschworen, dass er sich nicht noch einmal so ausnutzen lassen würde. Nie wieder.