Ein Stunden trieb Tanita sich in der Stadt herum, schlenderte durchs Einkaufszentrum, durchstöberte Klamotten- und Buchläden ohne sich für irgendetwas zu interessieren. Sie wollte einfach nur die Zeit totschlagen.

Nach einer Ewigkeit zeigte die Uhr endlich die herbeigesehnte Stunde an und sie machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Als sie mit den vielen anderen Leuten in das überheizte Fahrzeug drängte, fragte sie sich zum wiederholten Mal, was Mick wohl in diesem Moment tun mochte. War er zu Hause oder suchte er womöglich nach ihr? So oder so — er war auf jeden Fall verdammt wütend.

Und sie konnte sich nicht gegen ihr schlechtes Gewissen wehren. Sie war abgehauen, hatte sich klammheimlich davon geschlichen. Aber was hätte sie anderes tun können? Wie hätte sie Mick erklären sollen, was sie vorhatte — was sie tun musste? Er hätte nie im Leben verstanden, warum es ihr wichtig war und sie bestimmt nicht gehen lassen. Und schon gar nicht hingebracht.

Tanita probierte verschiedene Klingelknöpfe durch, als sie unten vor der Haustür stand. Beim vierten Mal ertönte der Summer, ohne dass jemand nachfragte, wer denn da wäre. Sie drückte die Tür auf und stieg die Treppe hoch in den zweiten Stock. Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Die Uni war noch nicht lange aus, es würde eine Weile dauern, bis er nach Hause kam. Hoffentlich nicht zu lange. Sie machte es sich auf der kalten Treppe so bequem wie möglich und wartete.

„Tana!“

Verwirrt blinzelte sie. War sie etwa eingeschlafen? Vor ihr schwebte im schummrigen Treppenhauslicht Magnus‘ Gesicht. Seine blaugrauen Augen sahen sie halb entgeistert, halb besorgt an.

„Hi“, lächelte sie ihn schief an. „Darf ich kurz reinkommen?“

Ohne zu zögern reichte er ihr die Hand und half ihr auf die Füße. „Mensch, ich hab mir Sorgen gemacht um dich! Du warst vorgestern so komisch und dann gestern und heute nicht in der Uni… Hätt ich deine Nummer gehabt oder ’ne Adresse…“

„Es geht mir gut“, unterbrach sie ihn ruhig. „Aber du hattest recht am Mittwoch. Ich schulde dir eine Erklärung.“

„Dafür, was die letzten Tage mit dir los war?“„Für alles.“

Magnus schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und ließ sie eintreten. „Okay. Ich bin gespannt. Willst du ’nen Tee oder so?“

„Gern.“Schließlich saßen sie einander am kleinen Küchentisch gegenüber, beide mit einem Becher dampfendem Rotbuschtee in den Händen. Magnus beugte sich vor und schaute ihr aufmerksam in die Augen.

„Ich bin so weit“, sagte er. „Erzähl.“

Tanita schüttelte den Kopf und griff in die Gesäßtasche ihrer Jeans, zog fünf vollgeschriebene, sorgsam gefaltete Seiten heraus und reichte sie ihm.

„Lies“, forderte sie ihn auf.

Während er verwundert das Papier auseinander faltete und ihrer Bitte nachkam, lehnte sie sich zurück, wärmte ihre kalte Wange am Teebecher und schloss die Augen. Sie wusste noch genau, was sie da gestern geschrieben hatte. Fast jedes einzelne Wort.

„Hey, ich bin Mick. Mick wie Jagger.“

So hat er sich mir vorgestellt, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Es ist schon ewig lange her, aber ich weiß es trotzdem noch. Nicht nur, weil er den Spruch immer noch bringt, wenn er neue Leute kennenlernt, sondern auch, weil er schon damals ziemlichen Eindruck auf mich gemacht hat.

Ich war gerade mal fünf und er so ungefähr zwanzig. Er machte sozusagen seinen Anstandsbesuch bei uns, mein hatte nämlich Geburtstag und er war quasi sein Schwager, weil er damals gerade mit der jüngeren Schwester meines Vaters zusammen war. Sie war 26 und passte überhaupt nicht zu ihm. Er war viel zu cool für sie. Die Beziehung der beiden hielt auch nur ein paar Monate, aber mit meinen Eltern hat er sich verdammt eng angefreundet.

Und mit mir.

Ich hab wahrscheinlich ein ziemlich blödes Gesicht gemacht, als er sich mir so vorgestellt hat. Er guckte mich nämlich bedauernd an und meinte: „Ach, Shit. Das sagt dir natürlich nichts, oder? Mick Jagger.“

Ich schüttelte nur den Kopf, zum Reden war ich zu schüchtern, aber das machte ihm nichts aus.

„Werd dir was über ihn erzählen“, versprach er mir. „Nachher, wenn man sich von diesem gepflegten Besäufnis höflich entfernen kann.“„Red vor dem Kind nicht so einen Schwachsinn“, fuhr ihn meine Tante an. Als ob sie sich für mich interessiert hätte. Nachdem sie sich erst mit Mick und dann mit meinem Vater verkracht hatte, hat sie sich nie mehr um mich gekümmert. Nicht mal dann, als ich sie vielleicht gebraucht hätte.

Mick blieb gelassen. „Komm mal runter. Das ist ein kleines Mädchen, keine Idiotin. Die weiß sowieso, worum ’s euch hier geht.“

Da war ich mir zwar nicht so sicher, aber ich wusste immerhin, dass mein Vater eine andere Vorstellung hatte vom Geburtstag feiern als ich. Und ich fühlte mich verdammt stolz, dass da plötzlich jemand — ein Erwachsener! — war, der mich für voll nahm.

„Sorry“, sagte er wieder zu mir. „Hab dich gar nicht nach deinem Namen gefragt.“

Ganz leise und zaghaft flüsterte ich eine Antwort. Er lächelte mich an und zwinkerte. „Schöner Name.“

Dann kam meine Mutter und sagte mir, ich dürfte noch in meinem Zimmer spielen, bevor ich ins Bett müsste. Mit anderen Worten, die Erwachsenen wollten ihre Ruhe haben und sich gepflegt besaufen, wie Mick es auf den Punkt gebracht hatte.

Als ich schlafen gehen sollte — meine Mutter war gerade dabei, mich zuzudecken — schlenderte er an meiner offenen Zimmertür vorbei.

„Na?“, fragte er. „Noch Lust auf ’ne kurze Geschichte? Vorausgesetzt, du hast nichts dagegen, Luisa“, fügte er an meine Mutter gewandt hinzu.

Die zuckte nur mit den Schultern. „Was meinst du, Tanita? Du bist doch eh noch nicht müde, oder?“

„Nee“, sagte ich und fragte ihn schüchtern: „Erzählst du mir jetzt was von Mick Jagger?“

„Hab ich dir doch versprochen.“

Das war die bis dahin ungewöhnlichste Gute-Nacht-Geschichte, die ich zu hören bekam. Mick saß an meinem Bett und erzählte mir von seinem Namensvetter und den Stones. Die erste von vielen interessanten Unterrichtsstunden in Musikgeschichte. Er hatte — und hat immer noch — ein unglaubliches Erzähltalent. Wahrscheinlich könnte er sogar noch das Telefonbuch spannend rüberbringen. Auf jeden Fall verlor ich im Verlauf seiner Geschichte meine Scheu vor ihm.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn danach wiedersah. Meine Tante hatte Schluss mit ihm gemacht und ihn aus der Wohnung geschmissen, ohne sich darum zu scheren, dass er jetzt kein Dach mehr überm Kopf hatte. Er tingelte eine Zeitlang von zu Kumpel, bis meine Eltern, die ihn wirklich gern hatten, ihm anboten, doch zu uns zu ziehen. Zumindest vorübergehend könnte er sich im Arbeitszimmer meiner Mutter einquartieren. Nach einigem Hin und Her — er war schon immer zu stolz um Hilfe anzunehmen — willigte er schließlich ein.

Von wegen vorübergehend. Mick gehörte bald genauso zur dazu wie ich und fühlte sich viel zu wohl um sofort auf die Suche nach einer neuen eigenen Wohnung zu gehen. Für mich war er wie ein großer . Ein um einiges älterer zwar, aber er behandelte mich niemals wie ein dummes Kind. Ich konnte ihn alles fragen und er gab mir eine Antwort. Nicht, dass meine Eltern mich nicht ernst genommen hätten, aber mit Mick konnte ich anders reden. Von ihm kamen keine Sätze wie: „Das erfährst du noch früh genug.“ oder „Dafür bist du noch zu klein.“

Abends hatte ich keine Lust mehr, fern zu sehen. Wenn er da war, ging ich lieber zu Mick, hörte mit ihm Musik und ließ mir Geschichten über längst vergessene Bands erzählen. Die Pretty Things oder die Kinks zum Beispiel. Meiner Meinung nach um Längen besser als zum Beispiel die hochgejubelten Rolling Stones, aber wer kennt sie heute noch?

Meine Mutter ermahnte mich manchmal, ich sollte nicht so an ihm kletten, er würde schließlich auch mal seine Ruhe haben wollen.

„So ein Quatsch“, versicherte Mick mir im Gegensatz dazu. „Wenn du mir auf die Nerven gehst, wirst du ’s schon merken. Du kannst jederzeit zu mir kommen, so lange ich dir nicht zu langweilig werde.“

Langeweile? Davon konnte keine Rede sein. Damals spielte er noch in einer Band und ließ mich oft zuhören, wenn er Gitarre und Mundharmonika übte. Er wollte jedes Mal meine Meinung dazu wissen, sie schien ihm wirklich wichtig zu sein.

Etwas länger als ein Jahr dauerte dieser Zustand an. Ich hatte mich so daran gewöhnt, fast jeden Abend bei ihm im Zimmer zu hocken, während er auf dem Bett lag und Musik laufen hatte oder sich mit mir unterhielt, dass ich aus allen Wolken fiel, als er eines Tages verkündete, er habe nun eine eigene Wohnung gefunden und werde ausziehen. Aus irgendeinem Grund dachte ich, es wäre meine Schuld. Ich wäre ihm doch zu sehr auf die Nerven gegangen und hätte ihn jetzt vertrieben oder so. Aus dem Heulen kam ich kaum noch heraus und verschanzte mich in meinem Zimmer. Mick schaffte es im Gegensatz zu meinen Eltern irgendwie, von mir hereingelassen zu werden.

„Hör mal“, sagte er zu mir, während er mich in den Arm nahm, „ich zieh doch nicht deinetwegen aus. Du wirst mir fehlen, das kannst du mir glauben.“

„Warum gehst du denn dann?“„Weil ich erwachsen bin. Und unabhängig sein will. Du und deine Eltern seid super und ich hab euch wirklich gern, aber trotzdem — es sind nicht meine eigenen vier Wände, in denen ich lebe. Das fühlt sich auf die Dauer einfach scheiße an.“

Ich schwieg. Diese Begründung verstand ich ausnahmsweise tatsächlich nicht.

„Ich werd euch besuchen“, versprach er mir. „Und ich bestehe darauf, dass du mich auch besuchst. Mindestens einmal die Woche! Sonst… äh… ach, keine Ahnung. Werd ich furchtbar sauer und suche dich in deinen Träumen heim.“ Er machte eine Pause und musterte mit zusammengekniffenen Augen mein Gesicht. „Hey, war das gerade etwa ein Grinsen? Doch, bestimmt! Gib ’s zu, du kannst wieder lachen.“

Also fand ich mich wohl oder übel damit ab, meinen „großen Bruder“ nicht mehr in greifbarer Nähe zu haben.

Es vergingen gut zwei Jahre, in denen wir uns wie abgemacht immer mal wieder besuchten und etwas zusammen unternahmen. Mir ging es gut, ich hatte meine Eltern und Mick, die für mich da waren. Eines Tages war dann plötzlich alles ganz anders.

Mein Vater musste geschäftlich verreisen, zu irgendeiner Messe im Schwarzwald. Irgendwie kamen er und meine Mutter darauf, dass sie zusammen mit dem Zug fahren könnten, meine Mutter wollte das mit dem Besuch einer Freundin verbinden. Ich konnte allerdings nicht mit, weil ich keine Ferien hatte, deshalb erklärte Mick sich bereit, für die eine Woche Babysitter zu spielen.

Sie hatten mir hoch und heilig versprochen anzurufen, sobald sie angekommen wären. Vorher wollte ich auf keinen Fall ins Bett. Mick und ich aßen zu Abend, danach holte ich meine Spielesammlung, wir spielten Mühle, Mensch-ärgere-dich-nicht und schließlich brachte er mir Poker bei.

Um halb neun hielt ich es nicht mehr aus.

„Sie sind doch schon seit einer Stunde in Freiburg“, sagte ich klagend.

„Der Zug ist dort angekommen“, meinte er ruhig. „Beziehungsweise sollte angekommen sein. Bei der Bahn ist das ja immer Glückssache. Und selbst wenn sie schon da sind, müssen sie ja erst mal mit dem Taxi ins Hotel, dann wollen sie vielleicht ihre Sachen auspacken und sich ein bisschen einrichten… Das dauert alles seine Zeit. Die rufen schon gleich an.“

Ich versuchte, ihm zu glauben, aber ich konnte nichts dagegen machen, dass es in meinem Bauch rumorte. Zumal ich mit jeder verstreichenden Minute beobachten konnte, wie sein Gesichtsausdruck trotz seiner gelassenen Worte immer besorgter wurde.

Schließlich war es neun Uhr. Es gab zwar damals schon Handys (von der Größe eines Ziegelsteins allerdings), aber weder mein Vater noch meine Mutter hielten so ein Ding für sinnvoll. So musste Mick, der seine eigene Unruhe jetzt nicht mehr vor mir zu verstecken versuchte, die Nummer des Hotels heraussuchen, in dem meine Eltern ein Zimmer gebucht hatten.

Nein, das Sommer war dort bis jetzt noch nicht eingetroffen.

Ich fing an zu weinen. Mick verwuschelte mir tröstend die Haare. „Keine Angst. Ich sag dir, sie haben beim Umsteigen den Anschlusszug verpasst und mussten eine Stunde auf den nächsten warten. Die sind noch unterwegs.“

„Ich will aber jetzt mit ihnen sprechen“, schluchzte ich. Typisch kindlicher Egoismus, ich wollte die Stimme meiner Mutter hören und um nichts in der Welt auf später vertröstet werden.

„Weißt du was?“, sagte Mick entschlossen. „Ich ruf jetzt bei der Bahn an und frag nach, ob einer der Züge Verspätung hatte. Dann wissen wir zumindest, wann wir ungefähr damit rechnen können, dass deine werten Eltern sich melden — und wann du endlich ins Bett kannst.“

Er wollte mich aufmuntern, aber ich war zu nervös dafür. Eine richtige verdammte Angst hatte sich in mir breit gemacht.

Ich weiß nicht mehr genau, was er den Beamten am Telefon gefragt hat. Sein Gesicht wurde nur plötzlich sehr still. Ohne sich zu verabschieden, legte er den Hörer auf.

Er saß da, hielt sich die Hand vor den Mund und starrte einfach ins Leere. Ich wusste, dass meine Ahnung sich bestätigt hatte, noch bevor er wieder halbwegs seine Fassung zurückgewann und mit rauer Stimme „Tanita…“ sagte.

„Nein!“, schrie ich wie von Sinnen, rannte aus dem Raum und warf mich in meinem Zimmer aufs Bett. Die Erinnerung an den Rest des Abends ist verschwommen, ich habe wohl die meiste Zeit geweint. Mick hat mir erst später genau erzählt, was passiert ist, in diesen Stunden saß er nur bei mir und versuchte, mich ohne viele Worte zu trösten.

Der Zug, mit dem meine Eltern von zu Hause abgefahren waren, war entgleist, kurz bevor sie hätten umsteigen sollen. Es war ein furchtbares Unglück, keine Überlebenden. Wahrscheinlich sind menschliches und technisches Versagen zusammengekommen, man hat nie die Hauptursache herausgefunden.

Meine bis dahin relativ heile Kinderwelt brach von einem Moment auf den nächsten zusammen. Der einzige, der mich auffing und versuchte, mir trotz seiner eigenen Verzweiflung Lebensfreude wiederzugeben, war Mick. Mein Vater hatte ihn einmal gebeten, sich um mich zu kümmern, falls ihm und meiner Mutter etwas passieren sollte — als hätte er eine Art Vorahnung gehabt. Und Mick stellte sich der Verantwortung, als es darauf ankam. Ich meine, er war noch recht jung und eigentlich ein ziemlicher Kindskopf, aber er ließ mich nicht im Stich, kümmerte sich darum, das Sorgerecht für mich zu erhalten — meine Großeltern mütterlicherseits (die einzigen, die ich noch hatte) kannte ich kaum, die Schwester meines Vaters interessierte sich wie gesagt nicht für mich — und gab sich alle Mühe, damit es mir an nichts fehlte.

Von dieser Zeit an gab es eigentlich keinen Tag, den wir nicht zusammen verbracht hätten. Mick ging natürlich weiterhin zur Arbeit, aber er ließ es sich nicht nehmen, mich morgens zur Schule zu bringen und nachmittags abzuholen. Nach dem Feierabend, am Wochenende und wenn er Urlaub hatte, nahm er sich unglaublich viel Zeit für mich. Bestimmt die Hälfte dessen, was ich weiß, hab ich von ihm gelernt.

So vergingen die Jahre, in denen er für mich nach wie vor mein bester Kumpel war, auch wenn unsere Beziehung wesentlich inniger und vertrauter war als früher. Ich kann keinen genauen Zeitpunkt festmachen, an dem die Änderung eintrat. Es muss ein schleichender Prozess gewesen sein. Je älter ich wurde und mich dementsprechend dem „Frausein“ näherte, desto öfter beschäftigten mich Gedanken, na ja, eher Gefühle, die ich anfangs halb beschämt, halb kopfschüttelnd als Blödsinn beiseite schob. Schon als kleines Mädchen war ich ein bisschen verknallt in Mick gewesen, aber natürlich in einem völlig unschuldigen Sinne. Bereits als Kind sucht man ja manchmal nach Vorbildern, die sich von den Eltern grundlegend unterscheiden. Mick passte da natürlich perfekt, ich konnte ihn hemmungslos bewundern, weil er keinem Trend hinterher lief, sondern sein eigenes Ding durchzog. Außerdem sah er gut aus — so etwas entgeht einem Mädchen anscheinend nie, egal wie alt es ist.

Jetzt aber waren meine Gefühle für ihn nicht mehr so harmlos. Wenn wir zum Spaß herumrangelten, wünschte ich mir, er würde mich noch auf andere Weise berühren, ich wollte ihn „richtig“ küssen, nicht nur auf die Wange… Ich bekam Herzklopfen, wenn er mal im freien Oberkörper herumlief oder mich in die Arme nahm.

Es entging ihm natürlich nicht, dass ich mich zunehmend versteifte, wenn er in meine Nähe kam, schob das aber zunächst fälschlicherweise darauf, dass ich kein kleines Kind mehr war, sondern eine junge Frau und nicht mehr viel Wert darauf legte, geknuddelt zu werden. Also ließ er mich mehr in Ruhe, was das genaue Gegenteil von dem war, was ich eigentlich wollte. Und anscheinend auch das Gegenteil von dem, was er wollte. Irgendwann fiel es mir nämlich auf, dass er mich gelegentlich auf merkwürdige Weise musterte. Und wenn ich zum Beispiel nur in ein Handtuch gewickelt aus der Dusche kam und wir einander zufällig im Flur begegneten, wirkte er plötzlich eigenartig verlegen, obwohl wir sonst immer in jeder Hinsicht völlig ungezwungen miteinander umgegangen waren.

Wir schlichen eine halbe Ewigkeit auf diese Weise umeinander herum, statt offen auszusprechen, dass wir uns beide mehr wünschten als einfach „nur“ eine Freundschaft. Mick sagte mir später, er habe befürchtet, mir Angst zu machen, wenn er zugegeben hätte, dass er in mir nicht mehr sein Patenkind sah, sondern mich als seine Partnerin wollte. Er konnte nicht wissen, dass das Einzige, wovor ich Angst hatte, eine Abfuhr von ihm war.

Um es kurz zu machen: Eines Abends saßen wir vor dem Fernseher und gerieten wegen irgendeiner Kleinigkeit in Streit. Kein ernsthafter Streit, es war nur eine harmlose Kabbelei, aber wir fingen nach langer Zeit mal wieder im Spaß eine Rauferei an. Irgendwie kam es dazu, dass ich im Eifer des Gefechts auf ihm lag und…

„Was wolltest du gerade machen?“, fragte er mich heiser, mit einem fast schon glasigen Blick. Ich hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und ihn beinahe geküsst, als mir plötzlich siedend heiß bewusst wurde, was ich da im Begriff war zu tun. Erschrocken zuckte ich zurück, aber er hielt mich fest und stellte mir diese Frage auf eine Weise, die verriet, dass er die Antwort natürlich kannte.

„N-nichts“, stotterte ich trotzdem mit knallrotem Gesicht.

„Du warst noch nie gut im Lügen und jetzt gerade bist du besonders schlecht“, gab er trocken zurück.

„Das Letzte, was du willst, ist, dass ich das mache, was ich… äh…“

Er strich mir das Haar hinters Ohr. „Mach ’s einfach und überlass das Urteil mir.“

An diesem Abend interessierte sich keiner von uns mehr für das Fernsehprogramm.

Mick hatte sich schon immer viele Sorgen um mich gemacht, aber jetzt nahmen sie eine andere Qualität an. Er wollte nicht, dass ich allein auf die Straße ging und wenn wir irgendwo unter Leuten waren oder ich zur Schule musste, verlangte er, dass ich keine aufreizenden Klamotten anzog und meine Haare zum Zopf geflochten trug.

„Es sind zu viele Drecksäue unterwegs“, betont er auch heute immer wieder. „Die warten nur darauf, sich ein Mädchen wie dich vorzunehmen. Denen willst du ja wohl nicht noch ’nen zusätzlichen Anreiz bieten, oder?“

Er will nur das Beste für mich, auf mich aufpassen, für mich da sein. Ich weiß, dass er mich liebt, ich liebe ihn ja schließlich auch, aber…

Magnus legte die Seiten auf den Tisch. Schweigend schaute er Tanita an, die ihren mittlerweile leeren Becher in den Händen drehte und irgendwo hinsah, nur nicht in seine Augen.

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