Weil hier nicht selten Diskussionen über richtige oder falsche Kategorienwahl geführt werden, schicke ich vorsichtshalber voraus, dass die folgende Fortsetzungsgeschichte sich nicht einer bestimmten Kategorie zuordnen lässt. Ich habe daher zwar unterschiedliche Kategorien für die einzelnen Fortsetzungsteile gewählt, aber auch die sind nicht in allen Inhaltsbelangen treffend. Der geneigte Leser möge also nicht zu viel Erwartungen an diese Zuordnung knüpfen. Ich messe dieser starren Einteilung ohnehin nicht viel Bedeutung bei.
Wie nicht anders zu erwarten, sind Personen, Namen und Handlung frei erfunden.
Im Übrigen handelt es sich, wie meistens bei mir, um eine Erzählung, die sich langsam aufbaut — demnach nichts für Einhand-Gourmands.
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Positiv betrachtet war Thorsten Lehmann ein ausgesprochen netter Junge: bescheiden, wohlerzogen, von zurückhaltender Art, stets höflich. Einer, der nie über die Stränge schlug. Dazu passte auch sein Äußeres: schmächtig, mit noch kindlichen Gesichtszügen.
Man konnte es aber auch andersherum sehen: Er war zu unreif, zu wenig selbstbewusst, einfach viel zu brav, um nicht zu sagen naiv für sein Alter. Wer ihn negativ charakterisieren wollte, hätte ihn daher sogar als etwas zurückgeblieben bezeichnen können.
Sicherlich war sein Schicksal in früher Kindheit nicht unschuldig an diesem Verhaltensmuster. Seine Eltern waren bei einem Hausbrand ums Leben gekommen, als Thorsten drei Jahre alt war. Wie durch ein Wunder war er gerettet worden. Danach wuchs er bei seinen Großeltern auf, den Eltern seiner Mutter: extrem wohlbehütet, was einerseits schon darin begründet war, dass ältere Menschen oft generell zu Ängsten, besonderer Vorsicht und Fernhalten der Lebensrealität neigen, wenn es um das Wohl ihnen anvertrauter Kinder geht. In diesem Fall wurde das jedoch durch die Vorgeschichte noch verstärkt. Da Thorstens Großeltern schon Tochter und Schwiegersohn verloren hatten, waren sie um so ängstlicher darum bemüht, den überlebenden Enkel zu umsorgen und vor allem zu bewahren, das ihn ihrer Fürsorge entziehen konnte.
Thorsten war also, um es zu wiederholen, ein pflegeleichter, aber auch reichlich unbedarft wirkender Junge, der zudem noch als körperlicher Spätentwickler für sein Alter ungewöhnlich kindlich erschien. Er war noch sehr verspielt, hatte auch keine engen Freunde unter seinen Altersgenossen, war eher Träumer und Einzelgänger.
Es mangelte Thorsten keineswegs an Intelligenz, aber allein schon die verzögerte Entwicklung trug dazu bei, dass er sich auf dem Gymnasium, im Gegensatz zu den Anfangsjahren, zur Zeit nicht sehr leicht tat und sogar eine Klasse wiederholen musste. Im Vergleich zu seinen Klassenkameraden fehlte ihm jetzt doch eine gewisse geistige Reife, die seine Lehrer für diese Altersstufe voraussetzten.
Für ihre Umgebung sind Jungen wie Thorsten oft das ideale Opfer für Mobbing. Davon war er jedoch bisher glücklicherweise verschont geblieben. Obwohl er sich von vielen Aktionen seiner Schulkameraden fernhielt, gingen diese schonend mit ihm um, behandelten ihn eher wie eine Art Maskottchen. So gab es allerdings auch keinen Leidensdruck, der ihn veranlasst hätte, etwas an seiner selbstgenügsamem Zurückgezogenheit zu ändern.
Was noch verwunderlicher war angesichts seines Alters: Über bestimmte Dinge im Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht machte er sich keinerlei Gedanken. Jedenfalls noch nicht. Dass sich die Menschheit in männlich und weiblich einteilen ließ, war ihm wohl bewusst, er schenkte dieser Tatsache jedoch keine besondere Beachtung, geschweige denn, dass sich mit dieser Verschiedenheit für ihn ein Reiz verbunden hätte.
Gut, es gab Unterschiede im Erscheinungsbild, das sah er schon an seinen Großeltern. Männer, jedenfalls die erwachsenen, mussten sich rasieren, Frauen hatten diese mal mehr, mal weniger ausladende, vorgewölbte Brust, den Busen. Bei seiner Oma war letzterer sogar sehr ausgeprägt. Sie hatte auch wesentlich breitere Hüften als Opa. Dafür hatte dieser mehr Bauch. Aber darüber hinaus? Oma machte im Wesentlichen die Hausarbeit, Opa eher die handwerklichen Dinge, die im Haus zu erledigen waren.
Damit waren aus seiner Sicht auch die wesentliche Unterschiede zwischen Mann und Frau aufgezählt. Zwar hatte in der Schule auch für kurze Zeit Sexualkunde auf dem Biologie-Stundenplan gestanden, aber er hatte nicht so recht verstanden, um was es da ging. Besser gesagt, er hatte gar nicht richtig zugehört, denn es hatte ihn nicht sehr interessiert. Ihm war heute noch nicht so ganz klar, warum seine Klassenkameraden ein solches Aufhebens von diesem Unterrichtsthema gemacht hatten und damals ständig von „Aufklärung“ sprachen. Thorsten war eben noch sehr naiv.
Er hätte auch nicht sagen können, dass ihm Frauen aus irgendeinem Grund lieber gewesen wären als Männer, außer vielleicht, dass ihr Verhalten oft liebevoller und weniger grob war. Aber wenn er an Mädchen seines Alters dachte, stimmte auch das nicht unbedingt. Die waren oft zickig und unausstehlich.
Es gab immerhin Frauen, die Thorsten sehr mochte. Da war Frau Steiner, die vor etwa zwei Jahren mit ihrem Mann in den großen Bungalow neben ihnen gezogen war. Zu ihr fühlte er sich hingezogen, ohne dass er einen bestimmten Grund dafür hätte nennen können. Er mochte ihr Gesicht, fand es hübsch, obwohl Kategorien wie Schönheit oder Attraktivität noch keine Bedeutung für ihn hatten. Vor allem war sie einfach nett. Wenn er bei Steiners vor der Tür stand, zum Beispiel im Auftrag seiner Großeltern etwas ausrichten sollte, wurde er stets hineingebeten und mit Saft und Keksen bewirtet. Immer häufiger gesellte er sich auch zu Frau Steiner und war ihr behilflich, wenn sie in ihrem Vorgarten arbeitete oder anderweitig um ihr Haus herum beschäftigt war. Thorstens Oma hatte Frau Steiner schon mehrfach geraten, ihn wegzuschicken, wenn er ihr auf die Nerven ginge. „Thorsten stört mich nicht“, hatte diese stets geantwortet. „Der ist doch mein bester Freund.“
In der Tat beruhte die Sympathie auf Gegenseitigkeit. Claudia Steiner mochte den schmalen, etwas schüchternen und gut erzogenen Jungen. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, was keineswegs an mangelnder sexueller Aktivität des Ehepaars lag. Sie und ihr Mann hatten im Bett viel Spaß aneinander, und im Laufe der Zeit sogar gewisse intime Vorlieben entwickelt, die manch andere vielleicht merkwürdig gefunden hätten. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass Dirk Steiner zeugungsunfähig war. Anfangs hatten sie Überlegungen in Hinblick auf eine Adoption angestellt. Aber dann hatten sie sich doch nicht dazu durchringen können und ihre Kinderlosigkeit akzeptiert, die in puncto Freiheit und Unabhängigkeit ja auch ihre Vorteile hatte.
Kinder in einem Alter, in dem nach Claudias Vorstellung auch ihre eigenen mittlerweile hätten sein können, sprachen sie jedoch verständlicherweise sehr an. Sicherlich schwangen da auch unerfüllte Muttergefühle ein wenig mit. Und ein so artiger Junge wie Thorsten erfüllte alle Voraussetzungen, Claudias Sympathie zu gewinnen. Wobei sie durchaus verblüfft war, als sie sein tatsächliches Alter erfuhr. Aufgrund seines Äußeren hatte sie ihn für deutlich jünger gehalten. Aber gerade auch dieser Umstand nahm sie für ihn ein. Jemand, der körperlich mit seinen Altersgenossen so wenig mithalten konnte, brauchte erst recht Zuwendung.
Thorsten fand auch Herrn Steiner, einen gemütlichen schwarzhaarigen Mann mit leichtem Bauchansatz, nicht unsympathisch. Allerdings kam er mit diesem nicht so oft in Kontakt. Dirk Steiner war Software-Spezialist bei einer großen Firma — damals, wir schreiben das Jahr 1990, ein hoch geschätzter Experte. Als solcher konnte er zwar häufig zu Hause arbeiten, er war aber oft auch für mehrere Tage verreist, vielfach im Ausland tätig. Claudia arbeitete halbtags in einer Apotheke. Aus finanzieller Sicht hatten die Steiners das nicht nötig. Aber der kinderlose Haushalt füllte Claudia nicht aus. Um diesen in Schuss zu halten, reichten ihr die Nachmittage.
Das war der Stand der Dinge, bevor sie sich in einer Weise entwickelten, die niemand voraussehen konnte.
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Thorstens Opa war jetzt 59 Jahre alt. Das Rentenalter war also schon fast in Sicht — ein Umstand, der ihm und seiner Frau einige Sorge machte. Im Moment verdiente Karl-Heinz Hengenbruch genug, um die kleine Familie gut durchzubringen. Aber wenn sie in einigen Jahren nur auf seine Rente angewiesen sein würden, konnte die Situation schwieriger werden. Schließlich ließ sich noch nicht genau abschätzen, wann ihr Enkel auf eigenen Füßen stehen würde.
Aus diesem Grunde hatte Thorstens Oma schon seit einiger Zeit Überlegungen angestellt, wieder arbeiten zu gehen, um für ein besseres Finanzpolster zu sorgen. Natürlich nur vormittags, wenn ihr Enkel in der Schule war. In ihren alten Beruf als Sekretärin zurückzukehren, hatte sie keine Chance, das war ihr klar. Dazu war sie zu lange raus aus dem Geschäft und außerdem — sie war nur zwei Jahre jünger als ihr Mann — in einem Alter, in dem niemand sie mehr einstellen würde. Aber sie war sich auch nicht zu schade, putzen zu gehen. Da würden sich sicher Stellen finden lassen.
Als sie in der Zeitung auf eine Anzeige stieß, in der ein Reinigungsunternehmen Halbtagskräfte ohne Altersbegrenzung suchte, schien ihr das ideal. Sie wählte sofort die angegebene Telefonnummer und hatte tags darauf ein Vorstellungsgespräch.
Enttäuscht kehrte sie von dem Gespräch zurück. Die Bezahlung war gut und man hatte sie sofort nehmen wollen, aber leider arbeitete die Firma für öffentliche Institutionen, bei denen die Reinigung nur nachmittags durchgeführt werden konnte. Weder sie noch ihr Mann wären also zu Hause, wenn Thorsten von der Schule zurück käme. Und ihr Enkel als Schlüsselkind, das kam für sie nicht in Frage. Gut, er war genau genommen kein kleines Kind mehr, aber er war doch noch so unselbstständig! Sie hatte noch nicht gleich abgesagt, sondern sich Bedenkzeit ausgebeten. Aber sie wusste, diese Stelle konnte sie guten Gewissens nicht antreten.
Vor ihrem Haus begegnete sie Claudia Steiner, die gleich fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei. Denn die Unzufriedenheit wegen der entgangenen Chance stand Beate Hengenbruch noch ins Gesicht geschrieben. Als sie Claudia von ihrem Problem erzählte, machte diese ein nachdenkliches Gesicht.
„Und was wäre, wenn Thorsten nach der Schule zu uns kommt?“, fragte Claudia plötzlich. „Ich bin ab Mittag immer da, habe Zeit, und oft ist ja auch mein Mann zu Hause. Für Thorsten mitzukochen ist kein Aufwand. Er kann dann in Ruhe bei uns seine Schularbeiten erledigen und was er sonst tun will. Ich verstehe mich doch gut mit ihm, da gäbe es sicher keine Schwierigkeiten. Er wäre dann nicht allein zu Hause, und sobald Sie oder Ihr Mann daheim sind, kommt er zu Ihnen rüber.“
Der Vorschlag kam für Thorstens Oma völlig unerwartet. Kommt nicht in Frage, dachte sie im ersten Moment. Aber bei genauerem Hinsehen schien es ihr gar nicht so abwegig. Es wäre jedenfalls eine recht einfache Lösung. Aber sie musste es erst noch mal überdenken.
„Ich weiß nicht …“, meinte sie zögernd. „Natürlich — wenn sich das machen ließe, wäre es für uns eine große Hilfe … Aber nein, das können wir nicht annehmen.“
„Also glauben Sie mir, das wäre überhaupt keine Belastung für uns“, versicherte Claudia. „Schließlich sind wir doch Nachbarn. Ich freue mich immer, wenn der Junge mir Gesellschaft leistet. Das darf auch ruhig täglich sein. Ich würde also kein Opfer bringen.“
„Nun ja …“ Eigentlich war es ja wirklich eine Möglichkeit, fand Oma Hengenbruch. Wer wusste, ob ihr so bald ein ähnlich guter Job angeboten wurde wie der heute. Natürlich müsse sie das erst noch zu Hause besprechen, erklärte sie. Aber vorerst dankte sie schon mal für die angebotene Hilfe.
Später, als die Dinge ihren Lauf genommen hatten, vertrat Thorstens Oma die Ansicht, dies sei der eigentliche Moment gewesen, der alles in Bewegung gesetzt habe.
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Mit dem Beginn des nächsten Monats änderte sich also Thorstens Tagesablauf. Von montags bis freitags verbrachte er nun jeden Nachmittag im Haus der Steiners. Er hatte diese Änderung so bereitwillig angenommen, dass seine Oma insgeheim schon fast ein wenig gekränkt war. Ein wenig mehr Bedauern, dass er sich jetzt erst abends wieder unter ihre Fittiche begeben konnte, hätte sie ihm schon gern angemerkt. Andererseits war es natürlich nur gut, dass er die Regelung bereitwillig akzeptierte. Dass die Umstellung so reibungslos verlief, machte die Sache einfacher für sie.
An ihrer Arbeitsstelle fühlte Oma Hengenbruch sich wohl. Sie kam wieder mehr unter Menschen und die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen gefiel ihr. Erst jetzt wurde ihr so recht bewusst, wie sehr sie sich gedanklich vom normalen Leben entfernt hatte. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren ja voll und ganz der Aufgabe gewidmet, ausschließlich Hausfrau und für Thorsten eine Ersatzmutter zu sein.
An Ungezwungenheit im Umgang mit Ihresgleichen hatte sie sich allerdings jetzt auch erst wieder gewöhnen müssen. Zum Beispiel was Gesprächsthemen betraf, denen sie sich ihres Enkels wegen jahrelang verweigert hatte. Sex war für sie in dieser Zeit ein absolutes Tabu gewesen. Sie hatte nicht nur Thorsten von allem abgeschirmt, was damit zusammenhing, der Einfachheit halber hatte sie diesen Aspekt des Lebens auch aus ihrem eigenen Denken verbannt. Bei den Frauengesprächen im Kreise der Kolleginnen gab es nun jedoch auch so manche Plauderei über Männer, nicht zuletzt über die eigenen. Wenn sie unter sich waren, nahmen die Frauen kein Blatt vor den Mund. Davon blieb auch nicht verschont, was sich unterhalb des Bauchnabels abspielte. Im Gegenteil, das stand in der Beliebtheitsskala weit oben.
Auf Beate Hengenbruch wirkte sich das auf zweierlei Art aus. Zum einen wurde sie sich mit den Gedanken und dem Reden über diese Dinge auch wieder ihrer Weiblichkeit bewusst. Natürlich, sie war nicht mehr jung. Die Wechseljahre lagen gerade hinter ihr, und damit stand sie nach eigenem Dafürhalten auf der Schwelle zum Alter, aber sie war immer noch eine Frau. Das wurde unter anderem deutlich, wenn sie sich als Folge solcher Gespräche bisweilen veranlasst sah, nach ihrer Heimkehr von der Arbeit ihren feucht gewordenen Schlüpfer durch einen frischen zu ersetzen. Zum anderen meldete sich die Einsicht, dass sie ihrem Karl-Heinz in den letzten Jahren hinsichtlich bestimmter Aspekte des Ehelebens eine recht strenge Diät zugemutet hatte. Unverdientermaßen, lediglich aufgrund ihrer selbst auferlegten Sittenstrenge. Aber wie sollte sie das so schnell wieder ändern? Was sollte er davon halten, wenn sie nun auf einmal wiedererwachtes Interesse an den von ihr lange Zeit ziemlich vernachlässigten ehelichen Pflichten zu erkennen gab?
Thorsten fühlte sich indessen sehr wohl damit, dass er jetzt bei Steiners so etwas wie ein zweites Zuhause hatte. Es war ein angenehmes Gefühl, die Nachmittage regelmäßig in Claudia Steiners Gegenwart verbringen zu können, ihr nahe zu sein. Er hatte sich ja schon immer zu ihr hingezogen gefühlt. Natürlich liebte er seine Oma, die schließlich Mutterstelle an ihm vertrat. Aber Claudia Steiner stellte für ihn eben etwas anderes dar. Sie war viel jünger als Oma, daher auch irgendwie interessanter, was das rein Äußere betraf. Er mochte ihr ganzes Aussehen, ihr stets freundliches Gesicht, die langen blonden Haare, ihre schlanke Gestalt, den leichten Parfümduft, der sie stets umwehte.
Obwohl sie sich schon in der Vergangenheit gut verstanden hatten, waren sie nun durch das ständige Beisammensein richtig vertraut miteinander. Schon nach wenigen Tagen seiner täglichen Aufenthalte hatte Claudia ihm vorgeschlagen, sie und ihren Mann zu duzen.
„Wir sind jetzt jeden Tag für ein paar Stunden so etwas wie eine Familie“, hatte sie gemeint. „Da ist es doch viel passender, wenn du uns mit den Vornamen anredest.“
Thorsten gefiel das sehr und machte ihn auch etwas stolz. Oma war auch nicht in der Lage, ihm so gut zu helfen wie Claudia, wenn er Schwierigkeiten mit seinen Schulaufgaben hatte. Und wenn Dirk Steiner zu Hause war, fand er in diesem einen idealen Nachhilfelehrer für Mathematik. Andererseits machte Thorsten sich auch gern nützlich, begleitete Claudia beim Einkauf, half ihr auch im Haushalt, wo er nur konnte. Dadurch hatten sie dann auch mehr Freiraum, um miteinander zu reden oder sich mit Spielen die Zeit zu vertreiben.
Claudia Steiner war ebenfalls angetan von der neuen Situation. Ein wenig war es jetzt tatsächlich so, als habe sie einen Sohn, um den sie sich kümmern konnte. Jedenfalls halbtags. Besonders wenn Dirk für einige Tage beruflich verreist war, sorgte Thorstens Anwesenheit dafür, dass sie sich weniger einsam fühlte. Es war ein schönes Gefühl, dann trotzdem jemanden zu Hause um sich zu haben.
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Es war wieder soweit gewesen. Dirk hatte verreisen müssen. Nach Italien, diesmal für fast eine Woche. Als der Tag gekommen war, an dem abends seine Rückkehr anstand, war Claudia anzumerken, dass sie sich darauf freute. Für sie war es allerdings nicht nur die ganz normale Vorfreude auf das Wiedersehen, sondern auch auf das, was sich nahezu immer damit verband. Als Dirk vorhin angerufen hatte, um seine Ankunftszeit mitzuteilen, hatte er vorgeschlagen, eines ihrer Lieblingsrestaurants aufzusuchen, nachdem sie ihn vom Flughafen abgeholt hätte.
„Und danach, du weißt schon, Schatz … Ich bin sicher, du hast mir einiges zu erzählen.“
Natürlich wusste Claudia, worauf ihr Mann angespielt hatte. Sobald sie wieder zu Hause wären, würden sie zusammen im Bett landen — was nicht wörtlich zu nehmen war, manchmal konnte es auch das Sofa oder der Wohnzimmerteppich sein. Das hielten sie immer so, selbst wenn er nur zwei oder drei Tage auf Reisen gewesen war. Und dann, das nämlich hatten seine Worte andeuten sollen, wäre eines ihrer beliebten Bettspiele fällig. Sie hatte bereits darüber nachgedacht, was sie ihm diesmal auftischen wollte.
Thorsten saß heute lange an Mathematik-Aufgaben für die Schule. Claudia schaute auf die Uhr. In einer guten Stunde sollte Opa Hengenbruch nach Hause kommen und Thorsten hinübergehen. Dann würde es auch schon Zeit für sie sein, zum Flughafen zu fahren. Am besten sollte sie jetzt schon unter die Dusche gehen und sich für den Abend fertigmachen. Sie informierte Thorsten, dass sie sich schon mal umziehen müsse. Dieser war jedoch so in seine Aufgaben vertieft, dass er nur mit halbem Ohr zuhörte und kaum mitbekam, wie sie den Raum verließ.
Claudia hatte schon geduscht, stand gerade nackt in ihrem Schlafzimmer und dachte darüber nach, was sie anziehen sollte, als das Telefon klingelte. Mal wieder im ungünstigsten Moment, dachte sie. So nackt konnte sie selbstverständlich nicht zum Telefon ins Wohnzimmer gehen, wo Thorsten saß. Sie überlegte, ob sie sich noch schnell einen Bademantel überziehen sollte, verwarf den Gedanken aber dann. Sollte der Anrufer es später noch einmal versuchen, falls es wichtig war. Sie beschloss, das Telefon zu ignorieren.
Das Läuten des Telefons hatte Thorsten aus seiner Konzentration aufgeschreckt. Als ihm bewusst wurde, dass Claudia nicht im Raum war, stand er auf, nahm das moderne Schnurlostelefon aus der Ladeschale und ging, ohne sich zu vergegenwärtigen, weshalb sie gerade nicht im Wohnzimmer war, auf die Suche nach ihr. Als er schließlich an der halb offenen Schlafzimmertür vorbeikam und in den Raum hineinschaute, blieb er wie angewurzelt stehen.
Er hatte Claudia gefunden. Kaum zwei Meter von ihm entfernt stand sie da, ohne ihn zu bemerken, wandte ihm den Rücken zu. Sie war splitternackt!
Später gab es für Thorsten keinen Zweifel, dass selbstverständlich das der Zeitpunkt gewesen sei, an dem alles begonnen habe.
Er konnte sich nicht entsinnen, jemals einen anderen Menschen so nackt vor Augen gehabt zu haben, geschweige denn einen Erwachsenen. Mit offenem Mund starrte er Claudia an. Er hatte völlig ungehinderten Blick auf ihren Körper; auf die helle glatte Haut, bei deren Anblick ihn spontan die Vorstellung befiel, wie weich sie sich anfühlen musste. Angesichts ihrer grundsätzlich schlanken Erscheinung überraschte ihn die Fülle ihres Hinterteils und der oberen Schenkelpartie. Er hatte ja schon festgestellt, dass viele Frauen, auch keineswegs korpulente, von den Proportionen her unterhalb der Taille breiter waren als Männer. Claudia machte da keine Ausnahme. Trotzdem erstaunte ihn jetzt die Konfrontation mit den nackten Tatsachen. Die Haut zollte der Üppigkeit der Pobacken und Schenkel ein wenig Tribut, war hier nicht ganz so glatt, hatte sanfte Dellen, was den Anblick aber vielleicht gerade darum noch spannender machte.
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