Teil 2: Höllenjagd
1
Leon
Simba sagte, wir sollten das Ritual auf dem Bürgersteig vor dem Haus vollziehen. Die Hölle sah zwar angeblich genau aus wie unsere Erde, doch konnte es durchaus sein, dass an dieser Stelle kein Wohnhaus stand und wir sechs Stockwerke tief abstürzen würden.
Euphoria hatte die drei Blutsorten — von ihr selbst, ihrem Freund und Máiréad — tropfenweise miteinander vermischt, während sie in einer unverständlichen Sprache vor sich hin murmelte, und das Ergebnis Simba und mir auf die Stirn und in den Nacken geschmiert. Jeder von uns hatte eine Phiole des Elixiers einstecken, damit wir Patrizia mit zurückbringen konnten.
Dann stellte sich Tamara vor uns, sprach ein paar Sätze in einer Sprache, die ich nicht verstand und legte ihre Hände auf unsere Köpfe.
Im selben Moment verschwanden sie und Euphoria. Im nächsten Moment mussten Simba und ich zur Seite springen, weil ein Feuerwehrauto mit Blaulicht und Sirene auf uns zuraste. Auf dem Bürgersteig natürlich, weil die eben noch stille Straße von Hunderten von Autos blockiert war.
Autos, die hupten und ihre Motoren aufheulen ließen, aber nur im Schritttempo vorankamen. Ich kannte Paris und auch Rom, die angeblich verkehrsmäßig schlimmsten Städte in Europa. Doch das, was hier in einer normalerweise ruhigen Seitenstraße abging, war um einiges schrecklicher.
Irgendwo vor uns blinkten blaue und gelbe Lichter, und schwarzer Rauch stieg in den wolkenverhangenen Himmel. Die Luft roch nach Asche, Rauch und Benzin. Es war die — Ich schlug mir die Hand gegen die Stirn. Das hier war die Hölle, weil es die Hölle war.
Die Fahrer dieser Autos waren wohl verdammte Seelen, die zur Strafe für ihr Verhalten in einem Stau steckten. Einem, dessen Ende nicht abzusehen war. Ich blickte mich zu Simba um. Seine Augen waren weit aufgerissen.
„Was ist?“, fragte ich.
„Das ist ja schrecklich!“
„Ist das nicht der Sinn der Hölle?“
„Doch schon. Aber damals gab es nicht so viele verdammte Seelen.“
„Damals lebten nur ein paar Millionen Menschen auf der Erde, jetzt sind es acht Milliarden. Tausend Mal so viel. Und zehnmal so viele sind schon tot. Selbst wenn nur ein kleiner Teil davon in die Hölle kommt …“
Er blickte mich kopfschüttelnd an. „Ich hatte ja keine Ahnung.“
„Und heute gibt es einen weitaus höheren Anteil an Ungläubigen.“
„Was soll das damit zu tun haben?“
„Naja, die katholische Kirche sagt —“
„Alles Schwachsinn. Der Glaube an einen allmächtigen Gott allein bewahrt einen Menschen nicht vor der Hölle. Wer in seinem Leben mehr Scheiße baut als Gutes tut, landet hier. Egal ob Hexe, Magier oder Papst.“
Ich wies auf die hupenden Autofahrer. „Wie lange müssen die hier im Stau stehen?“
Simba grinste mich an. „Solange bis sie merken, dass sie nicht mehr am Leben sind. Erst dann verstehen sie, dass das hier eine Strafe ist und nicht ihr normaler Alltag.“ Er lächelte in sich hinein. „Früher mussten die noch mit einem Ochsengespann den Boden umgraben.“
Was vielleicht interessanter gewesen war, als ewig im Auto zu sitzen. „Also gut, was machen wir als erstes?“
Simba wies mit dem Finger auf ein Hochhaus, das in einiger Entfernung alle anderen überragte. „Erste Bank der Hölle“, stand da in leuchtenden Buchstaben. „Wir brauchen Geld“, sagte er.
„Und die verdammten Seelen können diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht sehen?“
„Kuckst du auf Häuserwände, während du im Stau stehst?“
„Ich hab‘ noch nie im Stau gestanden.“
2
Simba
In den letzten Monaten, seit ich wieder erwacht war, hatte ich jede Gelegenheit genutzt, die moderne Welt kennenzulernen. Da dies nur mit Hilfe von Leons Sinnen funktionierte, war ich allerdings ziemlich eingeschränkt. Die Universitätsstadt, die Kleinstadt, in der der größte Teil von Patrizias Familie lebte, und die Strecke dazwischen kannte ich inzwischen ziemlich gut. Insofern waren mir die Blechkisten, die die modernen Menschen „Autos“ nannten, bekannt. Ich hatte auch schon erlebt, dass eines wegen einer Panne liegengeblieben war und die nachfolgenden sich daran vorbeidrücken mussten.
So etwas wie auf dieser Straße war mir noch nicht begegnet.
Andererseits kannte ich die Methoden der Hölle und war gespannt, welche anderen Foltermethoden mir noch begegnen würden.
„Ach du Scheiße!“, stöhnte Leon, als wir in die Bank kamen. Eine Halle, die weit größer war, als es für dieses Haus möglich schien, war mit verdammten Seelen angefüllt, die offensichtlich versuchten, die gegenüberliegende Seite des Raums zu erreichen. Dort, weit entfernt, konnte ich viele Dämonen sehen, die nebeneinander hinter einem langen Tresen saßen. Vor jedem stand eine Schlange aus unzähligen Seelen.
Ab und zu hob einer der Dämonen den Kopf, sprach kurz mit der Seele vor ihm und zeigte dann auf einen seiner Kollegen. Dies führte dazu, dass die Seele sich umdrehte, an das Ende der anderen Schlange lief und sich dort wieder anstellte.
Das lief natürlich nicht immer friedlich ab. Manche von ihnen reckten die Fäuste in die Luft, oder schrien auf den Dämonen ein, was allerdings umgehend zum Auftauchen von in schwarzen Uniformen gekleideten Dämonen führte, die die Seele links und rechts unter dem Arm packten und durch einen Seiteneingang abführten. Pech gehabt. Hinten anstellen.
All das war begleitet von einem ständigen leisen Gemurmel derjenigen, die noch Hoffnung hegten dranzukommen.
„Kommt denn hier jemals jemand dran?“, fragte Leon.
„Der Sinn und Zweck ist es doch“, erklärte ich, „dass die Seelen leiden. Also eher nicht.“
Leon schüttelte den Kopf. „Und was machen wir dann hier?“
„Wir laufen einfach nach vorne“, meinte ich. „So unhöflich wie möglich.“ Damit setzte ich mich in Bewegung und drängelte mich zwischen zwei der Warteschlangen hindurch.
„He!“ „Du da!“ „Was fällt dir ein?“ und so weiter und so fort. Es machte immer noch Spaß, verdammte Seelen zu foltern.
Ich achtete darauf, ab und zu jemanden auf den Fuß zu treten. Das führte leider dazu, dass Leon sich jedes Mal entschuldigte.
„Muss das sein?“, zischte er mich nach einiger Zeit an.
„Gehört dazu“, sagte ich. „Strafe muss schließlich sein.“
Endlich erreichten wir die vorderste Reihe. Ich wischte die Seele beiseite, die gerade mit dem Dämon hinter dem Tresen sprechen wollte.
„He“, beschwerte sie sich. „Ich war zuerst da.“
Ich richtete mich etwas höher auf, was mit Leons Körper natürlich nicht so gut klappte wie mit meinem eigenen, aber die Seele war trotzdem angemessen eingeschüchtert.
„Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“, fragte der Dämon dienstbeflissen.
„Ich möchte Geld abheben.“
„Haben Sie denn eine Karte?“
„Nein“, sagte ich, „aber das hier:“ Damit griff ich in die Luft und ein Pergament erschien. Ich drückte es dem Bankangestellten in die Hand.
Der runzelte die Stirn, fing dann aber an, auf seiner Computertastatur herumzutippen.
„Was ist das?“, fragte Leon.
„Ein Schuldschein.“
„Und wieso sind wir dann hier“
„Ich habe gehört, dass ein Nachkomme meines Schuldners diese Bank gegründet hat.“
„Oh, und wie viel Geld hast du zu kriegen?“
„Der Schuldschein lautet über eine Seele.“
„Aha. Was ist so etwas heute wert?“
„Keine Ahnung. Er wollte sie mir mit fünf Prozent pro Jahr verzinsen.“
Leon runzelte die Stirn. „Eine Seele verzinsen?“
Ich lachte auf. „Ach so, du kennst ja nur Gulden. Die Seele ist das hiesige Zahlungsmittel.“ Ich wandte mich an den Dämon, der mich seltsam anblickte. „Gibt es irgendein Problem damit?“
„Sind Sie Herr Mulam-Kisch Bargal-Nunna?“
„Das ist mein Name.“ Einer von vielen falschen, die ich im Laufe meiner Existenz getragen hatte.
„Wir — äh — hatten Ihnen eine Mitteilung geschickt.“
Ich runzelte die Stirn. „Die habe ich nicht bekommen. Ich war schon lange nicht mehr hier.“
„Der — äh — Vorstand hat im Jahr 2440 vor Christus beschlossen, die Zinsen für ihr Guthaben auf null zu senken.“
„WAS???“
Ich rechnete kurz nach. Bei fünf Prozent bekam ich alle zwanzig Jahre eine Seele gutgeschrieben. In den fünftausend Jahren seitdem sollten das zweihundertfünfzig an Zinsen sein. Wenn die aber schon nach fünfhundert Jahren aufgehört hatten—
Leon legte seine Hand auf meinen Arm. „Simba“, sagte er mit einem seltsamen Lächeln. „Du solltest dir vielleicht erst einmal anhören, wieviel Geld du auf dem Konto hast.“
„Wieso?“ Ich wandte mich wieder an den Dämon. „Also?“
„Ihr Guthaben beläuft sich auf — äh — vierunddreißig—“
„WAS???“
„Vierunddreißig Milliarden vierhundertfünfzig Millionen siebenhundertfünfundzwanzigtausend fünfhundertfünfzig Seelen.“
Ich starrte ihn wortlos an.
Leon grinste. „Ich nehme an, Bro, du hast noch nie etwas von Zinseszins und exponentiellem Wachstum gehört?“
Ich schüttelte den Kopf. „Großer Satan!“, murmelte ich. Was sollte ich nur mit all dem Geld anfangen? Mir Paläste bauen lassen? Millionen von Ochsen kaufen? Frauen? Ja, Frauen! Viele Frauen. Tausende von Frauen.
„Was kostet denn derzeit ein Zimmer im besten Hotel der Stadt?“, fragte Leon.
Der Dämon zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Fünfhundert vielleicht? Tausend?“
„Na gut“, sagte ich. „Geben Sie mir eine Million. In Goldmünzen.“
Der Dämon riss die Augen auf. „Wollen Sie nicht lieber eine Kreditkarte nehmen?“
„Auf keinen Fall. Ich traue diesem Plastikzeug nicht über den Weg.“
„Nimm wenigstens Geldscheine“, sagte Leon. „Gold ist verdammt schwer.“
„Wenn du meinst“, brummte ich. Dann wandte ich mich wieder an den Dämon. „Aber wehe, jemand weigert sich, dieses Ersatzgeld zu nehmen.“
„Nein, nein“, antwortete er zitternd. „Das wird nicht passieren. Warten Sie bitte. Ich — äh — lasse das Geld bringen.“ Er tippte wieder auf seiner Tastatur herum. „Äh — Ich habe noch eine Nachricht für Sie. Fürst Mammon möchte Sie sehen, sobald es Ihnen passt.“
Ich runzelte die Stirn. Was wollte der alte Geizkragen von mir? Aber eine Einladung eines Höllenfürsten kam einem Befehl gleich. „Wo kann ich ihn finden?“
„In der Zentrale der Bank in New York. Ich kann Sie anmelden und Sie können mit dem bankeigenen Aufzug dorthin fahren.“
Ein in einen Nadelstreifen-Anzug gekleideter Dämon kam heran, in der Hand einen Koffer, zwei Dämonen in Security-Uniform flankierten ihn.
„Sie müssen verstehen“, sagte er statt einer Begrüßung, „dass wir solche Beträge normalerweise nicht in bar auszahlen.“
„Was kümmert mich das? Ich bin kein Banker.“
Er legte den Koffer auf den Tresen. „In Anbetracht der nicht-lebenden Kunden möchte ich Sie bitten, diesen Koffer hier nicht zu öffnen.“
„Wehe es fehlt auch nur eine Seele!“
„Bei der Ehre dieses Hauses. Ich habe dreimal nachgezählt.“
Ich griff nach dem Koffer. Er war nicht so schwer wie ich befürchtet hatte. „Melden Sie uns bei Mammon an. Wie kommen wir zu ihm?“
Der Dämon im Nadelstreifen-Anzug machte eine einladende Handbewegung. „Wenn Sie mir folgen würden …“
3
Leon
Die Aufzugtüren schlossen sich und ich wollte schon aufatmen, dass die Dämonen uns nicht in die Kabine folgten.
Doch dann setzte sich der Aufzug rumpelnd und quietschend in Bewegung, als wolle er jede Sekunde abstürzen. Aber noch schlimmer als diese Geräusche war die Dudelmusik, die aus versteckten Lautsprechern dröhnte.
„War ja klar“, murmelte ich.
„Was?“, fragte Simba/Arithanias/Mulam-Kisch.
Ich wies zur Decke. „Alle Klischees über Aufzüge auf einem Haufen.“
„Was?“, wiederholte er. „Ich kann dich nicht verstehen. Die Scheißmusik übertönt alles.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ist nicht wichtig“, sagte ich laut. „Sag mal: Wie viele Namen hast du denn?“
„Eine Menge. Das ist aber bei allen Dämonen so.“
„Und warum das?“
„Weil wir unseren wahren Namen niemandem verraten.“
„Und warum das?“
„Weil man uns damit beschwören und binden kann. Ein Magier, der den wahren Namen eines Dämons kennt, kann diesen aus der Hölle beschwören und zu sich holen. Typischerweise müssen wir dann irgendetwas machen, wozu er selbst nicht in der Lage ist.“
„Einen Menschen töten?“
Ich zuckte die Schultern. „Das ist noch eines der weniger schrecklichen Dinge.“
„Es war also ein Vertrauensbeweis, dass du mir deinen mitgeteilt hast.“
Wieder zuckte er die Schultern. Dann grinste er. „Ich mag dich halt, Bro.“
Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln.
„Wer ist Mammon?“
„Der Höllenfürst der Gier. So wie Asmodai der Fürst der Lust ist, Belphegor für Trägheit und Leviathan für Zorn.“
„Und Satan?“
„Ist der oberste Anführer der Dämonen.“
„Luzifer?“
„Sein Stellvertreter. Zu meiner Zeit bekleidete Asmodai diesen Posten. Aber das hat sich inzwischen sicher geändert.“
„Das sind also keine echten Namen. Wäre ja auch dumm.“
„Kluges Kerlchen.“
Die Anzeige stand schon einige Zeit auf der 13. Ich hatte keine Ahnung, in welchen Stock wir mussten, aber das konnte dauern.
„Du bist also stinkreich.“
Er lachte auf. „Vor einer Stunde war ich das noch nicht. Außerdem liegt das Geld schließlich hier in der Hölle.“
„Du kannst es nicht irgendwie auf die Erde bringen? Du sagtest etwas von Goldmünzen?“
„Höllengold? Ich will auf der Erde leben und sie nicht in Chaos stürzen. Eine solche Münze allein kann einen Massenmord auslösen.“
„Puh!“
Die Anzeige sprang auf 666 und der Aufzug hielt an. Nicht ohne ein paar herzhafte Rucke, die mich um mein Leben bangen ließen. Es dauerte einige nervenaufreibende Sekunden, bis sich die Türen öffneten. Dann traten wir hinaus.
„Wow!“ Wer noch nie in New York war, kann sich nicht vorstellen, wie beeindruckend der Blick über Manhattan ist. Das ganze Stockwerk war ein einziger Raum, ringsum bis zum Boden verglast.
Die Einrichtung sah aus wie in einem Museum. Goldene Statuen, von Edelsteinen glitzernde Waffen, fein ziselierte Rüstungen. Purer Protz.
Dann fiel mein Blick auf den Thron. Er war riesig! Zehn Stufen führten zu ihm hinauf und oben saß — ein Dämon.
Diejenigen, die wir bisher getroffen hatten, konnten auf den ersten Blick als Menschen durchgehen. Nur die spitzen Zähne und die schiefstehenden, rötlich schimmernden Augen unterschieden sie von einem Durchschnitts-Menschen. Zumal man die Unterschiede nur sah, wenn man bewusst hinschaute. Hätte mich Simba nicht vorher darauf hingewiesen, hätte ich sie nicht erkennen können.
Doch dieser hier … Aus der Entfernung schien er riesig — drei Meter groß oder noch mehr. Rot leuchtende Augen, riesige Hörner, die aus seinem Kopf wuchsen, rote Haut, und — Flügel! Riesige Fledermausflügel mit Krallen an den Spitzen.
„I-i-ist das Mammon?“, flüsterte ich.
„Scheint so“, sagte Simba. „Obwohl —“ Er schritt auf den Thron zu und mir blieb nichts anderes als ihm zu folgen.
Mammon stand von seinem Thron auf — Wieso stieß er eigentlich nicht an die Decke? — und runzelte die Stirn.
Wir waren noch ungefähr fünf Meter von der ersten Stufe entfernt, als sich das Bild plötzlich veränderte. Der Thron verschwand und an seiner Stelle erschien ein ganz normaler Schreibtisch mit zwei Computermonitoren. Dahinter stand ein Chefsessel und ein in einen teuer aussehenden Anzug gekleideter, jung aussehender, normal großer Dämon.
„Arithanias“, sagte er lächelnd. „Freut mich, dich nach so langer Zeit zu sehen, mein Sohn. Interessanter Körper, den du da anhast.“
Sohn?
„Ich hab‘ dich mit Klamotten fast nicht erkannt, Papa“, sagte Simba und machte keine Anstalten, die ausgestreckte Hand Mammons zu ergreifen. „Seit wann bist du Mammon?“
Das Lächeln des Mannes gefror. „Es gibt einen neuen Satan“, sagte er mit zusammengepressten Lippen.
„Sollte ich ihn kennen?“, fragte Simba.
„Sie“, antwortete sein Vater. „Es ist eine Frau.“
Ich keuchte auf. „Doch nicht etwa—“
Er hob die Hand und ich unterbrach mich. „Keine Namen. Man sagt, sie könnte es hören und kommt sofort.“
„Also Satan hat dich zu Mammon ernannt“, sagte Simba nachdenklich. „Und wer ist der neue Asmodai?“
„Sie“, sagte Mammon kurz.
Simba und ich blickten uns an. Irgendetwas am Verhalten des Dämonenfürsten war seltsam, und ich war sicher, dass Simba das auch so sah.
„Aber“, wandte er sich wieder an Mammon, „du hast mich doch bestimmt nicht kommen lassen, um mir nur ‚Guten Tag‘ zu sagen.“
Mammon zuckte die Schultern. „Ich hatte nie gewollt, dass du so lange wegbleibst. Ich dachte eigentlich, du würdest nach spätestens hundert Jahren mit hängendem Schwanz zurückkommen.“
„Ha!“, machte Simba. „Da kennst du mich aber schlecht.“
„Scheint so. Ich — Ich hoffe wir sehen uns in Zukunft öfter.“
„Da würde ich nicht drauf wetten. Wir haben einen Job hier, und danach bin ich wieder weg. Es gefällt mir oben auf der Erde.“
Ich wollte Mammon etwas fragen, doch Simba warf mir einen Blick zu, der mich den Mund halten ließ. Ich hatte das Gefühl, dass er seinem Vater nicht über den Weg traute.
„Wenn du also nichts weiter von uns willst“, sagte Simba, „dann lass dich nicht länger von deiner wichtigen Arbeit abhalten.“ Er wandte sich auf der Stelle um und lief auf den Aufzug zu. Ich nickte Mammon zu und folgte ihm.
Die Aufzugtüren schlossen sich hinter uns. „Was —“
„Nicht hier.“ Er warf einen Blick zur Decke, dann drückte er den Knopf für das Parterre.
Ich folgte seinem Blick und blickte direkt in die Optik einer Kamera. Hätte ich mir natürlich denken können.
Unten ließen wir uns von einem Security-Dämon zu einem Seitenausgang bringen. Erst ein paar hundert Meter von der Bank entfernt atmete Simba auf.
„Das war schräg“, sagte ich.
„Sehr schräg“, stimmte er mir zu. „Aber zumindest wissen wir jetzt, wo wir suchen müssen.“
„Du meinst, dass die Person, die wir verdächtigen, dieselbe ist, deren Name hier nicht genannt werden darf?“
„Ich bin nicht absolut sicher, aber ich habe da so ein Bauchgefühl …“
„Hast du? Na gut. Wo hat Satan denn seine Residenz?“
„Wo anders als in Rom?“
4
Simba
Zu der Zeit, als ich die Hölle verlassen musste, konzentrierte sich die menschliche Kultur auf den vorderen Orient. Hauptsächlich Ägypten und das Zweistromland. Die Hölle hatte ihre Zentren ebenfalls dort. Asmodais Palast stand in Ur am Euphrat, Satans in Memphis am Nil, die der anderen Fürsten in den Städten dazwischen. Während Asmodai, wie ich gerüchteweise gehört hatte, im Laufe der Zeit mehrfach umgezogen war — Athen, Rom, Bagdad, Paris, also immer dahin, wo das Leben pulsierte — hatte der Satanspalast nur einmal in fünftausend Jahren seinen Standort gewechselt.
Nämlich dahin, wo auf der Erde die katholische Kirche ihr Zentrum hatte. Nach Rom, oder genauer gesagt, in den päpstlichen Palast.
„Wie kommen wir dahin?“, fragte Leon. „Gibt es da auch einen Teleporter-Aufzug?“
„Selbst wenn, wäre das viel zu auffällig. Auch wenn wir Satan irgendwann einmal persönlich gegenübertreten müssen, sollten wir bis dahin versuchen, unentdeckt zu bleiben.“
„Also fliegen wir?“
„Nein“, sagte ich. „Wir nehmen den Zug. Dann können wir uns ausschlafen und sind morgen früh fit, wenn wir ankommen.“
*
Der Bahnhof war natürlich von verdammten Seelen überfüllt. Sie standen enggedrängt und schwitzend auf den Bahnsteigen und hofften, dass ihre Züge pünktlich kamen. Was sie natürlich nie taten.
Wenn dann einmal ein Zug kam, waren alle Waggons überfüllt, und niemand machte Anstalten auszusteigen. Die Türen öffneten sich, und Körper wurden sichtbar von Seelen, die sich krampfhaft an Griffen festhielten, um nicht von der Masse im Zug hinausgedrückt zu werden. Nach langer, langer Zeit schlossen sich die Türen gewaltsam und schoben die Seelen in den Waggons ineinander.
Ich bewunderte die Kreativität derjenigen, die all diese Strafen entworfen hatten. Zu meiner Zeit konnten wir jede Seele individuell bestrafen, doch wenn die Zahlen stimmten, die Leon genannt hatte, war Massenabfertigung heutzutage tatsächlich die einzige Möglichkeit.
Es war ja nicht so, dass die Seelen auf dieser Ebene der Hölle sich gravierender Missetaten schuldig gemacht hatten. Das, was die Christen „Todsünde“ nannten — Mord, Folterungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen — wurde eine Etage tiefer abgehandelt. Feuer, Schlamm oder Foltermaschinen gab es schon damals. Was dafür heutzutage benutzt wurde, würde mich schon interessieren. Nach allem, was ich bei Leons Vorlesungen gehört hatte, schien zum Beispiel Elektrizität eine wirksame und saubere Foltermethode zu sein.
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