„Ich gehe dann jetzt, Kitti. Gute Besserung!“

Kitja blieb mit bis zur Stirn hochgezogener Bettdecke so lange still liegen, bis die Tür zu klappte und sie sicher war, dass ihre Mutter nicht lauschend davor wartete. Dann sprang sie geradezu aus ihrem Bett, zog das Nachthemd über den Kopf und schlüpfte in ein Höschen und ein einfaches Baumwollkleid. Verborgen hinter dem Vorhang spähte sie aus dem kleinen Fenster auf die Straße und sah, wie ihre Mutter tatsächlich das Dorf in Richtung Markt verließ.

Ganz wohl war ihr nicht dabei, ihre Mutter belogen zu haben. Aber zu behaupten krank zu sein, schien ihr der einzige sinnvolle Ausweg, um nicht mit ihr zum Markt gehen zu müssen. Vermutlich hatte ihre Mutter die Lüge durchschaut. Doch nach einer Woche Streit und Schmollen war auch sie nicht mehr dazu aufgelegt, dies auszudiskutieren. Daher war ihre einzige Reaktion gewesen, Kitja ins Bett zu schicken. Zwar hatte sie Kitjas aufgetragen, nach ihr zu sehen. Aber der hatte es vermutlich schon vergessen. Ganz sicher jedenfalls würde er nicht bemerken, wenn sie das Haus verließ. Er merkte ja nie etwas, was seine anging.

Die ganze Woche seit dem unglückseligen Ereignis hinter dem Gasthaus im Wald war Kitja unausstehlich gewesen. Er aber hatte getan, als sei alles bester Ordnung. Ihre Mutter dagegen hatte Elenas Notlüge, dass Kitja ihr beim Ausliefern von Ware geholfen hatte, zwar geschluckt, aber säuerlich erklärt, dass sie trotzdem hätte Bescheid geben müssen, wenn sie so lange vom Marktstand wegblieb.

Oh, komm! Kitja schäumte bei dieser Erinnerung noch immer innerlich. Sie war doch kein kleines Kind mehr, das ihre Mutter bei allem vorher um Erlaubnis fragen musste. Dem Gesetz nach war sie erwachsen. Und wäre sie verheiratet, hätte sie schon ein eigenes Haus und träfe ihre eigenen Entscheidungen. Ach, es war einfach so unfair! Nur weil ihre Mutter ihr noch keinen Mann ausgesucht hatte, musste sie hier wohnen und ihr gehorchen. Manchmal wähnte Kitja, dass ihre Mutter gar nicht daran dachte, eine Hochzeit für sie zu arrangieren, um sie für immer unter ihrem Dach behalten und herumkommandieren zu können.

Andererseits war Kitja aber auch heilfroh, noch nicht heiraten zu müssen. Der Gedanke an einen Mann, mit dem sie ein Haus (und ein Bett!) teilen müsste, war zutiefst beunruhigend. Mindestens so beunruhigend wie die Bilder von Elena und diesem Sven, die sie seit einer Woche nicht mehr aus dem Kopf bekam.

Besonders intensiv kamen die Erinnerungen nachts, wenn sie alleine im Bett lag. Es genügte schon, nur die Augen zu schließen, und sie fühlte sich zurückversetzt in das Gebüsch aus dem sie das Pärchen bei ihrem Treiben beobachtet hatte. Sofort schwoll dann in ihrem Bauch dieses angenehme Kribbeln an und sie war sicher, dass ihre Hände durchdringende Feuchtigkeit spüren würden, wenn sie das dünne Nachthemd über die Schenkel nach oben schoben und sich zwischen die dichten krausen Haare tasteten.

Beim Tasten blieb es längst nicht mehr. Beide Hände arbeiteten mit jedem Mal perfekter dabei zusammen, diese wunderbaren Gefühle in ihr zu erwecken, die sie am liebsten immer länger und immer öfter erleben wollte. Während ihre Finger sich tief in ihre Spalte versenkten und die andere Hand wild über den wunderbar empfindlichen Punkt an deren oberen Ende tanzte, schob sich das Bild des sich innig umarmenden Paares vor ihr inneres Auge.

Dennoch, obwohl sie jede Nacht die Erfüllung fand, von deren Erreichen Elenas Auftauchen sie im Wald so abrupt abgehalten hatte, war es nicht dasselbe, wenn sie alleine war.

Erinnerung und Fantasie vermischten sich in dem süßen Fieber, das sie dann jedes Mal überkam, und in ihrer Vorstellung war es nicht Elena, die sie ertappte, sondern Svens kantiges Gesicht tauchte zwischen den Zweigen auf. Vor ihm, da war sich Kitja sicher, musste sie ihr Treiben nicht verbergen. In seinen Blicken badend fuhr sie einfach fort. Und auch er hielt sie nicht davon ab. Im Gegenteil ließ er sich bei ihr nieder, stieß dieses tiefe, kehlige Brummen aus, das Kitja an ein großes, wildes Tier erinnerte, legte sich auf sie, presste den dicken Kopf seines geäderten Stabs gegen ihre Pforte und…

„Ahh!“

Kitja riss die Augen auf. Um nicht in die Knie gehen zu müssen, hielt sie sich mit ganzer Kraft am Fensterbrett fest. Der Tagtraum war so intensiv gewesen, dass sie alles um sich völlig vergessen hatte. Schon wieder spürte sie die verräterische Nässe zwischen ihren Schenkeln. Doch sie verdrängte die Versuchung, sich sofort wieder ins Bett zu legen und ihrem Verlangen nachzugeben. Sie würde sofort aus dem Haus gehen müssen, wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte.

Wie ein Geist huschte sie durch die Zimmertür in den Flur und schlich die enge Treppe hinab. Aus der Werkstatt drangen die vertrauten Geräusche der Drehbank, an der ihr Vater arbeitete. Unhörbar und unsichtbar erreichte sie die Hintertür, schlüpfte hindurch und ließ sie leise hinter sich wieder ins Schloss schnappen. Erst dort zog sie die Holzschuhe über ihre nackten Füße. Dann flitzte sie durch den Garten zum Nachbarhaus. Wie befürchtet hatte sich Elena bereits auf den Weg gemacht und trat eben durch das Gartentor auf die Straße.

„Elena, warte bitte!“

Die Angerufene drehte sich um. Als sie Kitja erkannte, setzte sie den Weidenkorb und den Jutesack, die sie getragen hatte, auf den Boden, und sah ihr besorgt entgegen.

„Kitja, ist etwas passiert? Deine Mutter sagte, du bist krank. Wo ist dein Vater?“

„Nein, nichts passiert. arbeitet in der Werkstatt.“

Verlegen drückte sie eine Fußspitze in den Boden und murmelte halblaut.

„Ich bin nicht krank. Ich habe das nur gesagt, weil ich nicht mit meiner Mutter zum Markt gehen wollte.“

„Kitja!“, Elenas Stimme klang ungewohnt ernst und anklagend, „du hast gelogen. Das tut man nicht!“

„Ach ja?“, Kitja richtete sich trotzig auf, „Und was hast du letzte Woche getan?“

„Das war etwas anderes! Ich wollte dich vor einer Bestrafung schützen.“

„Ging es dir wirklich nur um mich? Weshalb durfte ich dann nicht die Wahrheit sagen? Was genau soll dein Mann denn nicht erfahren?“

„Psst! Nicht so laut. – Warum willst du denn nicht auf den Markt gehen?“, wechselte sie abrupt das Thema.

„Gehen will ich schon, aber nicht mit meiner Mutter, sondern mit dir, und zwar zum Gasthaus.“

„Das geht nicht!“

Elena sah sich erschrocken um, ob jemand ihren Ausbruch mitbekommen hatte, und dämpfte ihre Lautstärke, ehe sie weitersprach.

„Das ist unmöglich.“

„Und warum nicht?“

Kitja klang nun endgültig wie ein trotziges Kind.

„Weil es eben nicht geht. Du bist nicht alt genug dafür.“

Oh, warum mussten Erwachsene immer so störrisch und ignorant sein?

„Bitte, Elena, ich bin kein kleines Kind mehr. Und“, sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen und beugte sich nach vorne, damit nur ihr Gegenüber hören konnte, was sie sagte, „wenn ich nicht mitkommen darf, würde ich aus Langeweile deinem vielleicht doch etwas erzählen, was ich gesehen habe.“

„Das würdest du nicht wagen!“

„Willst du das herausfinden?“

„Nun gut“, schnaubte die Ältere, ihre Niederlage anerkennend, „dann trägst du aber den Sack hier. Und bleibe nicht zurück.“

Sie nahm ihren Korb wieder auf und stapfte ohne ein weiteres Wort oder sich umzusehen davon. Freudig schnappte sich Kitja den großen Jutesack, und obwohl er ziemlich schwer war, war sie voller Elan, dass sie anfangs keine Mühe hatte, mit Elena Schritt zu halten. Es war allerdings ein schweigsamer und recht eintöniger Marsch, denn Elena hatte offensichtlich kein Interesse daran, ein Gespräch zu führen oder irgendwelche Erklärungen abzugeben, obwohl Kitja darauf brannte, mehr über ihr Ziel zu erfahren.

Schon bald bog ihre Führerin von der Straße ab, die Kitja sonst immer mit ihrer Mutter zum Markt nahm, und folgte einem schmalen Pfad durch den dichten Wald, der sie vor den Blicken anderer Reisender verbarg, aber auch zwang, hintereinander zu gehen. So sah sie den ganzen Weg über nur den Rücken der anderen. Der Sack war tatsächlich schwer, und nachdem ihre anfängliche Euphorie verfolgen war, schleppte sich Kitja mühsam damit ab. Er drückte schmerzhaft in die Schulter, über die sie ihn geworfen hatte. Bald lief ihr auch der Schweiß in die Augen und sie musste regelmäßig mit dem Ärmel über die Stirn wischen. Aber sie lief beharrlich weiter, um nicht hinter Elena zurück zu bleiben.

Erst als sie die Lichtung schon fast erreicht hatten, blieb ihre Führerin stehen und wandte sich um.

„Hör zu und merke dir, was ich jetzt sage. Wenn wir ankommen, bist du still, sprichst niemanden an und tust nur genau das, was ich dir sage, und sonst nichts. Ist das klar?“

Kitja nickte eifrig.

„Gut. Dann komm mit.“

Elena führte Kitja zu deren Verwunderung zunächst um das Gasthaus herum zu einem niedrigen Holzschuppen, entriegelte dessen Tür und wies an:

„Stelle den Sack hier hinein.“

Kitja war froh, das schwere Gepäck endlich loszuwerden. Trotzdem sah sie sich neugierig um, sobald sie die Last auf dem Boden abgesetzt hatte, und entdeckte eine Vielzahl ähnlicher Säcke im Halbdunkel des Schuppens.

„Was ist das?“

„Das sind alles Schnitzereien meines Mannes. Anfangs lud ich hier nur ab, was ich auf dem Markt nicht verkaufen konnte, weil ich keine Lust hatte, die Sachen wieder nach Hause zu schleppen. Außerdem hatte ich damit eine einfache Erklärung, womit ich das Geld verdiente, das ich heim brachte. Dummerweise glaubt mein lieber Ehemann seither, dass mir die Kunden seine geschnitzten Figuren aus den Händen reißen und Bestpreise dafür bezahlen. Also stellt er immer mehr davon her. Als dieser Schuppen daher immer voller wurde, schloss ich eine Übereinkunft mit Skian, dem Wirt, dass er das Zeug als Brennholz verwenden kann und ich dafür freie Getränke erhalte. Klingt nach einem guten Geschäft, oder?“

Kitja nickte, obwohl sie nicht sicher war, ob Elenas Verhalten nicht einigermaßen gemein gegenüber ihrem Ehemann war. Aber wenn er sich nicht beklagte und das Gefühl bekam, dass seine Kunstwerke von den Leuten geschätzt wurden, war das sicher in Ordnung.

Für Elena war die Sache damit auch erledigt und sie marschierte zum Vordereingang des Hauses, so dass Kitja keine Wahl hatte, als ihr rasch zu folgen, wenn sie nicht zurückbleiben wollte. Als Elena die hohe Tür aufzog, drangen trotz der frühen Stunde bereits zahlreiche Stimmen, Gelächter und Geklapper aus dem Schankraum.

„Was sind das für Leute?“, fragte Kitja verunsichert.

„Es sind vor allem die Fuhrleute, die schon vor Stunden ihre Gespanne aus den weit entfernten Ortschaften zum Markt gefahren haben. Nun verbringen sie den Tag hier, bis die Kaufleute, für die sie arbeiten, ihre Geschäfte getätigt haben, und sie nachmittags oder abends die von ihnen erworbenen Waren wieder abtransportieren. Tagsüber haben sie kaum etwas anderes zu tun, als zu warten, und daher sind hier auch Leute, die für ihre Unterhaltung sorgen, so wie ich.“

Sie grinste und trat ein, sofort von mehreren Männern offenbar erfreut mit ihrem Namen begrüßt. Kitja folgte ihr und blieb auf der Schwelle verunsichert stehen. Der ungewohnte Geruch vieler auf engem Raum zusammengedrängter Männer, vermischt mit abgestandenem Alkohol drang ihr in die Nüstern. Die sich ihr zuwendenden groben Gesichter schüchterten sie ein. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss und erschrocken über den Knall machte sie unwillkürlich einige Schritte vorwärts.

„Hallo Kleine, wie heißt du?“

Sie starrte wortlos das über ihr aufragende bärtige Gesicht an, das von einer alten Narbe über der linken Wange verunstaltet wurde, schaffte es aber nicht, sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

„Sie ist mir da, Josh. Lass sie in Ruhe.“

Gelächter und ein paar rüde Bemerkungen auf Kosten des Angesprochenen quittierten Elenas Ruf, dann stand sie neben Kitja und nahm sie bei der Hand. Heilfroh ließ die sich von ihrer zu der hoch aufragenden Theke führe.

„Danke.“

„Ach was, nicht dafür. Josh sieht schlimmer aus, als er ist. Überhaupt sind das alles sehr nette Jungs hier, wenn du sie erst mal näher kennen gelernt hast. Du brauchst keine Angst zu haben. Komm, setz dich auf einen der Barhocker.“

Zweifelnd sah Kitja an dem Sitzmöbel hinauf, dessen oberes Ende ihren Scheitel um einiges überragte. Aber es hatte Sprossen an der Seite, die sie als Trittstufen verwenden konnte, und entschlossen kletterte sie hinauf. Körperbeherrschung und Gewandtheit zeichnete ihr Volk aus, so dass sie den Aufstieg problemlos meisterte. Zudem lenkte diese kurze Herausforderung sie von der Umgebung ab. Als sie auf der Sitzfläche Platz nahm, war sie fast ein wenig stolz auf sich und jedenfalls deutlich ruhiger als zuvor, zumal sie nun auch fast auf einer Höhe mit den Umstehenden war.

Trotzdem war die Einrichtung offensichtlich für Menschen geschaffen worden, denn trotz ihres erhöhten Sitzplatzes konnte sie gerade noch knapp über die Theke schauen. Dahinter war ein ziemlich dicker Mensch damit beschäftigt, Getränke aus Flaschen und Fässern in Gläser und Krüge zu füllen.

„Guten Morgen, Skian. Das ist meine Kitja.“

Der Dicke nickte erst Kitja zu und beugte sich dann nach vorne, um die auf dem Boden stehen gebliebene Elena zu sehen.

„Ah, guten Morgen. Möchtest du etwas trinken?“

Seine Stimme war ein tiefer brummender Bass.

„Nein, danke. Ich gehe gleich nach hinten zu Sven. Tu mir einen Gefallen Skian. Pass auf meine Freundin Kitti auf, sie ist neu hier. Ja? Und gib ihr bitte etwas zu trinken, wenn sie möchte.“

Dann wandte sie sich an Kitja.

„Bleib hier und mach keine Dummheiten. Ich treffe mich mit meinem Freund und dann bin ich gleich wieder da. In Ordnung?“

Kitja nickte und sah ihr mit wachsendem Unbehagen nach, während sie zu einer Tür im hinteren Teil der Gaststube ging und dahinter verschwand. Unsicher wandte sie dann den Blick nach vorne und sah die fleckige Holztäfelung der Theke an. Die sich überlagernden Geräusche und der ungewohnte Geruch hüllten sie wie eine Decke ein und schienen sie von der Außenwelt abzuschirmen. Vielleicht war es doch keine so tolle Idee gewesen, hierher kommen zu wollen?

Mit der Zeit merkte sie, wie durstig sie nach dem langen anstrengenden Fußmarsch war. Gerne hätte sie etwas Wasser getrunken, aber dann würde man sie vermutlich für ein Kind halten und außerdem gab es so etwas Einfaches hier bestimmt nicht zu kaufen. Angestrengt überlegte sie, was sie wohl bestellen könnte. Schielend versuchte sie zu erkennen, was für Getränke man hier ausschenkte, aber keines davon kam ihr bekannt vor. Zuhause durfte sie seit vielen Jahren zum Abendessen ein Glas von dem Bier trinken, das ihr Vater aus Wurzeln selbst braute. Es schmeckte erdig und leicht herb. So etwas zu bestellen würde bestimmt nicht kindisch wirken. Allen Mut zusammen nehmend, sagte sie in Richtung des Wirtes:

„Ein Wurzelbier, bitte.“

Ihre Stimme klang viel höher und leiser als ihr lieb war. Der dicke Mensch hatte sie wahrscheinlich gar nicht gehört, denn er reagierte nicht, und Kitja sah betreten nach unten, zu verschüchtert um sich Gehör zu verschaffen. Doch dann wandte Skian sich zu ihr.

„Was? Ein Bier?“

Zu unsicher ihre Bestellung zu wiederholen, nickte Kitja nur. Der Wirt nahm ein großes Glas, in das er kurz zuvor ein gelbes Getränk hatte laufen lassen, schenkte nochmal einen kräftigen Schuss aus demselben Fass nach, bis weißer Schaum herausquoll und an der Seite herablief, stellte es lächelnd vor ihr auf die Theke und kümmerte sich wieder um die anderen Gäste.

Zweifelnd sah Kitja das Glas an. Die Farbe des Getränks war goldgelb, viel heller als das Wurzelbier ihres Vaters, aber zumindest hatte auch es eine weiße Schaumkrone. Aber das Glas war beinahe so groß wie ihr Kopf. Vorsichtig nahm sie es mit beiden Händen auf und hob es an. Es war ziemlich schwer, so dass Kitja fürchtete, beim Trinken auf dem hohen Hocker das Gleichgewicht zu verlieren. Aber wie sollte sie auf den Fußboden kommen? Unschlüssig blieb sie sitzen.

Ein scheuer Blick nach links und rechts zeigte ihr, dass niemand auf sie achtete, und auch der Wirt hatte mit anderen Gästen zu tun. So wagte sie nicht, um ein kleineres Glas zu bitten, oder jemanden anzusprechen, der ihr hätte helfen können. Bedächtig setzte sie das gewaltige Glas auf ihrem Schoß ab, hielt sich mit einer Hand am Rand der Theke fest und senkte den Kopf soweit, dass sie am Schaum nippen konnte.

Enttäuscht verzog sie den Mund. Das Getränk war viel bitterer als das Wurzelbier ihres Vaters, beinahe ungenießbar. Diese Menge würde sie nie austrinken können, ohne dass ihr übel würde. Vor Anstrengung zitternd versuchte sie, das Glas mit einer Hand wieder auf die Theke zu stellen, während sie sich mit der anderen festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Kann ich dir helfen?“

Überrascht merkte sie, wie eine große starke Hand unter das Glas griff und ihr half, es nach oben zu stemmen und abzusetzen. Als sie den Blick hob, sah sie neben sich ein lächelndes Gesicht, das von langen blonden Strähnen, die ihm bis in die Augen hingen, eingerahmt war. Auch sie versuchte zu lächeln.

„Danke.“

Das war alles, was herausbrachte.

„Kein Problem, ich helfe gerne. Ich bin Gero. Und dein Name ist Kiddy, glaube ich.“

Kitja nickte. Ihr gefiel der weiche Klang, mit dem er ihren Spitznamen aussprach, daher korrigierte sie ihn nicht.

„Das Bier schmeckt dir nicht, nicht wahr?“

Wieder nickte Kitja, dieses Mal mit gesenktem Blick, weil es ihr peinlich war, etwas bestellt zu haben, was sie dann nicht trinken wollte.

„Kein Problem, dann lass es einfach stehen. Darf ich dir etwas anderes anbieten? — Skian, einen Krug Süßmost und zwei Becher!“

Den letzten Satz hatte er in Richtung des hinter der Theke beschäftigten Wirts gerufen, der nur kurz in seine Richtung sah und etwas Unverständliches brummte, ehe er unermüdlich weiter hantierte.

„Komm, wir setzen uns auf eine Bank, wo dich nicht jeder beobachten kann.“

Kitja ergriff die angebotene Hand und hüpfte von ihrem Hocker auf den Fußboden. Dieser Gero war nett, entschied sie. Und ein Getränk mit ‚süß‘ im Namen klang auf jeden Fall verlockender als die bittere Enttäuschung, die sie mit dem Bier erlebt hatte. Sie folgte ihrem neuen Bekannten durch das Gewirr aus Tischen, Stühlen und Beinen in den hinteren Bereich des Raumes, wo er ihr unter die Arme griff, um sie auf eine Bank zu heben.

„Bin gleich wieder da.“

Kitja sah ihm nach, während er wieder zurück zur Bar ging. Dieser Gero bewegte sich überraschend geschickt für einen Menschen, dachte sie. Er war schlank und trotzdem stark — ohne die geringste Anstrengung hatte er sie eben hochgehoben — und schien deutlich jünger zu sein, als die anderen Anwesenden. Und er war attraktiv, entschied Kitja.

Mit einem Krug in der einen und zwei irdenen Bechern in der anderen Hand kam er zurück, setzte alles auf dem Tisch ab, schenkte ein und reichte ihr einen der Becher. Nach der ersten schlechten Erfahrung schnupperte Kitja argwöhnisch an der Flüssigkeit, die schäumend darin herumschwappte. Erfreut stellte sie fest, dass das Getränk angenehm nach Äpfeln roch. Behutsam nahm sie einen Schluck. Hm! Es war tatsächlich süß, schmeckte kräftig nach reifem Apfel, war aber auch ein wenig säuerlich, wenn sie es im Mund behielt, und kitzelte angenehm auf der Zunge und am Gaumen.

Genau das richtige, um ihren Durst zu löschen. Mit drei kräftigen Zügen leerte sie den Becher und streckte ihn Gero entgegen. Der zog zwar überrascht eine Augenbraue hoch, füllte ihn aber ein zweites Mal bis zum Rand, ohne etwas zu sagen.

„Woher kommst du, Kiddy?“, fragte Gero, als sie endlich den Becher wieder abgesetzt hatte.

Kitja überlegte, während er ihr wieder einschenkte, was sie ihm sagen sollte, und entschied sich, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Dass sie noch bei ihren Eltern wohnte, wollte sie aber nicht erwähnen, das würde sie ja wie ein kleines Kind erscheinen lassen. Also begann sie zu erzählen, dass sie Elenas Nachbarin war und mit ihr hierhergekommen war, um Schnitzereien zu verkaufen. Je öfter sie an dem süffigen Getränk nippte, um ihre Lippen zu befeuchten, umso flüssiger kamen ihre Worte.

Weitere Geschichten zum Thema

Gerne gelesene Kategorien

Wähle eine Erotik-Kategorie aus, die dich interessiert.