Mittwoch
Am Nachmittag des zweiten Tages war Vicky eine ganze Zeitlang verschwunden. Dann kam sie voller Elan ins Schlafzimmer. „Beweg deinen faulen Arsch und steh auf!“, fauchte sie mich an. „Und zieh dir was an; wir haben Besuch.“
Ich stöhnte auf und rollte mich aus dem Bett. Wer konnte das schon sein? Leute vom Revier wahrscheinlich, die uns wegen Bobs Verschwinden befragen wollten. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mir einen möglichst schäbigen Jogginganzug zusammen zu wünschen. Ich konnte fast den Ekel fühlen, den mein Kleid deswegen ausströmte.
An der Küchentür blieb ich erstarrt stehen und holte tief, tief Luft. Da war zum einen der Duft, der mich fast umhaute. Kaffee, Eier, Speck und frisches Brot. Ich hatte nicht gedacht, dass ich nach meiner kompletten Diätumstellung noch so positiv auf Essensduft reagieren würde.
Und da war auch die Gestalt am Ofen. Ein Mann, der eine Küchenschürze trug. Mein Bruder, der mir seine Liebe gestanden hatte, und den ich mehr oder weniger auf „später“ vertröstet hatte.
„Peter?“
Er drehte sich um und grinste mich breit an. „Ich hab‘ dir dein Lieblingsfrühstück gemacht.“
Ich ging langsam auf ihn zu, unsicher, wie er auf mich reagieren würde — Vicky hatte ihm sicher schon alles erzählt.
Doch er ließ alles fallen, was er in der Hand hielt und breitete die Arme aus. Ich ließ mich von ihm umarmen, fühlte die Wärme, die er ausstrahlte, fühlte mich geborgen.
„Also war es doch eine gute Idee“, meinte Vicky von der Seite.
Ich streckte eine Hand aus und zog sie in eine gemeinsame Umarmung. Für einen langen Moment dachte ich nicht an all die ernsten Probleme, sondern genoss die Nähe zweier Menschen, die ich liebte.
Irgendwann ließ ich los.
Peter wies auf den Tisch. „Setz dich hin. Ich bring dir dein Essen.“
Ich war immer noch sprachlos. Ich hatte viele Fragen, aber im Moment, wollte ich tatsächlich nur genießen. Vielleicht half es ja tatsächlich.
Der Kaffee, den Vicky mir einschenkte, roch traumhaft. Zuerst dachte ich, mein Geruchssinn hätte sich auch verändert, doch dann spürte ich ihre Anspannung. Ich hob die Tasse unter meine Nase und atmete tief ein. Nein, so einen Duft hatte ich noch nie erlebt. „Was habt ihr mit dem Kaffee gemacht?“
Vicky strahlte. „Gut, gelle? Das ist der angeblich beste Kaffee der Welt.“
Ich nahm einen kleinen Schluck. „O mein Gott“, entfuhr es mir. „Ist der guuut!“
„Dagegen kann ich mit meinen Eiern aber nicht anstinken“, kam es von Peter, der mir ein Tablett hinstellte.
„Quatsch“, meinte ich. „Die riechen auch himmlisch. Und der Speck! Und das Brot! Wahnsinn!“
Vicky blickte sehr selbstzufrieden zu Peter.
Ich nahm einen kleinen Bissen von den Eiern, ließ sie ganz langsam auf meiner Zunge zergehen, genoss alle Nuancen des Geschmacks, stöhnte auf wie im Orgasmus.
„Setzt euch hin“, sagte ich dann. „Ich nehme nur ein paar kleine Happen. Ihr könnt euch den Rest teilen.“
Ich nahm die Brotscheibe, tunkte sie in das flüssige Eigelb und kostete mit der Zungenspitze. „Einfach Klasse. Danke. Vielen, vielen Dank.“
„Ich habe Peter angerufen“, gab Vicky das Offensichtliche bekannt.
„Hmmm“, antwortete ich. Meine Zunge war mit einem Stückchen Bacon beschäftigt.
„Und Vicky hat mich auf den neuesten Stand gebracht.“
„Und er hat gefragt wie er helfen kann.“
„Und sie hat gemeint, wir müssten zuerst einmal dich aus deinem Selbstmitleid herausholen.“
„Und ich habe—“
„Stopp!“, brüllte ich lachend. „Danke. Danke. Danke.“ Dann wurde ich ernst. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich so etwas einmal sagen würde: Ich liebe euch alle beide.“
„Also mich wundert das überhaupt nicht“, meinte Vicky.
Peter nickte zustimmend. „Du magst ja selbst kein Engel sein —“ Ich verzog das Gesicht, und er grinste. „— aber du hast all die guten Eigenschaften, die man gemeinhin Engeln zuschreibt. Ich habe lange genug mit dir zusammengelebt, um das beurteilen zu können.“
„Robert liebt dich übrigens auch“, mischte sich Vicky ein. „Schon sehr lange.“
Ich spürte wie bewusst sie die Gegenwart benutzte, um jeden Gedanken daran zu verdrängen, dass Bob entweder tot war oder Gefangener eines Dämonenfürsten.
„Wie das? Hat er es dir erzählt?“
„Das brauchte er nicht. Die Art und Weise wie er von dir redet …“ Sie zuckte die Schultern. „Spätestens, seitdem du ihm damals den Arsch gerettet hast. Er wollte dir danken, doch du hast überhaupt nicht verstanden wieso.“ Sie holte tief Luft. „Weil es dir nie in den Sinn kommen würde, dein Wohlergehen über das der anderen zu stellen. Weil du überhaupt nicht nachdenkst, bevor du anderen hilfst.“ Ihre Stimme wurde leise. „Oder ihnen ihren Lebenswunsch erfüllst, und dabei auf deine eigene Befriedigung verzichtest.“
Meine Augen wurden groß. „Du weißt es?“
Sie nickte nur.
„Er hat es dir erzählt?“
„Nein, ich wusste das schon am nächsten Morgen.“
„Wovon redet ihr zwei?“, fragte Peter.
„Deine Schwester Schrägstrich zukünftige Geliebte hat dafür gesorgt, dass ich schwanger bin.“
Peters Stirn runzelte sich ganz gewaltig. Seltsame Bilder tauchten in seinem Geist auf.
Ich lachte auf. „Nee, nee! Bob hat schon seinen natürlichen Anteil dran. Ich habe mich nur als — äh — Automechaniker betätigt.“
Worauf mir Vicky in die Seite boxte. Hart.
„Aua“, meinte ich. „Ist das jetzt der Dank?“
Nur Zehntelsekunden später saß Vicky auf meinem Schoß und drückte mich. „Den kriegst du bei Gelegenheit“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Sobald Bob wieder bei uns ist.“
„O-kay“, meinte Peter. „Aber abgesehen davon: Ich kann deine Argumentation von wegen ‚verdorbener Seele‘ überhaupt nicht nachvollziehen.“
„Sex mit Dämonen?“
„Das Alte Testament zählt doch nicht. Ich erinnere mich noch gut an meinen Religionsunterricht. ‚Ich aber sage euch …‘ Das Gesetz der Christen geht auf Intention. Hast du mit diesen Typen etwa geschlafen, um dem Bösen in der Welt Vorschub zu leisten?“
„Natürlich nicht!“
„Sagt die Engelstochter, nicht die Dämonenbrut. Was zu beweisen war.“
„Unzucht mit einer Frau, Ehebruch?“
„Die Bibel redet immer nur von Sex unter Männern. Es ist kein Ehebruch, wenn alle zustimmen. Nein und nein.“
„Inzest?“
„Sagte er nicht selbst, dass er nicht dein genetischer Vater ist? Ansonsten wusstest du das doch überhaupt nicht.“
„Hört jetzt auf!“, mischte sich Vicky in unsere immer heftiger geführte Debatte ein. „Es geht doch nur darum, ob du etwas Böses getan hast. Hast du einen Menschen getötet? Hast du einem Menschen willentlich geschadet?“
„Mit Ausnahme von Wanders? Nein.“
„Der zählt überhaupt nicht. Das war nur eine verdiente — mehr als verdiente — Strafe.“
„Und dagegen stehen Lebensrettung und Heilung.“
Ich verstummte. Ich hätte gar nicht erst anfangen sollen.
„Dieser Dämonenfürst hat keinerlei Macht über dich. Punkt.“ Vicky sah nun wieder sehr selbstzufrieden aus.
Ich drückte sie an mich. „Danke. Für alles.“
Sie gähnte. „Um Himmels willen! Ist das schon so spät?“
„Du hast recht“, meinte Peter. „Ich mache mich besser auf.“
„Nichts da!“, sagte Vicky mit fester Stimme. „Du schläfst bei uns. Und das Schlafen meine ich wortwörtlich. Ein Bett. Kein Sex.“
*
Es gab dann noch einen kleinen Aufruhr, als Vicky darauf bestand, dass auch Peter sich an die Kleiderordnung hielt, und sich komplett auszog.
Ich konnte ihm sehr gut nachfühlen, wie es war mit zwei nackten Frauen — mit genau diesen zwei nackten Frauen — im Bett zu liegen. Vor allem, weil Vicky ihn in die Löffelchenposition hinter mich manövriert hatte.
Nein, ich machte die ganze Nacht kein Auge zu. Selbst mit der kleinsten Bewegung merkte ich seine Erektion an meinem Hintern. Immer mal wieder streichelte seine Hand im Schlaf meine Brüste. Dazwischen zuckte Vicky, die vor mir lag, so lange im Schlaf, bis ich ihr wieder eine Portion Heilenergie schickte.
Statt zu schlafen genoss ich die Gefühle, die meine beiden im Schlaf von sich gaben. Zufriedenheit und Wärme, kein Gedanke an die kalte und böse Realität.
*
Donnerstag
Am nächsten Morgen begleitete ich Peter bis an die Haustür. Wir sprachen nicht viel, und umarmten uns zum Abschied. Ich blickte ihm noch nach, bis er in sein Auto gestiegen war, das ein paar Häuser weiter parkte, und wandte mich ab.
In dem Moment quietschten Reifen und ein Motor heulte auf.
Ich drehte mich wieder um. Ein weißer Lieferwagen hatte direkt neben Peters Auto gehalten, und mehrere riesige Gestalten waren dabei ihn in den Laderaum zu zerren.
Ich schrie auf und rannte los, doch noch bevor ich die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, raste der Lieferwagen davon. Ich sah gerade noch einen Glatzkopf die Hecktür schließen.
Ich drehte um ohne stehenzubleiben, rannte ins Haus zurück, in die Garage und schwang mich auf meine Maschine. Ich wäre beinahe durch das geschlossene Garagentor gerast.
Hinaus auf die Straße, links ab und in die Richtung, wo der Lieferwagen verschwunden war. Vollgas, keine Rücksicht auf Verkehrsregeln. Peter —
An der nächsten Kreuzung hielt ich an. Keine Spur von dem Lieferwagen, aber ein Bauchgefühl hieß mich links abbiegen. Raus aus der Stadt, über die Bundesstraße, wo wir Bobs Auto gefunden hatten. Ich fuhr langsamer, versuchte mit all meinen neuen Sinnen herauszufinden, in welche Richtung sie verschwunden waren.
Eine Seitenstraße, Richtung Schwarzbach. Zwanzig Kilometer bis zur Teufelshöhle. Irgendwie passte das. Ich drehte wieder auf, legte mich flach auf meine Maschine, alle Sinne angespannt. Die hatten doch nicht so viel Vorsprung, und ein Lieferwagen …
Beinahe hätte ich mich überschlagen. Aus den Augenwinkeln sah ich einen weißen Fleck auf einem Waldweg und ging voll in die Eisen. Mein Bike schlingerte über die Straße und kam schließlich einen Meter von einem Baum entfernt zum Stehen.
Ich sprang ab, verfluchte mich, dass ich meine Pistole nicht dabeihatte, und bereitete die einzige Waffe vor, die mir blieb. Wenn ich die Kerle schon nicht abknallen konnte, die Peter entführt hatten, sollten sie sich in Orgasmuszuckungen winden.
Ich sprintete auf den weißen Lieferwagen zu, rannte an seiner Rückseite, riss die Tür auf — und erstarrte.
Vier große Männer mit rot brennenden Augen blickten mich an, doch mein Blick galt Peter, der auf dem Bauch lag und dessen Kopf von einem der Dämonen hochgehalten wurde, während ein anderer eine Art Machete unter seinen Hals hielt.
Sie sprachen kein Wort; das war auch nicht nötig, weil mir mit einem Schlag klar wurde, dass jeder Angriff von meiner Seite meinen Bruder umbringen würde.
Die zwei anderen Dämonen stiegen aus, einer von ihnen wand eine stählerne Kette um meine kraftlosen Arme, der andere zog mir eine Art Kapuze über den Kopf, die fürchterlich stank.
Im nächsten Moment wurde alles um mich herum dunkel.
*