Dies ist die Fortsetzung der Geschichte „Ein Fotoshooting auf Sylt“.

Sonntag

Die Morgensonne schlug mir ins Gesicht, als ich aus dem kühlen Flur unseres Wohnhauses in der Hamburger Innenstadt trat. Es war ein heißer Sonntag im August und schon spürbar über 25 Grad.

Wir waren schon spät dran, als wir die Treppe runter rannten und auf die Straße kamen, wo mein zitronengelbes BMW-Cabrio am Bordstein geparkt war. Um genau zu sein, war es 6.49 Uhr, und ich hatte meinem Ex Andreas versprochen, um acht Uhr unsere bald sechsjährige Tochter Miranda am Yachthafen von Travemünde abzuliefern. Ich war erst kurz nach halb sieben aufgewacht, nachdem ich eine Stunde zuvor den Alarm meines Telefons ausgeschaltet hatte. Ich stellte fest, dass die dringend benötigte Dusche zeitbedingt ausfallen musste. Ich weckte Miranda schnell, zog sie an und gab ihr eine von den Müsliriegeln, die sie so mag. Ich weiß, nicht das gesündeste Frühstück, aber eben das schnellste. Und bei Miranda äußerst beliebt.

In 70 Minuten von der Hamburger Innenstadt nach Travemünde zu fahren könnte hinhauen, falls es absolut keine Bauarbeiten oder sonstige Verzögerungen gibt. Ich stand hinter dem Auto in meinen blauen, abgeschnittenen Jeans, meinem braunen St. Pauli-Hoodie und meinen abgenutzten Flip-Flops mit den Resten von abgesplittertem neongrünem Lack an den Zehennägeln hinter dem Auto und warf die eiligst gepackten Taschen in den Kofferraum. Dann hörte ich Mirandas laute, unschuldige Stimme hinter mir:

„Mami! Das Rad sieht komisch aus!“

Ich schaute auf das linke Vorderrad meines geliebten BMW, das ausgerechnet jetzt einen Platten hatte.

„Scheiße!“ schrie ich und stampfte mit meinem rechten Flip-Flop so heftig aufs Kopfsteinpflaster, dass er zwei Meter weit flog.

„Wir werden es nicht rechtzeitig schaffen, Liebling. Ich muss anrufen und ihm sagen, dass wir zu spät kommen,“ sagte ich und versuchte gleichzeitig mit den Zehen mein Flip-Flop einzufangen.

„Wird Papi jetzt sauer?“ fragte Miranda und klang aufrichtig besorgt.

„Nein, Schätzchen. Er wird’s verstehen,“ log ich. Aus meiner Ehe kannte ich Andreas gut genug, um zu wissen, dass er der Typ Mensch ist, der außerordentlich großen Wert auf Pünktlichkeit legt, wenn es darum geht mit seiner Tochter und seiner neuen Freundin (zehn Jahre jünger als ich) den Hafen rechtzeitig zu verlassen.

In der Tasche meines Hoodies fand ich die hellblaue Schachtel mit meinen letzten beiden Camels und zündete mir eine an. Dann, hektisch den Rauch inhalierend und wieder auspustend, überlegte ich unsere Möglichkeiten, und was ich Andreas sagen sollte. Mein erster Gedanke war das Rad schnellstmöglich zu wechseln. Eine Bahnfahrt nach Travemünde würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen.

Und natürlich wäre es ein Leichtes für mich das Rad zu wechseln. Jedenfalls hatte ich hatte es einmal vor Jahren gemacht. Im Laufe meiner Ehe mit Andreas hatten wir zwei Reifenpannen, und bei den beiden Gelegenheiten überließ ich dankbar meinem Mann die Leitung der notwendigen Maßnahmen. Ich war also ehrlich gesagt etwas aus der Übung.

Ich suchte im Handschuhfach nach der Betriebsanleitung — das originale Heft aus den 1970er Jahren, als mein Oldtimer das Werk in Bayern verließ — und hörte dann hinter mir eine Männerstimme.

„Ihr habt wohl einen Platten,“ sagte die Stimme.

Ich drehte mich um und stellte fest, dass die tiefe Männerstimme einem athletischen Jüngling gehörte, der aussah, als hätte er sein Abitur noch nicht hinter sich. Er trug ein schwarzes Lauftrikot, enge Shorts und Nike-Schuhe. Und schien mir äußerst attraktiv mit seinen harmonischen Gesichtszügen und dem lockigen blonden Haar.

„Ja. Danke für die Information!“ sagte ich viel zu unfreundlich und nahm noch einen gierigen Zug aus meiner Zigarette.

Aber mein rauer Ton schreckte ihn nicht ab.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er höflich.

„Erstens kannst du mich ruhig duzen. Oder sehe etwa ich so alt aus, dass du mich auch noch siezen musst? Zweitens müssen wir in einer Stunde an der Marina in Travemünde sein. Ich weiß nicht, ob du in einer Minute so’n Rad wechseln kannst,“ entfuhr es mir, während ich mit jedem Wort wütend eine kleine Qualmwolke ausstieß.

„Oh. Ihr macht einen Segeltörn beim schönen Wetter?“ fragte er.

„Nein, nur sie. Ich liefere nur meine Tochter bei meinem Ex-Mann und seiner neuen Freundin ab.“

„Du sollst nicht ’sie‘ über mich sagen, wenn ich es hören kann, Mami!“ korrigierte mich Miranda und trat einen Schritt vor, um sich vorzustellen.

„Ich bin Miranda,“ sagte sie und begrüßte den jungen Mann mit einem Corona-Ellenbogen.

„Ich bin Lothar,“ nickte er freundlich lächelnd zurück und erwiderte die Geste.

„Und ich bin Sara.“

Ich lächelte den jungen Mann zum ersten Mal an und beendete ohne Ellenbogenritual die Vorstellungsrunde.

„Und wir haben es wie gesagt ganz eilig. Es wäre also super, wenn du uns mit dem Rad hier helfen würdest.“

„Sehr gerne. Aber ihr werdet es auf keinen Fall in einer Stunde nach Travemünde schaffen.“

„Dann kommen wir eben zu spät.“

„Es gibt aber noch’ne Möglichkeit.“

„Und die wäre?“

Ich inhalierte ungeduldig den Rauch meiner Zigarette.

„Ich könnte euch fahren. Ich hab ein Auto.“

„Was? Hier?“

„Gleich die Straße runter.“

Er machte eine Handbewegung entlang der jetzt gerade menschenleeren aber normalerweise belebten Straße im Herzen von St. Georg, wo ich die Wohnung meiner übernommen hatte, als sie mitten in meiner Scheidung verstarb. Kurz dachte ich über die Virusgefahr nach. Dann sah ich meinen ungeduldigen Ex Andreas vor mir und nahm dankbar das Angebot an.

„Vielen, vielen Dank… ich werde dir natürlich bezahlen.“

„Nicht nötig. Ich hab heut Morgen sowieso nix Besseres zu tun.“

„Ich nehm schnell die Taschen aus dem Kofferraum.“

Ich steckte mir die Zigarette zwischen die Lippen und holte unsere Taschen. Als ich meinen BMW abschloss, nahm Lothar unsere Taschen und trug sie zu seinem Auto. Miranda lächelte und nahm meine Hand, als wir in Lothars Fußstapfen hinterherliefen.

Er führte uns zu einem dunkelgrünen, etwas abgenutzten Opel Astra aus den 1990er Jahren, der riskant vor einer Einfahrt geparkt war.

„Wohnst du in Stade?“ fragte ich und zeigte auf das STD-Nummernschild.

„Ich komm von dort. Aber ich wohne jetzt hier in Hamburg.“

„Dann musst du dein Auto ummelden,“ sagte ich in einem Ton, der herablassender klang, als ich es wollte.

„Ich weiß. Ich hab das Auto diese Woche von meinen Eltern übernommen.“

Ich drückte meine Zigarette aus und warf sie in einen Mülleimer. In dem Moment wurde mir klar, dass ich jetzt nur noch eine einzige Zigarette übrig hatte.

Ich half Miranda auf den Rücksitz des bemerkenswert gründlich staubgesaugten alten Opels und setzte mich auf den Vordersitz neben Lothar. Er fragte mich nach unserem genauen Ziel, und programmierte sein Navi.

„Weißt du… das ist so nett von dir. Vielen Dank, dass du uns mitnimmst!“ sagte ich überschwänglich, als er den Schlüssel drehte.

„Gern geschehen! Es tut mir leid, dass ihr in diesem Schrotthaufen fahren musst und nicht in eurem Cabrio. Aber das ist das Beste, was ich bieten kann.“

„Wir sind einfach so dankbar für deine Hilfe. Nicht wahr, Miranda?“

„Ja, Mami. Glaubst du, dass wir pünktlich da sind?“ fragte meine Tochter vom Rücksitz aus. Ich schaute auf mein Handy und versuchte mir eine überzeugende Antwort auszudenken.

„Wenn wir Glück haben,“ mischte sich Lothar ein, bevor ich zu Wort kam.

„Es ist ein sehr schönes Auto, dein BMW.“

„Als kleines Dankeschön lade ich dich zu einer Spritztour ein, wenn der Reifen wieder in Ordnung ist. Du kannst auch fahren, wenn du möchtest,“ bot ich an.

„Oh ja. Geil. Ist aber bestimmt nicht billig so ein Oldtimer. Sieht ja wie neu aus. Was hat er dir den gekostet, wenn ich fragen darf?“

„Ich hab ihn vor ein paar Monaten geerbt.“

„Von deinen Eltern?“

„Nee. Von einem… ehemaligen… Arbeitgeber.“

„Oh. Er muss deine Arbeit geschätzt haben.“

„Hat er wohl auch.“

„Was war das für eine Arbeit?“

„Nun… ich arbeitete als Model. Für eine sehr kurze Zeit. Vor vielen Jahren.“

„Das überrascht mich aber gar nicht.“

„Welcher Teil? Die kurze Zeit? Oder die vielen Jahre?“

„Dass du ein Model warst! Du siehst aus wie eins!“

Ich nahm das Kompliment zu mir, und wir schwiegen eine Weile, als Lothar seinen alten Astra durch die engen Gassen der Hamburger Innenstadt manövrierte. Ich schaute hinter mich und bemerkte, dass Miranda strahlte, voller Erwartung auf ihren Segeltörn, zuversichtlich, dass wir es rechtzeitig schaffen würden, und dass ihr nicht wütend sein würde.

„Du kannst gerne in meinem Auto rauchen,“ sagte Lothar, als wir auf eine breitere Straße fuhren.

„Danke. Aber nicht mit meiner Tochter im Auto. Wir haben eine Vereinbarung, dass ich beim Autofahren nicht rauche.“

„Das ist gelogen, Mami. Du rauchst die ganze Zeit, wenn wir in unserem BMW sitzen,“ korrigierte mich meine Tochter in ihrer freundlichen Art.

„Ja,“ musste ich dann zugeben. „Wenn das Verdeck runter ist. Aber das ist dann unter freiem Himmel. Als wir mit dem alten Auto gefahren sind, mit dem VW von Papi, hab ich nie geraucht. Stimmt’s, Schätzchen?“

Miranda hat weder bestätigt noch dementiert, sondern redete in Lothars Richtung weiter:

„Mami sagt, dass ich rauchen darf, wenn ich groß bin.“

„Sagt sie das?“ fragte Lothar. „Und hast du vor mit dem Rauchen anfangen, Miranda?“

„Ich glaube schon,“ antwortete Miranda nachdenklich nach einer kurzen Pause.

Hier musste ich mich einmischen:

„Also, ich hab wirklich nicht gesagt, dass du rauchen darfst, wenn du groß bist. Was ich sagte war, dass du nicht rauchen darfst, solange du ein Kind bist, und dass du nie mit dem Rauchen anfangen solltest, Schätzchen. Rauchen ist sehr schlecht für dich.“

„Aber du rauchst die ganze Zeit. Und du findest es ganz toll.“

„Wer sagt das?“

„Papi hat es mir erzählt.“

Damit war diese Diskussion beendet. Ich wollte nicht hinterfragen, was mein Ex ihr möglicherweise erzählt hatte. Sie plauderte weiter:

„Warum hörst du nicht auf zu rauchen, wenn es so schlimm für dich ist, Mami?“

„Ich kann nicht einfach aufhören. Ich bin süchtig, Miranda.“

„Was bedeutet ’süchtig‘?“

„Es bedeutet… dass ich wirklich jeden Tag viele Zigaretten rauchen möchte.“

„Also ist es wahr, was Papi gesagt hat?“

„Das nehme ich an… aber ich weiß ja nicht genau was er gesagt hat.“

„Er hat mir gesagt, dass du sehr gerne rauchst.“

„Ja. Aber ich möchte auch wirklich gerne aufhören, weil das Rauchen ganz schlecht für mich ist.“

Eine weitere Gesprächspause. Dann fragte Miranda:

„Mami, was ist, wenn ich jeden Tag viele Zigaretten rauchen möchte, wenn ich groß bin?“

„Aber Schätzchen … das wirst du nicht wollen.“

„Woher weißt du das?“

„Wenn du nicht anfängst zu rauchen, wirst du auch nicht süchtig, und dann willst du gar nicht rauchen.“

„Aber wenn ich groß bin, kann ich selber entscheiden, ob ich rauchen möchte.“

„Ja, aber…“

Lothar unterbrach mich:

„Wie war’s bei dir? Wann hast du mit Rauchen angefangen, Sara? Warst du erwachsen?“

„Kann man so sagen. Ich war 19,“ informierte ich ihn, obwohl ich dieses Gespräch völlig unnötig fand.

„Wirklich???“

„Was meinst du: ‚Wirklich‘? Ist das so überraschend?“

„Nun… es ist spät. Die meisten Raucher fangen mit 13, 14, 15 an…“

„Du bist nicht erwachsen, bis du 18 bist. Und 19 ist älter als 18,“ warf meine Tochter vom Rücksitz ein.

„Stimmt, Schätzchen. Was du alles weißt!“ lobte ich, in der Hoffnung, vom Thema Rauchen abzulenken. Aber Lothar brachte das Gespräch wieder auf Kurs:

„Was in aller Welt hat dich dazu gebracht, mit 19 mit Rauchen anzufangen?“

„Oh… das ist eine lange Geschichte,“ begann ich und versuchte ihm mit meinem Gesichtsausdruck zu signalisieren, dass ich vor meiner Tochter nicht darüber sprechen wollte. „Könnten wir das vielleicht auf der Rückfahrt nach Hamburg besprechen?“

„Klar,“ willigte Lothar ein.

Ich lächelte ihm zu, und wir verbrachten die nächsten paar Minuten schweigend.

Dann fing Lothar an, Miranda über ihre Interessen, ihre Einschulung später im August und den Segeltörn mit ihrem auszufragen. Er schien gut mit Kindern zurechtzukommen.

„Oh. Du hast mir gar nicht gesagt, wie alt du bist, Miranda.“

„Am 27. August werde ich sechs.“

Sie hielt sechs Finger in die Luft.

„Oh! Herzlichen Glückwunsch!“

„Danke! Wie alt bist du?“ stellte Miranda die Gegenfrage.

„Rate mal!“

Miranda dachte einen Moment nach.

„35!“ sagte sie mit tiefer Überzeugung. Mein Alter.

„Nein. Ich bin noch viel jünger. Ich bin erst 21.“

„Dann ist meine Mami … warte… 14 Jahre älter als du.“

Ich könnte Lothars sein. Rein technisch.

„Sie ist gut in Mathe,“ sagte Lothar anerkennend in meine Richtung. „Und du siehst nicht wie 35 aus.“

„Das haben einige sehr höfliche Leute auch schon gesagt.“

Ich grinste ihn an.

„Nein. Ehrlich, Sara! Ich meine es ernst!“

„Okay. Danke!“

„Was macht deine Mami, wenn sie kein Model ist?“ fragte Lothar Miranda.

„Mami ist gar kein Model. Sie macht kranke Menschen gesund.“

Ich hatte das Bedürfnis, das Gespräch zu übernehmen und Lothars sehr geschicktes Interview zu unterbrechen.

„Ich bin Krankenpflegerin am UKE. Im Tumorzentrum. Und ich fürchte, ich kann nicht alle unsere Patienten heilen. Aber ich versuche, ihnen zu helfen.“

Trotz der offenen Fenster war es im Wagen sehr heiß, und ich war schon von Schweiß durchnässt. Es würde ein weiterer heißer Tag mit schwüler Luft werden. Unter meinem braunen FC St. Pauli-Hoodie mit dem gruseligen Totenkopf-Logo an der Vorderseite trug ich lediglich ein ärmelloses Top mit tiefem Ausschnitt. Da ich den BH in der morgendlichen Hektik ausgelassen hatte, würde mein Top ohne den Hoodie alle Möglichkeiten offenlassen, in mein stark tätowiertes Dekolleté zu schauen, und meine bunten Titten von den Seiten durch die weiten Armlöcher zu bewundern. Ich hatte die Fahrt in den kühlen und windigen Morgenstunden am Steuer eines offenen Autos geplant, und hier saß ich jetzt, schweißgebadet in dieser Schrottkiste mit festem Dach, ohne Klimaanlage, mit einem viel zu warmen Hoodie, den ich nicht ausziehen wollte, weil der Jüngling neben mir es sich wahrscheinlich nicht verkneifen würde meine auffälligen Tattoos zu kommentieren.

Aber dann tat er genau das, als ich das Hoodie noch anhatte.

„Ich mag deine Tattoos wirklich,“ sagte Lothar und bezog sich dabei auf die Tattoos von Fischen, Walen, Schaltieren und sonstigen Meeresfrüchten, die meine Beine bis zu den Zehenspitzen vollständig bedecken.

„Danke,“ erwiderte ich höflich, ohne eigentlich an diesem frühen Sonntagmorgen das Bedürfnis zu spüren mit einem Fremden über meine maritime Körperkunst zu diskutieren.

„Was ist mit deinen Patienten? Die haben bestimmt viele Meinungen zu deinen Tattoos?“

„Du hast vielleicht nicht bemerkt,“ sagte ich mit einem freundlichen Lächeln, das als entschiedene Zurückweisung gedacht war, „dass Krankenschwestern nur in Pornofilmen extrem kurze, aufgeknöpfte Kittel, Push-up-Spitzen-BHs, High Heels und Netzstrümpfe tragen und dabei bereitwillig die Beine spreizen. Ich persönlich trage auf Arbeit neben meinem Kittel oder T-Shirt lange Hosen, Socken und Clogs, die sehr unsexy sind. Und meine Unterarme sind komplett untätowiert. Meine Patienten bekommen meine Tattoos also überhaupt nicht zu sehen. Sie gehören ausschließlich in meine Privatsphäre.“

Er schwieg eine Weile. Vielleicht hatte er meine Message verstanden: Dass ich keine Lust hatte, über meine Tattoos zu sprechen. In der Situation. Mit ihm. Vor meiner Tochter.

Aber er fragte dann unbeirrt weiter:

„Was ist mit den süßen kleinen Sternen unter deinem rechten Ohr?“

Dieser Typ kriegte scheinbar jedes Detail mit. Die beiden Sternchen sind mein allererstes Tattoo aus meiner Gymnasienzeit. Sie sind meistens unter meinen Haaren versteckt. Eigentlich müsste das auch jetzt der Fall sein. Und mein rechtes Ohr war von ihm doch abgewandt.

„Eigentlich bemerken sie die wenigsten. Aber weil du so besessen von meinen Tattoos bist, kann ich dir gleich die anderen zeigen und erläutern.“

Ich beschloss in die Offensive zu gehen und schnallte kurz den Sicherheitsgurt ab, um den warmen Hoodie auszuziehen. Dann nahm ich die Stimme einer routinierten Reiseführerin an:

„Hier auf meiner linken Schulter siehst du das Wappen von meinem Heimathafen, Hamburg: die Burg mit den drei Türmen. Auf meiner rechten Schulter, die leider momentan von dir abgewandt ist, findest du das Logo des FC St. Pauli. Auf meinem Rücken sind die Worte Hamburger Deern ganz groß in Schreibschrift zu sehen. Darunter befindet sich ein großer Anker. Weiter unten rechts sind John, Paul, George und Ringo in ihrem bunten Yellow Submarine wegen ihrer Rolle in der Geschichte Hamburgs tätowiert. Über meinen Rücken und bis runter zum Arsch sind Leuchttürme aus dem Hamburger Umland verstreut. Insgesamt kann man also sagen, dass mein Rücken einem Hamburger Thema gewidmet ist.“

„Sehr beeindruckend,“ meinte Lothar und wirkte schließlich ein wenig verlegen.

Ich trieb es noch weiter:

„Ich bin doch gar nicht fertig. Vielleicht hast du dich über die Tentakel gewundert, die sich von vorne über meine Schultern bis auf den Rücken erstrecken?“

„Ähhh… nein?“

„Was man im Moment wegen dem Top nur teilweise sehen kann, ist, dass meine beiden Brüste als die Körper zweier Tintenfische tätowiert sind, und dass sich ihre Tentakel, die sich teilweise bis hinunter zu meiner Vagina und auf meinen Rücken erstrecken, ineinander verknotet sind. Mein Tätowierer hat hier versucht eine Kampfszene darzustellen.“

„Wirklich?“

„Ja. Hier siehst du einen Tentakel.“

Ich zeigte auf meine Schulter, und Lothar konnte seinen Blick nicht von meinem Tintenfisch-Tattoo losreißen.

Ich musste ihn aus seiner Trance holen:

„Achtung! Du fährst Auto!“

Miranda unterbrach von hinten das Gespräch:

„Mami, was ist ein ‚Tentakel‘?“

„Es sind die Arme vom Tintenfisch. Ich hab dir doch meine Tattoos gezeigt.“

„Kann ich sie jetzt sehen?“

„Du kannst den Tentakel hier auf meiner Schulter sehen. Den Rest zeige ich dir ein anderes Mal.“

„Okay. Und was ist eine ‚Vagina‘?“

Diese Frage hätte ich vorhersehen müssen.

„Das ist das Loch, das Frauen und Mädchen zwischen ihren Beinen haben, Schätzchen.“

„Das Pullerloch?“

„Nein. Nicht das Pullerloch. Ein anderes Loch.“

Erfreulicherweise schien Miranda mit dieser Erklärung zufrieden zu sein. Und selbst Lothar schwieg eine Weile.

Natürlich wurde kurz vor Lübeck die A1 gebaut. Ich musste Andreas simsen, dass wir etwas zu spät kommen würden. Ich beendete meine SMS sicherheitshalber mit einem Smiley.

Andreas erwiderte mit einem knappen „Okay“ ohne Smiley. Wohl um zu signalisieren, dass es überhaupt nicht okay war.

Als wir endlich am Yachthafen ankamen, hielt Andreas mit dem Smartphone in der Hand nach meinem leicht erkennbaren BMW Ausschau. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass wir aus dem alten Astra ausgestiegen waren und nun in einer Dreierkette Händchen haltend auf ihn zukamen, Miranda in der Mitte und Lothar und ich an den Seiten, jeweils eine Tasche tragend. Es war 8:34 Uhr.

Miranda ließ unsere Hände los, rannte zu ihrem Vater und umarmte ihn.

Lothar und ich näherten uns und stellten die Taschen ab.

„Es tut mir so leid, Andreas. Wir hatten eine Reifenpanne.“

„Wir müssen los. Hier wird es gleich stark regnen. Den Regen hätten wir meiden können, wenn wir gleich um acht losgefahren wären. Weiter nördlich ist das Wetter schön.“

Andreas machte eine Kopfbewegung in Lothars Richtung.

„Hallo,“ sagte Lothar freundlich und nickte.

„Das ist unser neuer Lothar,“ erklärte Miranda.

„Hast du einen neuen Freund?“ fragte mich Andreas. Auch nach zwei Jahren als Geschiedener zeigte er immer noch ein völlig unangemessenes Interesse an meinem Privatleben.

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