Prolog

Schreie erfüllten die Luft, Schreie der Verzweiflung. Sie lief geduckt durch das Unterholz, die Sinne bis ans Äußerste gespannt, das einzige Ziel war zu entkommen. Gerade noch rechtzeitig duckte sie sich unter einem Pfeil hinweg, wenig später hörte sie den schmerzerfüllten Schrei von jemandem, der die letzten Atemzüge seines Lebens spürt.

„Lauf!“, hatte man sie angeschrien. Doch sie war nicht gelaufen. Sie war geblieben, nur um keine drei Herzschläge später mit dem Blut der Heilerin bedeckt zu sein, als sie reflexartig ihren fallenden Körper auffangen wollte. Die Welt erschien ihr wie durch einen roten Schleier, wie von Sinnen hatte sie mehrere Pfeile auf einmal in die Richtung geschossen, aus der der tödliche Pfeil gekommen war.

Sie hatte sich zu ihr gekniet, hatte ihren leblosen Körper ein Stück hochgehoben, sie angefleht, sie dürfe nicht sterben. Der Heilerin lief Blut aus dem Mund, als ein kurzes Röcheln zu hören war, dann hatte sie mit ansehen müssen, wie das Leben aus ihr verschwand.

Ihre Augen waren leer geworden, den glasigen Blick des Todes würde sie für immer in Erinnerung behalten. Sie hatte die Augen der Heilerin Augen geschlossen, es erschien ihr richtig, es war das Letzte, was sie ihr geben konnte. Ihre Arme wurden kraftlos, sodass sie nicht länger imstande war, den leblosen Körper zu halten, und ihn auf den kalten Boden rutschten ließ.

Erst jetzt erinnerte sie sich wieder an die letzten Worte, eigentlich war es nur ein einziges gewesen. Ohne weiter zu überlegen war sie losgerannt, immer weiter fort, begleitet vom Geräusch des Todes. Auf ihrem Weg hatte sie Rigrana, ihre Stammesführerin, gesehen, sie war die einzige, die noch lebte, der Rest von ihrem Stamm war bereits gefallen. Nie zuvor jedoch, war jemand in ihren Armen gestorben.

Dies war nicht ihr Krieg, warum führten sie ihn? Es war ihr Land gewesen, über Jahrzehnte hinweg war es ein ungeschriebenes Abkommen gewesen. Nun wurde ihr Land vernichtet und die Waldläuferinnen schienen wie vergessen. Für beide Parteien waren sie Feinde, obwohl sie nie etwas getan hatten. Als sie anfingen, ihr Land zu verteidigen, war dieser Anlass genug, ihren Stamm auszulöschen.

Sie war zu der Stammesführerin gelaufen, auf dem Weg dorthin tauchte auf einmal ein Soldat neben ihr auf. Sie selbst hatte sich vor seinem wuchtigen Schlag geduckt und ihn mit einem Pfeil, den sie in der Hand hielt erstochen, Rigrana jedoch konnte sich gegen zwei weitere nicht mehr wehren. Ihre Sicht war vor Wut verschwommen, das nächste Bild, was sie in Erinnerung behalten hatte war eine nicht mehr zu identifizierende Leiche.

In einem Rausch war sie auf die beiden Mörder zugestürmt, bereit nun auch ihren eigenen Tod zu empfangen. Wie sie es geschaffte hatte, sie beide zu töten wusste sie nicht mehr, nun lief sie hier durch den Wald, sie war die letzte Verbliebene.

Als Allererstes war da das scheinbar alles überschattende Gefühl der Wut und der unbändige Wunsch nach Rache. Sie würden jeden dieser Mörder zur Rechenschaft ziehen. Das zweite war wesentlich tiefer verankert, und breitete sich wie ein schwarzes Loch in ihrem Inneren aus. Es war Einsamkeit, sie spürte, dass sie ab hier vollkommen alleine war. Es gab niemanden mehr.

Je weiter sie lief, desto mehr übernahm das zweite Gefühl ihr Wesen und verzehrte die Wut. Gegen eine solch Übermacht an Feinden hatte sie nicht den Hauch einer Chance, sie konnte nichts weiter tun, als den Tod von allem ihr Bekannten zu akzeptieren. Nur ihr Bogen hatte den Kampf unbeschadet überstanden, er war das einzige, was ihr geblieben war.

Überleben war kein Segen und erst recht keine Gnade. Eine einzige Szene aus ihrer Erinnerung drängte sich geradezu aufdringlich in den Vordergrund: Eine Frau hatte aus Habgier einen Teil der Stammesschätze an einen fahrenden Händler verkauft, das Urteil über sie war Verbannung. Ihre Worte hallten unaufhörlich in ihrem Kopf nach: „Ha, Verbannung? Seid gnädiger, sagt Tod!“

Damals hatte sie sich gefragt, wie man das eigene Leben verabscheuen konnte und warum diese Frau ihr gewünschtes Urteil nicht selbst vollstreckte. Nun wusste sie es. Ob Verbannung oder nicht, es bedeutete Einsamkeit und vor allem Schuld, die so schwer wog, dass man weder mit ihr leben noch sterben wollte. Ein einfaches Todesurteil hingegen beendete eine ansonsten lebenslange Qual. Gewissermaßen war auch sie eine Ausgestoßene, beinahe noch schlimmer.

Was würde die Zeit bringen? Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich allein, eine scheinbar tonnenschwere Last ließ sie zu Boden sinken. Eine tiefe Sehnsucht entstand, die Sehnsucht, diese Qual nicht alleine tragen zu müssen. Doch wer würde sie schon verstehen?

I.

Die Taverne war voll und der Geruch von schlechtem Bier hing in der Luft. Ohne auf die anderen Gäste zu achten steuerte Quinn direkt auf den Tresen zu. Mit einem kurzen Nicken begrüßte er den Wirt und bestellte sich ein kräftiges Bier.

Während er darauf wartete, sah er sich kurz um. Sein geübter Blick streifte beinahe jeden Anwesenden, automatisch behielt er sich alles Außergewöhnliche im Kopf und verglich Alles mit seinen Erinnerungen, vielleicht hatte er jemanden schon einmal gesehen.

Eigentlich war diese Tätigkeit vollkommen aussichtslos, er kannte im Moment sowieso nur drei Personen, die er, sollte er sie hier treffen, sofort ansprechen würde, und diese kamen ganz bestimmt nicht in eine so heruntergekommene Spelunke. Selbst wenn er jemand anderen erkannt hätte, würde er wahrscheinlich genauso auf sein Bier warten und hoffen, dass die Zeit schnell verging.

Er seufzte, eigentlich machte es keinen Unterschied, wie lange er hier sitzen blieb oder wie lang ihm diese Zeit erschien, es hätte sowieso nichts mehr geändert. Morgen würde er sich wie in den letzten Wochen wieder auf den Weg machen, immer weiter weg von seiner Heimat, falls man seinen Geburtsort so nennen konnte. Er war zwar dort auf die Welt gekommen, doch ein echtes Zuhause war es nie gewesen, es gab nicht viel, was ihn mit diesem Ort verband.

Er zuckte beinahe zusammen, als der Wirt neben ihm das Bier auf den Tresen knallte und mit missmutiger Miene das Geld dafür verlangte. Quinn streckte ihm seine rechte Hand mit den verlangten drei Bronzestücken entgegen, nahm sein Bier und machte sich auf die Suche nach einer nicht ganz so belebten Ecke.

Heute hatte er Glück, in einem Winkel sah er einen kleinen unbesetzten Tisch. Die einzigen Sitzmöglichkeiten bestanden aus einer abgenutzten Holzbank, die die Ecke so umschloss, dass man an zwei Seiten des Tisches sitzen konnte und einem genauso abgenutzten Stuhl. Aus Gewohnheit setzte er sich auf die Bank, es war ihm unangenehm, sich nicht sicher sein zu können, was hinter ihm geschah. So war er wenigstens von einer Seite vor eventuellen Überraschungen geschützt.

Wie schon als er auf das Bier gewartet hatte, ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten, ohne wirklich etwas zu sehen, wie wenn man in die Ferne sieht, um das Gefühl zu haben, dass man etwas tut, beinahe der selbe Nutzen jedoch bei geschlossenen Augen vorhanden gewesen wäre. Man versucht jedes einzelne Detail zu erkennen, und erkennt aufgrund dessen kein einziges. Mechanisch nippte er an seinem Getränk, auch wenn er keinen Durst verspürte. Es gab ihm einen Grund hier zu sitzen, das genügte ihm.

Ohne dass er es bemerkte, setzte sich eine weitere Person zu ihm an den Tisch. Erst als sein Blick an der Stelle vorbeikam, an der sie saß, fiel sie ihm auf. Es war eine Frau, in etwa in seinem Alter, auch wenn man dies schlecht abschätzen konnte. Sie war extrem schmal, was jedoch für eine Frau aus ihrem Stamm nichts Ungewöhnliches war. Ihr Gesicht war vom Wetter gezeichnet und eine lange Narbe lief ihr über die linke Wange. Pechschwarze Harre fielen über ihre Schulter, sie schienen jedoch auf eine ganz bestimmte Art zu glänzen.

Normalerweise hätte man sie wohl für eine normale Frau aus einem der Wildnisvölker gehalten, auch wenn der Umstand, dass man eine von ihnen alleine traf durchaus nichts Alltägliches war. Dieser Eindruck wurde jedoch von einem sehr fein gearbeiteten Bogen zerstört, den sie für jeden sichtbar über ihrem Rücken hängen hatte. Quinn hatte erst einmal eine Waldläuferin getroffen, doch diese Zeit war lange vorbei. Damals war er noch auf der Akademie gewesen, wo sie sich mit der Akademieleiterin über irgendeine politische Entscheidung beraten hatte, als er von einem der Lehrer wegen seines Ungehorsams vorgeladen worden war.

Sie hatte ihn mit einem mitleidigen Lächeln angesehen, damals hatte er es als erniedrigend empfunden. Es war eines der Sorte von Lächeln gewesen, das Erwachsene kleinen Kindern schenkten, wenn diese eine Dummheit gemacht hatten und sie nun dafür sorgen mussten, dass alles wieder in Ordnung kam, da die Kinder normalerweise noch zu klein waren um ihren Fehler einzusehen oder selbst wieder zu beseitigen. Er hasste dieses Lächeln, hatte sich jedoch aus dem Grund, dass er vor der Akademieleiterin stand, zurückgehalten und einfach nur geschwiegen. Seitdem hatte er stets eine gewisse Abneigung gegen Waldläuferinnen gehegt, für ihn waren sie überheblich und angeberisch, er hatte allerdings bis heute auch keine zweite von Angesicht zu Angesicht getroffen.

Die Züge der Frau, die ihm nun gegenüber saß waren hart und bestimmt, darunter schien jedoch noch etwas anderes zu liegen. Sie schien müde und erschöpft, jedoch nicht, weil sie viel gelaufen wäre: Ihre Art von Erschöpfung kam aus dem Inneren.

Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, kaum bemerkbar und dennoch machte es aus seiner Ablehnung gegen die Waldläuferin keinen Hehl. Schön zu sehen, dass auch sie nicht von so weltlichen Problemen verschon blieben, er selbst musste mit derartigem schon seit mehreren Jahren fertig werden. Er fragte sich, warum sie sich gerade zu ihm an den Tisch gesetzt hatte, es gab noch ein andere freie Plätze und seine Erscheinung war nicht gerade das, was man als vertrauenserweckend bezeichnen könnte. Nicht heute und nicht an diesem Abend.

Auch er hatte über die Jahre ein wettergegerbtes Gesicht entwickelt, eingerahmt von einem wilden Haarwuchs, dem man ansah, dass er nicht allzu häufig gepflegt wurde. Seine Kleidung bestand aus einem blutroten Umhang mit schwarzen Rändern, der Stil war dem eines Heilers angepasst, mit vielen Taschen und ohne Schmuck, doch die Farben sprachen gegen eine solche Tätigkeit. Ein Heiler kleidete sich normalerweise in Weiß und Grün, Schwarz und Rot dagegen waren die Farben des Todes. Deutlich sichtbar hingen zwei Einhandstreitkolben am Gürtel des Umhangs, neben ihm stand ein Lederrucksack aus dem einzelne Rüstungsteile hervor lugten.

In Verbindung mit seiner Gestalt hätte es wohl das Potenzial einigen jungen Hausmädchen einen nachhaltigen Schrecken einzujagen: Er war groß gewachsen und seine kräftigen Muskeln waren ohne einen näheren Blick erkennbar.

Abermals nippte er an seinem Bier, ohne wirklich etwas zu trinken und sah wieder die Waldläuferin an. Abgesehen von seiner Abneigung gegen ihren Stand war es durchaus ungewöhnlich, eine zu treffen, in den letzten Jahren waren sie überaus selten geworden. Viele waren im Krieg zwischen Gralen und Pontia umgekommen, wenngleich sie damit eigentlich nie etwas zu tun gehabt hatten. Sie wurden einfach als unvermeidlicher Kollateralschaden abgetan und keiner hatte sich um sie gekümmert oder sich für sie eingesetzt.

Zum ersten Mal, seitdem sie sich zu ihm gesetzt hatte, hob nun auch sie den Blick und sah ihm direkt in die Augen. Ihr Blick war durchdringend, wissend, sie war sich ihrer Position bewusst. Dennoch spiegelte sich in ihren grauen Augen etwas wieder, was er nicht genau einschätzen konnte, ein kaum merklicher Schatten lag darüber.

„Daria.“, stellte sie sich mit tonloser Stimme vor. Sie hatte keine Regung im Gesicht gezeigt, nur dieses einzelne Wort war aus ihrem Mund gekommen. Trotzdem machte ihre Art unmissverständlich klar, dass sie auch von ihm erwartete dass er sich vorstellte. Genauso tonlos antwortete er: „Quinn.“

Eigentlich hatte er keine Lust, sich heute Abend mit jemandem zu unterhalten, nicht ohne Grund hatte er sich in eine abgeschiedene Ecke gesetzt. Dennoch, obwohl er es sich noch nicht eingestehen wollte, weckte sie ein gewisses Interesse in ihm. Warum in aller Welt kam eine Waldläuferin in so eine heruntergekommene Taverne und aus welchem Grund setzte sie sich einfach zu ihm an den Tisch?

Er überlegte noch, ob er schließlich ein Gespräch anfangen sollte, da machte sie entgegen seiner Erwartungen den Anfang: „Woher kommt ihr? Euer Umhang erscheint mir… ungewöhnlich.“ Sie hatte die Tonlosigkeit in ihrer Stimme abgelegt und zeigte nun einen festen, selbstbewussten Unterton.

Er ließ sich Zeit mit der Antwort, lachte leise in sich hinein. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihn andere danach fragten, seine Erscheinung war ohne Frage… anders. „ Aus dem Süden.“, antwortete er schließlich knapp, noch immer hatte er sich nicht ganz entschieden, ob er wirklich auf ein Gespräch eingehen wollte.

Sie zeigte keine Reaktion und sah ihn weiter fragend an. Mit einem tiefen Seufzer ergab er sich letztendlich seinem Schicksal, nahm einen großen Schluck von seinem Bier und holte mit seiner Antwort etwas weiter aus.

„Ich wurde in Elwen geboren oder gezeugt, wie man es nun nennen möchte. Jedenfalls hat man mir es so erzählt. Mein war oder ist der König der Elwinischen Länder, meine soweit ich weiß eine gewöhnliche Frau aus seinem Volk. Warum meine von einem König schwanger war? Ich weiß es nicht, jedenfalls hat sie, als sich die Schwangerschaft nicht mehr verbergen ließ in einer Nacht und Nebel Aktion die Stadt verlassen, in den Augen der Stadtbevölkerung war ich ein unehelicher Bastard, nur sie wusste, wer mein wirklich war.

Meine Mutter floh zur Akademie von Vinsalt, die damalige Akademieleiterin war dafür bekannt, Frauen in Not zu helfen. Man hätte sie wohl manchmal als naive Samariterin bezeichnen können, aber sie war die Rettung meiner Mutter und somit auch meine, dafür gebührt ihr mein unerschütterlicher Dank.

Dort wurde ich im eigentlichen Sinne geboren, meine Mutter blieb die ersten zwei Jahre an der Akademie, ich wuchs langsam aus dem Babyalter heraus. Die Leute in der Stadt begannen sich zu fragen, warum eine einfache Frau, wie meine Mutter in der Akademie ein und aus gehen konnte, sie musste erneut fliehen, ließ mich jedoch in der Obhut der Akademie, um mir ein gutes Leben zu ermöglichen, wie später behauptet wurde. Wie viel davon der Wahrheit entspricht oder ob meine Mutter mich einfach nur nicht akzeptieren wollte weiß ich nicht. Es ist die Geschichte, die auch ich nur erzählt bekommen habe.

In den folgenden Jahren wurde ich zum Heiler ausgebildet, ich lernte für fast jede bekannte Krankheit eine Behandlungsmethode, lernte Schmerz, Leid und Tod kennen. Die Methoden waren für ein Kleinkind anfangs vielleicht etwas unangemessen, doch ich lernte schnell damit umzugehen, Tote und Schwerverletzte zu untersuchen. Es gab keinen Tag, an dem mir das mögliche Ende des Lebens nicht bewusst gemacht wurde, infolgedessen stand meine gesamte Ausbildung unter einer Lektion: Der Schutz von Leben ist das Höchste und Heiligste auf der Welt, jede Handlung sollte nach diesem Grundsatz geleitet sein.“

Er ließ eine Pause, wusste selbst nicht so genau, warum er dies alles erzählte. Aber machte es einen Unterschied? Ob er hier nun alleine sein Bier trank oder dabei noch ein wenig von seinem Leben erzählte war eigentlich egal.

Daria hatte schweigend zugehört und nickte an ein Stellen seiner Erzählung. Sie erschien ihm auf einmal gewöhnlich, nicht anders als jede andere beliebige Frau. Sie war nicht mehr die überhebliche, hochnäsige Waldläuferin, sondern sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut, nicht viel anders als er.

Er zuckte beinahe zusammen, als sie eine warme einfühlsame Stimme zeigte. Sie schien weich und zerbrechlich. Und verständnisvoll wie eine Mutter, ihrem eigenen Kind gegenüber. „Da fehlt noch etwas, oder? Ihr seid kein normaler Heiler und wie ein Gelehrter oder Akademieabgänger seht ihr auch nicht aus.“

Quinn nickte, dieser Teil seines Lebens war zwar zweifelsohne einer der einflussreichsten gewesen. Es war die Grundlage zu dem, was er jetzt war, doch nicht die einzige. Während er noch überlegte, wie er fortfahren sollte, begann Daria völlig unerwartet selbst etwas zu erzählen. Die warme, freundliche Stimme hatte sie beibehalten, doch er spürte, dass es mehr gab, als versteckte sich etwas dahinter, was sich nicht traute an die Oberfläche zu kommen.

„Tut mir leid, es muss ziemlich aufdringlich erscheinen, euch so über euer Leben auszufragen. Eigentlich sollte ich es besser wissen. Ich glaube, meine eigene Erscheinung ist auch nichts Alltägliches…“ Seine Zustimmung in Form eines Nickens kam etwas zu schnell und zu heftig, er nahm sich vor in Zukunft ein wenig mehr Selbstbeherrschung an den Tag zu legen. Sie war ihm auf mysteriöse Weise wichtig, obwohl sie eine Waldläuferin war. Ein kurzer Gedanke verirrte sich in die Richtung, was sich wohl unter ihrem Gewand befinden könnte, er verbannte ihn jedoch sofort wieder. Dies hier war weder der richtige Ort, noch war eine Waldläuferin ein auch nur annähernd realistisches Ziel.

„Nun ja, wo soll ich anfangen? Wo ich geboren wurde weiß ich nicht, genauso wenig wie ich meine Mutter oder meinen Vater jemals bewusst gesehen hätte. Es gab niemanden der mir etwas über meine Herkunft erzählen konnte oder wollte. Ich war das, was man gemeinhin als armes Waisenkind bezeichnet, wurde jedoch von einer Gruppe Frauen aufgenommen, die den Wald zu ihrer Heimat gemacht hatte. Heute würde ich sie als Waldläuferinnen bezeichnen, damals waren sie für mich einfach nur die Gruppe von Frauen, die völlig unabhängig in der Wildnis lebte.

Auch ich wurde unter strengen Regeln ausgebildet, lernte das meisterliche Bogenschießen, Heilkunde und überlebenswichtige Fertigkeiten. Bis ich 14 war, bekam ich jedoch keinen einzigen Mann zu Gesicht, ich war in dem Glauben erzogen worden, man brauche nur sich selbst, jedes Vertrauen auf andere war eine Abhängigkeit, die man so schnell wie möglich abzulegen hatte…“

Sie hatte einfach angefangen zu erzählen, mit jedem ihrer Worte schwang eine nicht zu leugnende Melancholie mit. Hinter ihren Worten verbarg sich mehr, als sie zugeben wollte, vielleicht auch als sie sich selbst eingestand. Dennoch, sie löste etwas in ihm aus, was er geglaubt hatte nie mehr fühlen zu können. Auf eine ganz bestimmte Weise schien sie zerbrechlich, zart…

Wie automatisch führte er das Bierglas, welches er aus irgendeinem Grund die ganze Zeit mit einer Hand festgeklammert gehalten hatte an seine Lippen, um einen Schluck daraus zu nehmen. Erst als seine Lippen das kühle Glas berührten, merkte er, dass der Durst nicht seine eigentliche Absicht war, sondern eher eine Form des Versteckens, der Versuch, Emotionen jeglicher Form zurückzuhalten, sich dazu zu ermahnen, dass sie vielleicht nur eine weitere hochnäsige Person war, die sich bald darüber lustig machen würde, dass er begann ihr zu vertrauen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass es sich um die reine Wahrheit handelte und sie eigentlich genauso eine Suchende war wie er. Auf der Suche nach Geborgenheit und innerer Ruhe.

Würde er aus Mitgefühl über jedes Schicksal, welches er mitbekam, oder auch welches direkt oder indirekt durch ihn verursacht wurde, jede Woche eine Träne vergießen, könnte er damit wöchentlich seinen eigenen Bierkrug füllen. Und damit meinte er pontianische, die selbst die meisten Trinker für einen kompletten Abend beschäftigen würden, vorausgesetzt natürlich, sie kamen nicht aus Pontia. Trotzdem schaffte es seine Gesprächspartnerin seine Gefühle zu erreichen, eine Tatsache, der er zwar nicht abgeneigt gegenüber stand, aber in einem Winkel seines Verstandes meldete sich zurecht das Misstrauen. Wie ein Junge schob er seine Bedenken jedenfalls für eine Zeit lang einfach in den Hintergrund.

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