Kapitel 48

„Frau Gräfin, schön, dass auch Sie gekommen sind“, grüßt eine Frau.

Nach unserer gemeinsamen Nacht konnte ich Lia nicht mehr hängenlassen und habe mich bereiterklärt, sie zur Familienfeier zu begleiten. Erst beim Frühstück hat sie mir den Zeitplan genannt. Der Freitag sollte ganz im Zeichen der Anreise stehen. Pünktlich, wie von ihrer Mutter gewünscht, treffen wir um 14 Uhr auf dem Landsitz der in der Nähe von Regenburg ein.

„Herta, schön Sie wiederzusehen. Könnten Sie bitte meine Mutter informieren, dass ich angekommen bin, wie gewünscht in Begleitung.“

Die Frau beäugt mich etwas überrascht. Sie sagt aber nichts. Allerdings kann ich ihre Verwunderung deutlich erkennen. Auch Lia sieht das natürlich und grinst nur.

„Das ist Vera, meine .“

„Zur Feier sind aber nur Partner eingeladen, keine Freundinnen.“

„Vera ist meine Partnerin!“

„Eine Frau?“, platzt Herta heraus. Sie fasst sich aber schnell wieder und legt die Hand vor den Mund. „Oh Verzeihung!“

Offenbar bemerkt auch sie, dass ihr als Angestellten eine solche Äußerung nicht zusteht. Peinlich berührt verzieht sie sich. Lia dreht sich mir zu und zuckt entschuldigend die Schultern.

„So sind die Leute in diesem Haus. Dieses Vorurteil werden wir heute noch öfter zu spüren bekommen.“

„Du musst ja auch extra provozieren“, grinse ich.

„Ist doch wahr, diese bornierten Landeier“, mault sie.

Ich will darauf etwas erwidern, doch in dem Moment kommt eine Frau um die Ecke, die ich auf etwa 50 Jahre schätze. Sie sieht ausgesprochen gepflegt aus und sie gleicht Lia. Die Ähnlichkeit ist verblüffend.

„Lia, mein Engel, schön, dass du doch gekommen bist.“

„Mutter, du weißt, dass ich Oma sehr liebhabe.“

Die Frau kommt mit ausgebreiteten Armen auf Lia zu und schenkt mir zunächst keine Beachtung. Erst nachdem sie ihre Tochter an sich gedrückt hat, löst sie sich von dieser.

„Gut schaust du aus. Das Stadtleben scheint dir gut zu tun.“

Sie lächelt Lia an und wendet sich dann mir zu. Mit einem freundlichen Lächeln reicht sie mir die Hand.

„Und sie sind eine Freundin meine Tochter. Freut mich.“

„Vera Klein. Freut mich auch“, erwidere ich zaghaft.

„Vera ist nicht eine Freundin, Mutter. Sie ist meine Freundin, meine Partnerin.“

Lias Mutter ist von der Antwort dermaßen überrascht, dass sie die mir dargebotene Hand im letzten Moment, knapp bevor ich sie ergreifen kann, wieder zurückzieht. Ihr Blick wird ernst und huscht zwischen mir und Lia hin und her.

„Du bist doch keine Lesbe!“

Der Gräfin ist deutlich anzusehen, dass sie schockiert ist. Ich fühle mich etwas deplatziert und unwohl in meiner Haut. Lia hingegen, der ich einen Blick zuwerfe, grinst über das ganze Gesicht. Sie hat genau das erreicht, was sie wollte.

„Warum nicht Mutter? Wir leben im 21.Jahrhundert.“

„Aber Kind, das kann doch nicht dein Ernst sein!“, meint sie. Dann wendet sie sich mit unfreundlichem Gesicht mir zu. „Das haben ganz bestimmt Sie meiner Lia eingeredet?“

Hinter uns bleibt eine Gruppe junger Leute stehen. Ich nehme an, sie gehören zur und sind zufällig vorbeigekommen. Sie scheinen auf unser Gespräch aufmerksam geworden zu sein und verfolgen offenbar unsere Diskussion.

„Das ist doch absoluter Blödsinn, ich habe Vera angesprochen und, wenn jemand verführt wurde, dann sie von mir.“

„Aber Kind, was sagst du da. Das kann nicht sein.“

„Dass ich eine dreckige Lesbe bin? Hast du das gemeint?“, kontert Lia. „Ach ja, die junge Gräfin kann doch kein abartiger Mensch sein. Das kann nur davon kommen, dass sie verführt und getäuscht wurde. Ist es das, was du sagen willst. Ich sei das naive Opfer?“

„Aber nein, mein Kind, das habe ich doch nicht gemeint“, wehrt ihre Mutter ab. „Ich kann nur nicht glauben, dass du nicht normal bist. Du hast die besten Schulen besucht und die beste Erziehung genossen.“

„Was hat das bitte damit zu tun? Ich liebe eine Frau. Basta!“

Die Gräfin schaut ihre Tochter schockiert an. Dann blickt sie zu mir. Sie weiß nicht mehr, was sie sagen soll.

„Komm, ich lass Euch auf dein alters Zimmer bringen“, lenkt die Mutter nach einer etwas peinlichen Pause ein.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Konfrontation generell scheut und ob sie später erneut auf das Thema zurückkommen wird. Auf jeden Fall wird auch den Jugendlichen im Hintergrund klar, dass die Show nun vorbei ist und sie ziehen weiter.

„Ich kenne den Weg, Mutter!“, meint Lia.

Sie nimmt ihre Tasche wieder hoch und gibt mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führt mich in den ersten Stock des Hauses und dort einen langen Gang entlang. Vor einer Tür bleibt sie stehen.

„Lach nicht, wenn ich die Tür öffne. Das ist mein altes Jugendzimmer. Das wird sicher noch immer so aussehen, wie ich es vor mehr als sieben Jahren verlassen habe, als ich in die Stadt gezogen bin.“

„Ich lache nicht“, versichere ich.

Allerdings kann ich mir ein verschmitztes Lächeln dann doch nicht verkneifen. Ich bin echt neugierig, wie das Zimmer von Lia ausgesehen hat, als sie noch ein Teeny war. Ihr neues Heim kenne ich ja und muss sagen, sie hat beim Einrichten Geschmack bewiesen.

Als sie die Tür öffnet und mich eintreten lässt, muss ich dann aber doch lachen. Wir stehen in einem richtigen Mädchenzimmer. Der Grundton ist rosa, an den Wänden hängen Poster von Boygroups und ein großer Schminktisch lässt vermuten, dass Lia sich früher viel und gerne geschminkt hat. Dabei trägt sie heute kaum oder gar kein Makeup. Sie ist der natürliche Typ und kann sich das auch leisten.

„Du hast dich ganz schön verändert“, sage ich lächelnd.

„Ja, das hier kommt mir vor, wie ein anderes Leben“, grinst nun auch sie.

Ich spaziere durch den wunderschönen Park, der zum Anwesen gehört. Die Sonne ist bereits untergegangen und die Dämmerung legt sich langsam auf die Landschaft. Es herrscht eine angenehme Ruhe, nur einige Vögel sind noch zu hören. Sie zwitschern vergnügt und erfüllen die Luft mit einer Art Melodie.

Nach dem Essen mit der Familie, das ausgesprochen wortkarg verlaufen ist, wollte Lias Mutter noch mit ihrer Tochter sprechen. Angeblich ging es um die Vorbereitungen für die morgige Familienfeier und sie hat mich elegant ausgeladen. Sie hat gemeint, das würde mich nur langweilen und hat mir vorgeschlagen, einen Spaziergang durch den Park zu unternehmen. Ich bin mir sicher, dass es bei dem Gespräch erneut um mich gehen soll. Sie wollte mich nur nicht dabeihaben. Lia schaute mich beschwichtigend an und lächelt.

„Ich komme dann nach“, meinte Lia sie.

Und so schlendere ich nun über einen perfekt gepflegten Rasen, bewundere die Blumen und Sträucher, die zum Teil sehr ausgefallen sind und wunderschön blühen. Ich bin mir sicher, dass sich mehrere Gärtner um diese Pracht kümmern.

Ich bin schon eine beachtliche Strecke vom Haus entfernt, da werde ich plötzlich von einer Gruppe Jugendlicher umringt.

„Na, da haben wir ja unsere kleine Lesbe“, meint einer der Burschen.

„Was wollt ihr denn von mir?“, frage ich etwas genervt.

„Wir könnten dir zum Beispiel beibringen, wie es ist, mit einem Mann zu ficken.“

„Oder mit mehreren“, meint ein zweiter.

„Du scheinst noch nie von einem richtigen Mann rangenommen worden zu sein“, mischt sich nun auch ein Mädchen ein.

„Was soll das Ganze?“, frage ich. „Ihr seid doch nicht mehr ganz dicht.“

„Wir sind völlig in Ordnung. Wer hier nicht normal ist, das bist wohl offensichtlich du“, erwidert der, den ich für den Rädelsführer halte.

Ich mustere die Gruppe. Es sind fünf Burschen und ein Mädchen. Einige von ihnen glaube ich bei unserer Ankunft gesehen zu haben. Sie haben unser Gespräch mit der Gräfin mitbekommen.

„Mach dir keine Sorgen, die Jungs werden dir schon noch beibringen, wie man Sex hat. Normalen und geilen Sex, keinen abartigen“, mischt sich das Mädchen ein.

Plötzlich packt mich einer der Burschen von hinten. Er hat meine Arme ergriffen und hält sie am Rücken zusammen. Er ist stark und hält mich so fest, dass ich mich nicht mehr richtig wehren kann.

„Wollen wir mal schauen, was unsere kleine Lesbe zu bieten hat“, meint der Rädelsführer.

Er kommt auf mich zu und greift ungeniert auf meine Brust. Er geht dabei sehr unsanft vor und quetscht meine Brüste schmerzhaft zusammen.

„Aua! Spinnst du. Lasst mich sofort los!“, sage ich laut und entschlossen.

„Die Titten sind schon mal ganz passabel“, meint der Typ jedoch ungerührt von meinem Prostest. „Schauen wir doch mal die Fotze.“

Er lässt von meinen Bürsten ab und macht sich an meinem Gürtel zu schaffen. Ich versuche mich zu winden und ihn nach ihm, aber sofort kommen ihm zwei seiner Kumpane zu Hilfe und halten auch meine Beine fest.

„Zick nicht herum“, fährt er mich an.

Als ich mich kaum noch rühren kann und ihm auch mit den Beinen keinen Widerstand mehr entgegenbringen kann, schafft er es recht schnell, den Gürtel zu öffnen. Es folgt der Knopf der Jeans und schon ist auch der Reißverschluss heruntergezogen. Er greift an den Hüften nach dem Bund der Hose und will sie mit einem Ruck nach unten ziehen, da kommt ein weiterer junger Mann auf uns zu. An seinen weit geöffneten Augen erkenne ich, dass er schockiert ist.

„Hört sofort auf!“, sagt er entschlossen.

„Hey, Benno, sei kein Spielverderber. Wir wollen der Lesbe nur Manieren beibringen. Sie soll deine in Ruhe lassen.“

„So wie ich das sehe, hat das nichts mehr mit einem Spiel zu tun. Das ist Vergewaltigung oder zumindest sexuelle Belästigung.“

„Und wen juckts?“, kontert der Rädelsführer.

„Das kann ich dir ganz genau sagen“, antwortet der junge Mann, der offenbar Benno heißt und Lias ist. „Das juckt die hübsche junge Frau, die sicher keinen Spaß daran finden wird, vergewaltigt zu werden und Euch juckt es auch, wenn ihr im Knast sitzt.“

„Aber die Jungs wollten doch nur …“, mischt sich erneut das Mädchen ein. Sie wird aber sofort unterbrochen.

„Dass diese Halbstarken die Tragweite ihres Handels offenbar noch nicht ganz mitkriegen ist zwar traurig, aber bei ihrer geistigen Begrenztheit kein Wunder. Dass aber du als Mädchen bei so einer Sauerei mitmachst, das kann ich ganz und gar nicht verstehen. Was würdest du sagen, wenn du an ihrer Stelle wärst.“

„Wir jagen ihr nur ein wenig Angst ein“, verteidigt sich das Mädchen.

„Meine liebe Jenna, versuch dich auch nur einen Moment in diese Frau hineinzuversetzen“, erklärt Benno. „Sie spaziert ganz ruhig in einem privaten Park. Plötzlich wird sie von ihr völlig fremden Typen umzingelt, festgehalten und entkleidet. Wie würdest du dich dabei fühlen?“

„Wir haben sie noch gar nicht entkleidet“, protestiert der Rädelsführer.

„Soll ich dir die Hose aufmachen?“, kontert Benno.

„Kannst du ja, dann bekommst du einen richtigen Schwanz zu sehen“, grinst der Typ.

„Lasst sofort das Mädchen los und verschwindet. Ich kann Euch nur das raten“, sagt er gefährlich leise. „Wenn sie Anzeige erstatten will, dann werde ich bezeugen, was ich gesehen habe.“

„Anzeige, was redest du da für einen Schwachsinn?“, meint der Rädelsführer.

Ich werde losgelassen und schließe sofort meine Hose. Ganz automatisch gehe ich zu Benno und stelle mich neben ihn.

„Ihr habt sie festgehalten und sexuell belästigt. Das könnt Ihr nicht abstreiten.“

„Aber wir …“

„Ihr habt jegliche Grenze überschritten.“

Der Anführer der Gruppe schaut völlig verunsichert. Dann macht er sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, hastig auf den Weg zurück zum Ansitz. Die anderen folgen seinem Beispiel. Sie haben alle den Kopf eingezogen und schauen betreten drein. Nur das Mädchen schafft es, mir ein schüchternes „Entschuldige“ zu schenken und macht sich dann auch auf den Weg.

Ich bleibe etwas perplex zurück. Im ersten Augenblick bringe ich kein Wort heraus. Wie schon vorher, als Benno die Typen zurechtgewiesen hat, fällt mir nichts ein, was ich sagen könnte. Ich hatte wirklich geglaubt, die Bande würde mich vergewaltigen. Bennos Auftauchen ist für mich, wie ein Wunder.

„Danke!“, sage ich schließlich.

„Wofür?“, meint Benno. „Ich muss mich für meine missratene Verwandtschaft entschuldigen.“

„Dass deine Mutter ein Problem damit hat, dass Lia lesbisch ist, das kann ich noch irgendwie nachvollziehen. Dass aber junge Leute ein so abartiges Denken haben, das macht mich betroffen“, gestehe ich.

„Mich auch“, versichert er. „Gehen wir zurück zum Haus?“

„Ich wollte eigentlich noch etwas spazieren gehen. Ich wurde nur aufgehalten.“

„Darf ich dich begleiten?“

„Wenn du willst und keine Angst davor hast, dass ich dich auch noch verhexe.“

Benno lacht auf und ich muss gestehen, sein Lachen finde ich süß. Er ist ein ausgesprochen hübscher Mann. Er ist muskulös und hat einen perfekten Körper. Wie sein Auftreten vorhin zeigt, hat er auch Mut und Zivilcourage. Nicht jeder hätte sich dermaßen entschlossen seinen Freunden entgegengestellt. Sein Gesicht ist kantig und ausgesprochen markant. Er wäre genau mein Typ. Nur blöd, dass ich mit Lia da bin und mich ihm gegenüber nicht so zeigen kann, wie ich es gerne möchte.

„Du bist also Lias Freundin“, stellt er fest.

„Ja, so kann man sagen.“

„Kennt ihr Euch schon lange?“

„Es geht“, antworte ich ausweichend.

„Du musst jetzt einen fürchterlichen Eindruck von uns Hinterwäldlern haben.“

„Lia hat mich bereits vorgewarnt“, grinse ich.

„Soso, hat sie das?“

„Nach dem, was ich bisher in diesem Haus erlebt habe, lag sie gar nicht so falsch. Um ehrlich zu sein, bist du der erste, der locker damit umgeht.“

„Ich weiß“, meint er und schnaubt genervt. „Dabei sollte man meinen, dass das Thema inzwischen wirklich ganz normal sein sollte.“

Ich bleibe kurz stehe und wende mich ihm zu. Er meint es ernst. Sein Blick ist völlig offen und ich glaube ihm, dass er das, was er sagt, auch wirklich so meint.

„Warum ist der junge Graf so fortschrittlich und schlägt damit so völlig aus der Art?“

„Da ist wohl jemand neugierig?“

„Verzeih mir, ich habe nur ausgesprochen, was mir gerade durch den Kopf ging. Ich sollte wohl endlich lernen, vorher noch einmal nachzudenken, bevor ich meinen Gedanken freien Lauf lasse.“

„Nein, nein, du hast ja Recht. Eigentlich mag ich Leute, die sagen, was sie denken.“

„Ich kannte von Eurer Familie bisher nur Lia. Sie ist jung, modern und sehr aufgeschlossen. Und dann komme ich hierher und lerne Eure Mutter und ihre konservative Haltung kennen. Bei ihr hatte ich so etwas schon erwartet, wenn ich ehrlich bin. Aber deine Cousinen und Cousins von vorhin haben mich mehr als überrascht. Sie wären doch auch jung.“

„Sie sind aber nie wirklich aus diesem Kaff hinausgekommen, haben nur Eliteschulen besucht, zu Hause nur diese bornierten Ideen mitbekommen und vermutlich auch nie gelernt selbstständig zu denken. Was soll bei solchen Voraussetzungen herauskommen?“

„Dann liegt es nur am Denken?“

„Nein, bei Gott nicht. Es ist sicher auch ihre Bequemlichkeit und der Umstand, dass sie nie versucht haben, die Welt zu erkunden“, wehrt er ab. „Ich habe mich schon früh geweigert, ein Internat zu besuchen. Ich habe erfolgreich drauf bestanden, eine ganz normale öffentliche Schule zu besuchen.“

„Warum?“

„Ich will nicht weltfremd sein.“

„Und es hat funktioniert“, antworte ich lächelnd.

„Offensichtlich.“

Ich wende mich wieder zum Gehen und schlage nun doch den Weg zurück zum Haus ein. Benno bleibt einen Moment stehen, kommt mir dann aber nach.

„Hast du schon genug vom Spazieren gehen?“

„Ich denke, da hinten entdecke ich nicht mehr viel Neues.“

„Darf ich dir etwas zeigen?“

„Was denn?“

„Unsere Gewächshäuser mit einigen seltenen Pflanzen.“

„Das würde mich interessieren, sehr sogar.“

„Dann komm!“

Benno führt mich in einen etwas abgelegenen Teil des Gartens. Nach etwa fünf Minuten kommen wir zu einer ganzen Reihe von Gewächshäusern. Er geht auf das erste zu und öffnet die Tür.

„Darf ich vorgehen?“, erkundigt er sich.

„Ich bitte darum, Herr Graf.“

Lias Bruder gefällt mir. Ich bedaure es wirklich, dass ich mich zurückhalten muss. Es fällt mir auch zunehmend schwerer. Wäre ich frei und ungebunden, dann würde ich ihm schon zu verstehen geben, dass ich ihn interessant finde und nichts dagegen hätte, wenn zwischen uns etwas entstehen würde. Auch Benno scheint Gefallen an mir zu finden. Er hat ein verräterisches Leuchten in den Augen, wenn er mich ansieht.

Benno geht vor und ich folge ihm. Ich erkenne und bin fasziniert von der Begeisterung, mit der er mir die verschiedenen Pflanzen erklärt. Es sind in der Tat wunderschöne, zum Teil sehr seltene Züchtungen dabei. Da auch ich ein Blumennarr bin, lasse ich mich von ihm nur allzu gerne mitreißen.

„Sind das deine Pflanzen?“

„Das ist mein Hobby. Ich könnte Stunden hier verbringen.“

„Da geht es mir gleich. Leider haben wir keine Stunden mehr. Ich fürchte, wir sollten langsam zurück.“

„So spät schon“, meint auch er. „Entschuldige, ich habe die Zeit völlig aus den Augen verloren.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mir ist es genau gleich ergangen. Es ist wunderschön hier.“

Wir machen uns auf den Rückweg. Dabei komme ich an einer etwas glitschigen Stufe, die von einem Glashaus ins nächste führt, ins Rutschen. Benno fängt mich geistesgegenwärtig auf. Nun hänge ich in seinen Armen. Wie peinlich! Dabei kommen sich unsere Lippen sehr, sehr nahe. Es fehlt vermutlich nur noch ein Zentimeter. Ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren und seine Wärme fühlen. Seine Augen weiten sich und er starrt mich unsicher an. Beide sind wir für einen Moment in einer Schockstarre gefangen. Am liebsten würde ich ihn küssen, weiß aber, dass ich das nicht darf.

Nach einer gefühlten Ewigkeit reiße ich mich dann doch zusammen und stelle mich wieder aufrecht hin. Seine Arme nicht mehr auf mir zu spüren fühlt sich irgendwie falsch an. Und doch ist es das einzig Richtige, was ich in dieser Situation tun kann. Die Vernunft muss über das Gefühl siegen.

Auch Benno richtet sich wieder auf. Er kommt, wie ich, nur allmählich wieder in das Hier und Jetzt zurück. Zum Glück ist es nicht nur mir passiert, dass ich so unsicher war. Vermutlich denkt er ähnlich wie ich und will seiner nicht in die Quere kommen. Aber Überwindung hat es mich schon gekostet, ihn nicht zu küssen. Das muss ich ehrlich zugeben. Dabei ist mir so etwas noch nie bei einem Mann passiert. Ich fühle mich zu Benno hingezogen und ich hoffe, ich überstehe den morgigen Tag halbwegs, ohne dass mir jeder gleich ansieht, dass ich auf ihn stehe.

„Entschuldige, es ist so rutschig hier“, plappere ich vor Verlegenheit einfach drauflos. Ich muss etwas sagen, um die Situation nicht peinlich werden zu lassen, wenn das überhaupt noch möglich ist.

„Das kommt von der Feuchtigkeit“, meint er. Auch er sagt es vermutlich nur, damit etwas gesagt ist.

Wir setzen unter betretenem Schweigen unseren Weg fort. Was habe ich mir nur dabei gedacht, so lange in seinen Armen zu liegen und ihn dermaßen anzuschmachten. Man könnte ja glauben, ich sei ein 16jähriges Mädchen, das noch nie einen Mann gesehen hat.

Als wir endlich das Haus erreichen, verabschiedet sich Benno hastig und ist auch schon weg. Ihm muss die ganze Sache genauso unangenehm sein wie mir.

Kapitel 49

„Die spinnen doch“, meint Lia aufbrausend.

Ich habe ihr erzählt, was im Garten vorgefallen ist und, dass mir Benno beigestanden hat. Auch von unserem Besuch in den Gewächshäusern habe ich erzählt, allerdings nichts von meinem Ausrutscher.

„Das war ganz schön heftig“, gestehe ich, als ich auf die Jugendlichen zurückkomme. „Aber ich kann sie doch nicht anzeigen.“

„Warum nicht?“

„Hallo! Es sind schließlich deine Verwandten“, gebe ich zu bedenken. „Hast du eine Ahnung, was los ist, wenn ich sie wirklich anzeige. Das gäbe einen Skandal, den die Grafschaft nicht so schnell vergisst“, versuche ich mit einem Witz, der Sache etwas an Schärfe zu nehmen. „Dann sprechen deine Verwandten ganz sicher nie mehr ein Wort mit dir. Das kann ich nicht riskieren.“

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