Kapitel 2
Ich schaue mir den Neffen genau an. Unser Bordell, soll von diesem Mann abhängen. Was hat sich Franz nur dabei gedacht? Ich verstehe ihn beim besten Willen nicht. Warum hat er diesen Neffen, den niemand kennt und von dem niemand wusste, dass es ihn überhaupt gibt, angeschleppt und ins Spiel gebracht.
Wir waren eine Familie, das hat Franz immer gesagt. Es war so schön! Und dann kam diese verdammte Prognose: Franz hat Hodenkrebs. Die Ärzte waren sich sicher, er würde nur noch drei Monte leben. Und Scheiße, sie sollten Recht behalten! Der verdammte Krebs war viel zu spät entdeckt worden.
Die Zeit direkt nach seinem Tod war hart für mich. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich für alle verantwortlich. Ich habe genau genommen doch nur die Buchhaltung geführt und war gleichzeitig als Hure im Bordell tätig. Ja, zugegeben: meist nur noch mit besonderen Kunden – aber ja – ich habe mich noch bumsen lassen.
Die Beerdigung war hardcore. Alle haben mich gedrängt, die Grabrede zu halten. Ich habe Franz geliebt! Nicht wie einen Freund, nicht wie einen Freier, mehr wie einen Vater. Einen Vater, den ich nie hatte und der er für uns alle war. Einen besseren Menschen als Franz habe ich in meinem ganzen Leben nicht getroffen.
Ich war am Arsch. Richtig am Arsch, als ich mit 18 hierher kam. Es war eine göttliche Fügung. Ich brauchte Geld, ich brauchte ein Dach über dem Kopf und ich brauchte Freunde. Alles das habe ich hier bekommen. Dank Franz!
Das hier ist kein normaler Puff. Es ist auch ein kleines Bisschen eine soziale Einrichtung. So unglaublich es klingen mag, ich war verloren, ich war ausgestoßen und ich war ein Nichts und ein Niemand. Franz hat mich angenommen, wie ich war. Er hat mich aufgenommen, hat mir ein Dach über dem Kopf gegeben und er hat mich arbeiten lassen. Nicht gerade das, was eine junge Frau gerne macht, aber es war eine Arbeit. Ich habe meinen Körper verkauft. Etwas anderes hatte ich nicht und gelernt habe ich auch nichts.
Es hat mich verdammt viel Überwindung gekostet. Doch ich habe nicht wegen Franz für Geld gefickt. Dank Franz lief alles in halbwegs erträglichen Bahnen ab. Ich wäre unweigerlich in diesem Gewerbe gestrandet. Das ist mir heute klar. Ihm ist es zu verdanken, dass ich nicht ausgebeutet worden bin. Franz war das Beste, was mir in meinem bisherigen Leben widerfahren ist.
Er sah mich nicht nur als Fickfleisch, wie es mit Sicherheit alle anderen Bordellbesitzer getan hätten. Er sah den Mensch in mir, er sah das sensible und zerbrechliche Mädchen, das nie eine Jugend hatte, weil es zu schnell ins Leben eintauchen musste.
Sein Tod hinterlässt eine enorme Lücke. Lässt sich diese je schließen? Wie oft bin ich zu Franz gegangen? Mit meinen Problemen, mit meinen Anliegen und er hatte immer ein offenes Ohr und einen Rat für mich.
Und nun ist alles aus. Ich werde nie wieder zu Franz gehen können, um ihn um Rat zu fragen, bei ihm mein verletzliches Mädchenherz ausweinen können. Das Leben hat mich wieder eingeholt. Ich liebte Franz wie einen Vater!
Ich betrete das Kaminzimmer und sehe diesen Thomas, den Neffen. Die Begräbnisfeier hat mir sehr viel Kraft abverlangt. Ich kann nicht mehr! Scheiße, warum hängt alles an mir? Ich bin ein verletzliches, sensibles Mädchen. Und doch muss ich stark sein für die anderen. Warum ich?
Ich habe bei Tag die Starke gespielt und die Nächte hindurch geweint. Warum nur, hast du mich so früh verlassen? Vater! Mit dir, Franz, stirbt mehr, als jemals zuvor von mir gestorben ist! Ich habe meine Mutter zu Grabe getragen, ich habe meinen leiblichen Vater nie gekannt, ich habe mich verkauft, meinen Körper. Nichts war so schlimm, wie dein Verlust!
Ja, ich stehe in der Tür zum Kaminzimmer und schaue diesen Thomas an. Warum ist er hier? Warum und wie hat ihn Franz im Testament berücksichtigt. Was wird aus dem Bordell, was wird aus meiner Heimat, was wird aus meiner Familie?
„Du bist also der Lieblingsneffe“, sage ich zu Thomas.
Er schaut mich überrascht an. Auch er ist unsicher, das macht ihn sympathisch. Wir haben schon mal etwas gemeinsam. Er stellt Fragen, die ich ihm gerne beantworte und wir setzen uns nebeneinander in die erste Reihe.
Warum sitzen wir zwei da? Ich habe keine Ahnung. Er macht einen sympathischen Eindruck, ja! Aber er ist ein Fremdkörper, er gehört nicht hierher. Er war nie Teil dieser Familie.
Wie durch einen Schleier hindurch nehme ich wahr, was Franz aus dem Video zu mir sagt. Am Sterbebett hat er mir erklärt, dass sein letzter Wille eine große Verantwortung für mich bedeuten würde. Er hat mich aber auch angefleht, ihm diesen zu erfüllen. Ich habe nicht ganz verstanden, was er damit gemeint hat.
Ich sollte 50 Prozent des Betriebes erben und sein Neffe ebenfalls. Wir würden miteinander auskommen müssen, sagt Franz im Video. Erst durch meine Erfahrung im Gewerbe und der Weltoffenheit und Unbedarftheit von Thomas würde es eine Zukunft für uns geben.
Franz hat einen Narren an Thomas gefressen, das wusste ich schon lange. Wenn wieder einmal eine dieser beschissenen Familienfeiern anstand, war er immer fürchterlich unglücklich, weil er seine Verwandtschaft sehen musste. Das einzige, was für ihn ein Lichtblick dieser Feiern war, war Thomas zu sehen. Ich habe ihn nie verstanden.
Thomas liebt mich, wie ich bin, hat er immer gesagt. Er wisse nicht, was damals vorgefallen sei. Es sei jedoch überzeugt, er würde ihn auch dann mit Respekt behandeln, wenn er alles wüsste, hat Franz gesagt.
Thomas alles zu sagen, das hat er sich dann doch nicht getraut. Der Franz, der vor nichts und niemandem Angst hatte, der sich immer für seine Ideale und Werte eingesetzt hat, er hatte davor Angst, was sein Neffe von ihm halten würde, wüsste er über alles Bescheid. Wahnsinn, oder?
Ich ertappe mich dabei, wie ich die Hand von Thomas nehme und mich an ihr festhalte, als das Video beginnt. Er gibt mir Sicherheit und Kraft. Noch nie hatte ein Mann eine solche Wirkung auf mich. Mein Gott, was macht er jetzt? Er legt seine andere Hand auf meine und streichelt mich. Mein Gott, tut das gut!
Scheiße, ich soll 50 Prozent des Unternehmens erben und Thomas auch. Er muss sich bewähren, ich nicht. Und er soll bei mir wohnen und mit mir schlafen. Was verlangt Franz von mir?
„Bevor du eine Entscheidung triffst, lass uns miteinander reden?“, bitte ich ihn.
Er kann unmöglich verstanden haben, was alles auf dem Spiel steht. Es geht nicht nur um ein Erbe, es geht um Existenzen. Das muss ich ihm klar machen. Als er nickt, bin ich erstmal erleichtert.
Wir gehen zum Buffet, das nach dem Wunsch und den Vorgaben von Franz vorbereitet wurde und wir setzen uns an einen Tisch. Dass Sofia und Josy dabei sind, verschafft mir etwas Zeit, mich zu sammeln.
Thomas ist ein netter Kerl und unterhält sich mit den beiden, als ob nichts wäre. Er ist kein Bisschen schüchtern. Wobei ich mir andererseits nicht sicher bin, ob er sich im Klaren darüber ist, dass er mit zwei Huren spricht. Aber genau genommen sind es Mädchen, wie alle anderen und als solche behandelt er sie auch.
„Was mache ich eigentlich hier“, sagt Thomas überraschend und mir bleibt das Herz im Hals stecken. Er will hoffentlich nicht alles hinschmeißen.
Ich versuche ihn zu beruhigen. Natürlich ist das alles auch für ihn ein wenig viel. Er ist ein Landei, ein Rechtsanwalt aus der Provinz und er hat vom wirklichen Leben keine Ahnung. Er war immer wohl behütet. Das wird mir in diesem Augenblick klar.
Ich ziehe ihn hinter mir her und wir fahren in den dritten Stock. Dort habe ich meine kleine Wohnung. Mein Reich umfasst eine kleine Küche, ein tolles Bad, Wohnzimmer und separates Schlafzimmer. Hier wird Thomas für eine Woche einziehen. Das sagt das Testament und ich bin bereit dazu.
„Ich schlafe auf der Couch“, sagt Thomas als erstes, als wir die Türe hinter uns schließen.
„Du schläfst mit mir im Doppelbett. Ob mit Fick oder ohne, aber im Doppelbett. So hat es dein Onkel bestimmt“, sage ich entschlossen.
„Vom Doppelbett steht nichts im Testament“, protestiert er.
„Sei nicht albern. Wir sollen miteinander schlafen. Dann können wir wohl auch im selben Bett liegen“, antworte ich belustigt.
Thomas sieht mich längere Zeit an. Er sagt nichts. Mein Gott, wäre ich diesem Mann unter anderen Umständen begegnet, ich wäre ihm um den Hals gefallen und hätte ihn geküsst. Aber hätte er mich eines Blickes gewürdigt?
„Miriam, was machen wir hier?“, kommt erneut seine Frage.
„Wir müssen uns zusammenraufen. Im Interesse der Mädchen da unten und im Interesse deines Onkels“, versuche ich ihm die Lage klar zu machen.
„Wie meinst du das?“
„Wir waren bis vor wenigen Tagen wie eine Familie. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein toller Mensch dein Onkel war. Du hast ihn nur bei den Familienfeiern gesehen, wo ihn kein Mensch ausstehen konnte. Mit einer Ausnahme. Nun aber hängt unsere ganze Hoffnung an dir“, erkläre ich ihm.
„Warum an mir?“
„Weil du mit mir zusammen das Erbe antreten musst. Du allein entscheidest, ob du die Herausforderung annehmen willst oder nicht.“
„Alles zu verkaufen und jede von Euch bekommt einen Anteil, das ist doch keine schlechte Lösung.“
„Thomas, ich glaube, du hast nicht verstanden, worum es wirklich geht. Die Mädchen hier brauchen nicht Geld, sie brauchen ein Zuhause. Und was ist mit den vielen Mädchen, die noch kommen werden?“, versuche ich ihm zu erklären.
„Ihr wollt also nicht verkaufen, ihr wollt den Laden weiterführen? Und das geht nur, wenn ich mitmache“, sagt er langsam und nachdenklich. Er erkennt offenbar langsam das Problem.
„Alle, wirklich alle da unten wünschen sich aus tiefstem Herzen, dass es weitergeht. Sie haben hier Heimat und Freunde gefunden. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, alle Hoffnungen hängen an dir.“
„Und an dir“, sagt er und schaut mir tief in die Augen.
„Ja, auch an mir, wenn du so willst. Aber meine Rolle ist klar und alle wissen, dass ich nichts lieber machen würde, als mich für eine Zukunft des Clubs einzusetzen. Du bist die große Unbekannte und wegen dir machen sich alle Sorgen.“
„Hast du von diesem Testament gewusst?“
„Nein, ich hatte keine Ahnung. Aber es wundert mich nicht. Deinem Onkel lag dieses Bordell – diese Zufluchtsstätte – besonders am Herzen. Was ich nicht weiß ist, wie du dazu stehst“, antworte ich ehrlich.
Wir sitzen uns gegenüber. Er im Sessel, ich auf die Couch.
„Möchtest du ein Glas Wein?“, versuche ich die Situation etwas aufzulockern. Er nickt.
Ich gehe in die Küche und hole eine Flasche Cabernet und zwei Gläser. Als ich zurückkomme, sehe ich einen sehr nachdenklichen Tom. Ich bin erleichtert, er macht es sich nicht einfach, er versucht die richtige Entscheidung zu treffen.
„Stört es dich, wenn ich es mir bequem mache und das Kleid ausziehe?“, frage ich.
„Mach nur, du bist hier zu Hause.“
Ich ziehe das Kleid aus und sehe, wie mich Tom aus riesengroßen Augen anstarrt.
„Du hast einen Tanga an. Das habe ich bei diesem Kleid gar nicht gesehen. Ich wusste nicht ob du nackt darunter bist oder nicht“, gesteht er schüchtern.
Ich muss grinsen. Auch er ist also ein Mann! Gott sei Dank! Ich finde ihn sogar irgendwie süß. Wusste Franz schon, dass mir dieser Mann gefällt? Das alte Scheusal beeinflusst mein Leben noch über seinen Tod hinaus, denke ich liebevoll an ihn.
„Er fehlt mir!“, gestehe ich laut.
„Onkel Franz?“
„Ja, Franz. Ich habe nie einen liebevolleren Menschen kennen gelernt, als ihn. Ich bin hierhergekommen und war verzweifelt. Ich wusste keinen anderen Ausweg, als meinen Körper zu verkaufen, als mich zu verkaufen. Franz hat das erkannt und hat lange mit mir gesprochen. Am Ende war mir klar, es ist zurzeit das einzige, was ich verkaufen kann, aber ich mache es mit Würde. Franz hat mir meine Selbstachtung zurückgegeben und noch so viel mehr“, erzähle ich aus alten Zeiten.
„Wie lange ist das her?“, fragt mich Tom, während ich mir einen Bademantel überziehe.
„Ich war gerade 18 geworden. Meine Mutter hat mir jeden Tag gesagt, wie gut sie es haben könnte, würde es mich nicht geben. Ich habe mich von ihr getrennt und hier gelandet.“
„Du bist aber keine normale Nutte hier?“
„Keines der Mädchen ist eine normale Nutte. Dafür hat sich Franz immer eingesetzt. Jedes Mädchen ist etwas Besonderes. Und ja, ich habe von Anfang an als Nutte hier gearbeitet und später auch die Buchhaltung übernommen. Dein Onkel hat in den letzten Monaten über alles mit mir gesprochen und ich glaube, er hat auch meine Einschätzung berücksichtigt.“
„Davon bin ich überzeugt. Du warst für ihn offensichtlich etwas ganz Besonderes und ich kann das gut verstehen. Du bist nicht nur eine ausgesprochen hübsche, sondern auch eine sehr kluge Frau“, meint er.
„Das kann ich nicht beurteilen“, antworte ich verlegen.
„Davon bin ich überzeugt. Aber was will er von mir. Ich hatte nie etwas mit dieser Welt zu schaffen und habe so gar keine Erfahrung. Außerdem soll ich laut Testament mit dir vögeln. Ist das für dich so normal?“, will er wissen.
„Ich bin eine Nutte. Ich vögele mit vielen Männern. Der Gedanke, mit dir Sex zu haben, ist nicht schlimm. Im Gegenteil!“, ist meine Antwort. Ich muss lächeln. Er macht sich Sorgen um mich. Einfach süß!