3. Interludium im Skriptorium

Liebe LeserInnen,

(ja, politisch korrekt wollen wir schon sein. Wenn auch das, was wir in unseren Erzählungen mit den Vertreterinnen des schwachen Geschlechts veranstalten, nicht hundertprozentig emanzipationskonform sein mag. Gleichwohl ist der Gerechtigkeitssinn des Autors nicht gänzlich erloschen: gelegentlich werden auch die Incubusse untergebuttert.)

Die Rubrizierung des folgenden Intermezzo scherzoso zur Kategorie „BDSM“ rechtfertigt sich allein durch ihre Eigenschaft als Bestandteil der Dressur-Geschichte. Meinen Freunden, die möglicher Weise von der Spielanweisung „vanilissimo“ für dieses Zwischenstück enttäuscht sind, verspreche ich [und den Kritikern des 1. Teils drohe ich an :-)]: es kommen in den weiteren Folgen dieser unendlichen Geschichte auch wieder bessere (also härtere) Zeiten (Zeilen)!

Hieronymus Handfest machte eine viertel Drehung in seinem Bürostuhl und schaute aus dem Fenster hinaus. Das Eingangskapitel, gestern aus einer Stimmung brutaler Entschlossenheit heraus begonnen, hatte er abgeschlossen. Man würde es später im Buch durchaus als Eingangskapitel stehen lassen können, aber als Anfang der imaginierten Handlung selbst taugte es natürlich nicht. Wie fortfahren? Sollte er besser die Ereignisse an der Perlenschnur der Chronologie aufreihen?

Nein, das wäre allzu anspruchslos. Er entschloss sich, zunächst ein „Femdom-Kapitel“ als Kontrapunkt zwischenzuschalten; danach würde man weitersehen. Zwar gefiel ihm der Ausdruck „Femdom“ nicht sonderlich, doch ermöglichte ihm dessen Verwendung die kürzest mögliche Inhaltsangabe des 2. Kapitels. Die Geschichte von Laura — diese Geschichte, denn er hatte bereits eine Reihe weiterer Episoden geschrieben, begonnen oder skizziert, darunter insbesondere das Schlüsselerlebnis seiner Begegnung mit ihr – hatte er heute morgen aus seinen Textvorräten geholt und lustvoll ausgefeilt. Nebenbei bemerkt verdankten ausgerechnet die Laura-Geschichten, deren Tendenz seiner eher dominanten Neigung eigentlich zuwider liefen, ihre Entstehung einer tatsächlichen Begegnung. Diese waren letztlich ebenso berührungs- und wortlos verlaufen waren wie diejenigen des um einiges berühmteren literaturgeschichtlichen Namensspenders. (Dieses Wort sprechen Sie aber bitte langsam aus: damit Sie mir nicht etwa aus Petrarca einen „Samenspender“ machen! Obwohl ja auch diese Bezeichnung im vorliegenden Zusammenhang nicht gänzlich aus der Luft gegriffen wäre.) Man könnte also sagen, dass die Laura-Episoden zugleich aus einem literarischen wie einem realen Quellcode entwickelt wurden.

Mit Literatur hatte er sich trotzdem nur wenig beschäftigt und sich mehr als Schreibender denn als Lesender versucht.

Als er dann feststellen musste, dass die Menschheit seine poetischen Elaborationen verschmähte, verfertigte er tief schürfende Essays von denen er selbst glaubte, dass sie einige scharfsinnige Gedankengänge enthielten. Der Rest der Menschheit aber glaubte das offenbar nicht und ließe ihn links liegen. Weder kauften sie jene beiden Bücher, die er auf eigene Kosten herausgegeben hatte („Zur Lage der Welt im 21. Jahrhundert“ und „Was wird aus unserer Welt werden?“), noch waren sie sie von denjenigen seiner Analysen beeindruckt, die er im Internet zur kostenfreien Lektüre eingestellt hatte.

Und deshalb geschah es, dass er beschloss, sich an dieser schnöden Welt zu rächen. Nicht indem er Politiker wurde: in dieser Rolle hatte ja schon ein anderer vor einiger Zeit in ausgesprochen gründlicher Weise Rache für die Verkennung seiner vermeintlichen künstlerischen Talente genommen. Nein: er würde der Welt als Pornograph einheizen. Und das nicht als Vanillepulverfabrikant, sondern mit kompromisslos bösen Geschichten, in der Tradition des marternden Marquis Donatien Alphonse François de Sade, des zugerittenen Ritters Leopold von Sacher-Masoch und ganz besonders in der Nachfolge des großartigsten Balz-Buches aller Zeiten: Dominique Aurys Histoire d’O.

Dass er mit dieser Abart der Belletristik keinen Einzug in die Tempelhallen der literarischen Orthodoxie halten würde, war ihm klar. Es störte ihn aber auch nur kurze Zeit, denn der Mangel an Ruhm wurde schon bald überkompensiert durch die Menge an Mist, welchen das begeisterte Leservieh in den von ihm (freilich nicht ohne herkulische Arbeitsleistung) mit immer neuen Vorstellungen dekorierten Ställen des Augias ablieferte.(Genauer müsste man zwar „die Buchkäufer“ sagen, aber diese Art von Büchern verlieh praktisch niemand: da war beinahe jede/r Leser/in ein/e Käufer/in).

Er hätte daher durchaus in einem weit üppigeren Rahmen leben können als in jenem früheren Forsthaus, das nur im Erdgeschoss solide aus Massiv-Backsteinen –gelben übrigens- aufgemauert worden war, im 1. Stock und im Dachgeschoss dagegen Kosten sparend als Fachwerkbau errichtet. Für eine Villa, auch in einer berühmteren oder schöner gelegenen Stadt, hätte sein mittlerweile angesammeltes Vermögen bequem gereicht. Sogar in fremden Ländern im sonnigen Süden, oder in irgendeiner beeindruckenden Bergkulisse in den Schweizer Alpen hätte er seine Zelte aufschlagen und das Leben genießen können, anstatt sich am Computertisch mit seinen perversen Geschichten wie ein abzuquälen.

In seinem Alter — Anfang 40 – hätte ihm ein Ortswechsel keine Schwierigkeiten bereitet. Doch einerseits war er schon zu sehr verwurzelt in diesem Ort, den kein Mensch mit seiner rabenschwarzen Verbalerotik in Verbindung gebracht hätte (wovor auch sein Pseudonym ihn – und die Gemeinde – schützte). Einerseits verströmte der Ort eine banale Biederkeit, welche sein Gehirn gleichwohl wieder und wieder zu den wildesten Kontrastphantasien stimulierte. Andererseits verspürte er dort, ohne dass das Städtchen etwa schmutzig gewesen wäre, einen unbestimmbaren Hauch von — TWA, von was eigentlich: Schlampigkeit? Gammeligkeit? Nein, diese Ausdrücke trafen nicht jenes Fluidum, in welchem seine Fantasie sich wälzte wie in einem geistigen Lotterbett. Es war etwas, was andere wahrscheinlich gar nicht verspürten; nennen wir das, wofür er seinen Wohnort mochte, mangels besserer Begriffe „Nonchalance“. Außerdem war er viel zu beschäftigt, um an einen Umzug zu denken. Das Schreiben war ihm zwar geheime Lust, doch gleichzeitig auch eine harte Last- Für große Umzugspläne oder gar Umzugsarbeiten hatte er schlicht keine Zeit, wenn er die Fülle seiner Einfälle mit einem Mindestmaß an Sorgfalt zu belletristischen Texten formen wollte.

Denn dieses Schreiben der extremsten Pornographie verlangte von ihm, scheinbar paradox, ein hohes Maß an Disziplin, sogar an Askese. Auch das hinderte ihn daran, seinen Reichtum wirklich zu genießen oder auch nur durch Ausgeben zu vermindern. Die Konstruktion von ebenso erregenden wie inhaltlich konsistenten Erzählungen war nur zu leisten im geistigen Spagat der Ent-Fesselung einer zügellosen Phantasie und ihrer gleichzeitigen intellektuellen Bändigung durch angestrengtestes Nachdenken, Vergleichen, Verknüpfen. Er mochte keine Geschichten, in denen der Autor oder die Autorin sich von den momentanen Eingebungen ihrer Fantasie dazu hinreißen ließen, auf S. 50 den Kopf des Opfers kahl zu rasieren und es auf S. 51 durch das Ausreißen der Haupthaare zu quälen.

In mancher Hinsicht war er denn doch nüchtern und emotionslos. Ansonsten aber war er ein romantischer Träumer, ein radikaler Romantiker auf der Suche nach dem Absoluten. Wenn er einmal in Schwung gekommen war, verbiss er sich grimmig wie ein Kampfhund und bis zur völligen Erschöpfung in seine eigenen Fantasiegebilde.

So war es vielleicht ein Segen für die Menschheit, dass er nicht Politiker geworden war, sondern nur Pornograph. Und zwischendurch, wenn er sich von seinen Schreib-Räuschen erholen wollte, erfreute er die Damenwelt sogar als geiler galanter Kurschatten.

Momentan fühlte er sich abgeschlafft und ausgepumpt, und leer war er in der Tat. Eigentlich hatte er es sich zum Prinzip gemacht, allenfalls am Abend zu ejakulieren, nach getaner Schreibarbeit. Doch

in der vergangenen Woche hatte er von früh bis spät vor dem PC gesessen hatte um verschiedene seiner Texte fortzuführen. Unterbrochen wurden diese ‚Sitzungen‘ lediglich von Toilettengängen (manchmal wünschte er sich, er hätte unter dem Schreibtisch eine hocken, wie sie in den einschlägigen Geschichten — auch den seinen — als mobile Klos herhalten müssen; an intensives Denken wäre dann aber wohl nicht mehr zu denken gewesen) sowie vom Essen, direkt vorm Bildschirm eingenommen: häufig nur trockenes Brot, Leitungswasser, manchmal Käse, Obst dazu, auch Eier. Zwei oder drei Flaschen Bier gönnte er sich aber doch am Tag; das war nahrhaft, gesund und regte, während es die Kehle hinunter floss, den Fluss seiner perversen Vorstellungen an.

Nach der tagelangen Plackerei und dem stundenlangen Korrekturlesen heute morgen glaubte er, eine kleine Erholung nicht nur verdient, sondern auch dringend nötig zu haben, denn mittlerweile begann der Kleine Herr nach seinen dauernden Liegestützen in der Hose — rauf, runter, rauf, runter, immer im Rhythmus der Reizworte und überreizten Vorstellungen, wie sie in die Tasten und auf den Monitor kamen – zu schmerzen.

Einstmals hielt man Masturbation für schädlich; heute befürchtet man Schäden von der Enthaltsamkeit, dachte er schmunzelnd und gab dem Druck der beim Wiederlesen seiner bisherigen sadistischen und masochistischen Eingebungen schmerzhaft geschwollenen Schwellkörper nach. Sogar gleich zweimal hatte er sich heute Morgen selbst befriedigt. Den temporären Lustgewinn bezahlte er freilich mit einem sofortigen Erschlaffen seiner Schöpferkraft. Freilich wäre heute in seinem Kopfkino wohl auch dann keine neue Vorstellung mehr angelaufen, wenn er sein Sperma nicht zweimal ins Papiertaschentuch hätte auslaufen lassen.

Er knabberte noch ein paar Chips und trank ein großes Glas Wasser. Weil er seinen Körper nicht zur Salzmine machen wollte, und weil der Begriff „Embonpoint“ für die Wölbung seines Bauches auf dem Wege der Wandlung zu einem Euphemismus begriffen war, mied er Potato Chips aus der Tüte und produzierte sein Knabberzeug selber, indem er Graubrot — dafür kaufte er das von gestern, denn manchmal war er, in kleinen Dingen eher als im Großen, sogar geizig – in ganz dünne Scheiben schnitt. Diese toastete er leicht und ließ sie anschließend weiter trocknen. Zuletzt zerbrach er sie in mundgerechte Stücke. Dieses Zerbrechen der knackenden Brotscheiben bereitete ihm einen geradezu infantilen Spaß: ja, ein gutes Stück Kind steckte trotz allem noch in diesem verbalsadistischen Wüterich.

Eigentlich mied er Sonntags das Städtchen und erst recht das Kurviertel, denn an diesem Tag kamen, besonders bei solch einem wunderschönen Frühlingswetter wie heute, die Ausflügler aus den näheren und ferneren Dörfern, Städtchen und Industriestädten in hellen Scharen und füllten den Kurpark und die Cafés. Aber vielleicht wäre ja eine Anregung für ihn dabei — ein schönes oder, noch besser, ein ungewöhnliches und eindrucksvolles Gesicht? Oder ein großer Busen, von welchen an solchen warmen Tagen sicherlich mehr zu sehen sein würde(n) als unter winterlichen Wollbedeckungen?

Bis zum Stadtrand hatte er eine viertel Stunde zu laufen, dann noch einige Minuten in die Altstadt und einige weitere zum Kurviertel auf der anderen Seite. Schon vor Erreichen der ersten Häuser stoppte ihn ein Schild mit der Aufschrift „Heute Flohmarkt im EKZ Bad Wildtal“. Zwei oder drei Mal hatte er diesen Flohmarkt besucht, er fand ihn langweilig und unergiebig. Trotzdem legte er heute einen Schlenker ein: vielleicht gab es ja dort irgendetwas zu sehen, was seiner Einbildungkraft wieder auf die Sprünge helfen würde?

Geistesabwesend schlenderte er über das Parkgelände, das Wochentags mit Autos gefüllt war und wo heute der Flohmarkt abgehalten wurde. Er nahm die angebotenen Waren und die Händler, Gucker und Kunden kaum wahr, denn wieder war er in seine Erzählung eingetaucht.

Und doch erfuhr er hier ein kreatives „Heureka“: Ein Flohmarkt, das war ein glaubwürdiger Rahmen für ein zwangloses Kennenlernen! Auf einem solchen würde er die erste Begegnung von Andrea mit ihrem zukünftigen Peiniger inszenieren. Wenn er ihr dann noch ein rotes Käppchen aufsetzen würde, wie es jene (wenngleich ältere und unangenehm mit Schminke aufgedonnerte) offenbar halbprofessionelle Antikenverkäuferin dort drüben trug, und für seinen dämonischen Helden einen hübschen Vornamen fand, konnte er das nächste Kapitel präsentieren, in welchem er im zeitlichen Rückgriff die erste Begegnung von Held und Heldin seiner Story schildern würde.

Nun hatte sich der Knoten gelöst: wieder sprudelten die Einfälle wie gewohnt aus ihm hervor. Rotkäppchen Andrea lebte noch mit ihrer zusammen, die hatte aber gerade einen Mann an der Angel und brauchte deshalb die Wohnung am Wochenende für die ungehemmte Entfaltung ihrer notgeilen Verführungskünste. „Sturmfreie Bude“ für die Alte, dachte er grinsend, und machte deren zu einem weitaus jüngeren Liebhaber. „Das ist doch hübsch pervers“ freute er sich über seine Idee und steckte den weiteren Weg der Entwicklung bis zu den Szenen des Eingangskapitels ab.

Sechs Monate lang würde die Eingewöhnungsphase dauern. Dann würde die ihren jungen Liebhaber heiraten. Und weil nun für Andrea dauerhaft kein Platz mehr in Muttis Wohnung war (im Grunde aber deshalb, weil die wohnungslose ihren Peiniger liebte) würde sie bei ihrem Flohmarktfund einziehen. Eine etwa sechsmonatige „Intensivierungsphase“ sollte sich anschließen. Irgendwo, vermutlich gegen das Ende der ersten Dressurphase zu, würde sich die im Eingangskapitel geschilderte, schon recht harte Behandlung abspielen.

Über die weitere Entwicklung der Beziehung bzw. der Geschichte nach dem Andreas Einzug als Sklavin brauchte er sich jetzt noch keine Gedanken zu machen, dazu würde ihm schon rechtzeitig etwas einfallen. Doch brauchte er noch einen Namen für seinen Helden. „Rotkäppchen und der böse Gotthilf“ kam ihm in den Sinn, aber möglicher Weise würden nicht alle Leser die Ironie eines solchen Namens goutieren. Außerdem führte ein Zweisilber zu weit weg vom Grimmschen Titelmuster der märchenhaften Unschuld. „Rotkäppchen und der böse Rolf“ – das wäre ideal. Doch belehrte ihn ein Google-Klick, dass andere schon vor ihm den gleichen Einfall gehabt hatten. Unabhängig von der Frage, ob diese Vorgänger Copyright-Schutz genossen oder nicht, wollte er sich nicht auf schon gebahnten Spuren bewegen. Bis ihm hier etwas geeignetes einfiel, konnte er einen beliebigen Namen verwenden, und würde diesen hinterher mit der Word-Änderungsfunktion ersetzen.

Drei Dinge trug er immer mit sich herum.

Das Handy, auch wenn er es so gut wie nie benötigte. Er kannte kaum jemanden und jenen Damen meist mittleren, manchmal sogar schon vorgerückten Alters, mit deren Körpern er während ihres Kuraufenthaltes in diesem Bad nähere Bekanntschaft machte (und denen er aus praktischen Gründen leider seine Telefonnummer verraten musste) machte er gleich bei dem ersten Zusammentreffen klar, dass er keine Dauerbeziehungen suchte. Ohnehin bevorzugte er aus diesem Grunde die Verheirateten unter ihnen, die ihrerseits mit einem kleinen Abenteuer zufrieden und nicht auf der Suche nach einem Lebensgefährten waren.

Seine Digitalkamera hatte ein zehnfaches optisches Zoom und einen ausklappbaren Monitor. Niemand hätte vermutet dass er, wenn er das Gerät auf dem Schoß hielt und scheinbar daran herum spielte, fleißig seine fotografische Sammlung von irgendwie bemerkenswerten weiblichen Physiognomien erweiterte.

Das wichtigste Utensil auf seinen Spaziergängen war jedoch ein Mini-Laptop Wenn er diesen aus seiner Umhängetasche heraus kramte und drauf zu tippen begann, versank er in kurzer Zeit völlig in den Zeilen auf dem Monitor und nahm alles, was um ihn herum vorging, nur noch schemenhaft wahr, wie durch einen Nebel.

So auch jetzt. Vom Flohmarkt war er in die historische Altstadt geeilt, deren unzeitgemäßes Aussehen ihm so sehr behagte. Ja: er liebte dieses kleine Städtchen, in dem er seit nun schon etlichen Jahren lebte. Die Sehenswürdigkeiten hatten es zwar, als Einzelobjekte, nicht zu Sternen in Baedeker gebracht. Jedoch strahlte die große Anzahl liebevoll gepflegter altertümlicher Sandstein- und Fachwerkgebäude als Ensemble ein nostalgisches Flair aus, das sogar in diesen Zeiten noch einige Feriengäste anzog. Der Ort bot keinen vergangenen Glanz, nicht einmal die Patina einer großen Geschichte, wie sie noch heute reiche Reisende und Residierende z. B. nach Baden-Baden lockt.

Bad Wildtal hatte seine Wirtschaftswunder-Konjunktur gehabt, damals, als die Sozialkassen noch prall gefüllt gewesen waren. Doch seine Kurgäste, welche zum allergrößten Teil auf Versicherungskosten herkamen, hinterließen keine literarischen Erinnerungen, mit denen sich Selbstzahler hätten anlocken lassen können. Und mit dem Schwinden der Geldfülle und den diversen Einschränkungen — euphemistisch allesamt als „Reformen“ bezeichnet – schwand in Bad Wildtal auch der Besucherstrom. Die Gastronomen nährten sich redlich, aber mühsam, und zu einem guten Teil jetzt von Wochenendausflüglern, die hier ein kleines Stündchen am schmalen Fluss entlang durch den Kurpark flanierten und sich anschließend für den Rest des Nachmittags von einer solch ungewohnten Anstrengung bei Kaffee, Kuchen und Kurmusik erholten.

Sein Lieblingsplatz für das Schreiben im Freien war eine Bank in den Resten der Wasserburg, in einer Mauernische und mit Blick auf das Flüsschen. Dort tippte er die Fortsetzung der Geschichte und den Beginn der Handlung in seinen Kleincomputer. Als es dunkel wurde, wechselte er auf eine Bank unter einer Laterne, und gegen Mitternacht hatte der das nächste Kapitel abgeschlossen: „Rotkäppchen und der böse Dolf“. Auch der Name für die Zentralfigur der Geschichte war also gefunden. Irgendwann im Laufe des Abends war ihm doch noch die erlösende Idee gekommen, um der Hauptperson seiner Geschichte, die darin nicht nur andere auszog, sondern sich gelegentlich auch selbst splitternackt präsentieren musste, doch wenigstens einen kleidsamen Namen überzuziehen.

Auf dem Heimweg grüßte er kurz den Nachtportier eines Hotels, den er kannte, und tauchte dann auf dem Fußweg zu seinem Hause rasch in die Dunkelheit ein. Jetzt erst spürte er die Kälte der Nacht in seinen Gliedern.

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