Diese Geschichte konzentriert sich auf die Beziehungen und Konflikte der Protagonisten und Sex gibt es nur einmal. Wer Hardcore-Stories möchte, braucht also nicht weiterzulesen.
Die Rose von Shenzhen
I.
André Lebel hatte etliche Jahre als Simultandolmetscher im diplomatischen Dienst gearbeitet und sich in vorgerücktem Alter auf einen ruhigeren Posten als Sprachlehrer zurückgezogen. Er beherrschte nicht nur seine Muttersprache vollendet, sondern auch ein so perfektes Oxford-Englisch, dass man ihn in den USA bisweilen für einen Briten gehalten hatte, ein ebenso tadelloses Hochdeutsch und kastilianisches Spanisch.
Putonghua, das moderne Hochchinesisch, das er nicht ganz ohne Akzent sprach, war seine nächste Herausforderung, ohne dass er es zunächst geplant hatte, aber nach dem Tod seiner Frau war er mit 64 Jahren auf Reisen gegangen, um seine Einsamkeit auszufüllen und dabei dem Reich der Mitte verfallen, wobei er bald nicht mehr nur Sprachstudien betrieb.
Als klassisch gebildeter und vielseitig interessierter Mann hatte er sich auch mit den historischen Forschungen der Annales-Schule befasst, die nicht Herrscher oder Kriege, sondern das Alltagsleben der Menschen zum Gegenstand hat, wobei ihn vor allem faszinierte, wie vielfältig und komplex das Staatsleben unter der offiziellen Ebene ist und die Leistungen wie vieler Menschen zusammengebracht und koordiniert werden müssen, um auch nur eine einzige vernünftige Regierung möglich zu machen, gar nicht zu reden von allen anderen Errungenschaften der Zivilisation. Nun wollte er wissen, ob dies eine europäische Eigenheit ist oder eine generelle Bedingung des Zusammenlebens und dazu ging er nach China, denn das Klischee besagt ja, dass dort alles anders wäre.
Ohne seine eigenen Veröffentlichungen vorwegzunehmen, darf hier schon gesagt werden, dass das Prinzip zwar auch in Asien gilt, sich aber in anderen Formen ausdrückt und André eine Weile brauchte, um die Muster zu erkennen. Als Anschauungsobjekt hatte er sich den dicksten Brocken überhaupt ausgesucht: die Mega-Metropolregion im Perlflussdelta, die aus elf miteinander verwachsenen Millionenstädten besteht — die gigantischste urbane Region, die Menschen jemals geschaffen haben.
Ein bescheidenes Apartment in einer dieser Riesenstädte, genauer gesagt in einem der alten Stadtviertel von Shenzhen, war für den gut situierten Ausländer leicht zu finden gewesen und sein Vermieter Herr Fa hatte zuerst mit Verblüffung reagiert, weil eine Langnase sich überhaupt für diese rein chinesische und eher ruhige Wohngegend interessierte anstatt für die betriebsamen neuen Bezirke, in denen das grosse Geld gemacht wird, aber bald lernte er, den alten Herrn zu respektieren und schickte bisweilen sogar seinen Sohn Chunhe zu ihm, um den Jungen mit Wissen bekannt zu machen, das es in den Schulen nicht gab.
Nun war André 68 Jahre alt, ungeachtet seiner weissen Haare immer noch rüstig und mit 1,98 m eine wahrhaft imponierende Gestalt, wenn er durch die Strassen wanderte, seine Sinne nach allen Richtungen hin offen hielt und die kaum fassbare Komplexität seiner Umgebung auf sich wirken liess, denn dies war seine Art von Forschung: selbst zu riechen, zu fühlen und zu schmecken, wie das Alltagsleben abseits der glitzernden Prachtbauten und Touristenattraktionen verlief. Wie das alles funktionierte, angefangen beim Zement, der die Mauersteine der Häuser zusammenhielt — in welchem Verhältnis waren seine Bestandteile gemischt? Wo wurde er produziert? usw. — bis hin zum Verhalten der einzelnen Menschen — zahlten sie ihre Steuern, weil sie es tun mussten oder aus patriotischer Begeisterung heraus? Gab es ein Mittleres zwischen diesen Extremen? Und wie lebten sie, wenn alle Verpflichtungen erfüllt waren, wo verbrachten sie den Rest ihrer Zeit?
„Wenn wir je eine Zeitmaschine bekommen“, hatte Chunhes Schuldirektor gesagt, „nehme ich diesen Mann mit in die Song-Dynastie. Eine solche Detailbesessenheit ist genau das, was den Überlieferungen von damals fehlt.“
André hatte das Kompliment mit einem Schmunzeln entgegen genommen, ehe er seine Streifzüge fortsetzte, denn es gab auch in der Gegenwart noch Einiges zu entdecken.
Man nehme nur diesen Laden. Die Eingangstür wirkte wie gewöhnliche Ware aus dem Grosshandel, aber der obere Teil des Türrahmens zeigte einige Schnitzereien, die ganz und gar nicht dazu passten, denn sie waren viel zu fein ausgearbeitet, um…
Der Gedanke brach plötzlich ab und André blinzelte unsicher, als seine gesamte Wahrnehmung erzitterte.
Schliesslich konnte er sich wieder konzentrieren und ein beinahe idiotisches Lächeln ging über sein Gesicht, als er merkte, was ihn so verwirrt hatte.
Mae Sheng, 28, stolze Eigentümerin des Ladens und ein rassiges Frauchen mit 1,70 m Körpergrösse und leicht rötlichen Haaren, erwiderte das Lächeln routiniert, denn sie war es gewöhnt, die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen.
Dabei ahnten die Glotzer noch nicht einmal, was ihnen entging: Zur Arbeit trug Mae ihre langen Haare hochgesteckt, so dass die Blicke zuerst an ihrem Schmollmund und in zweiter Linie an den sinnlichen Augen hängen blieben, die schlanke Taille oder die durchtrainierten Beine waren unter der Arbeitskleidung nur zu ahnen, ebenso die makellos geformten Brüste in 85C, aber wenn sie nach einem Zehn-Stunden-Tag die verschwitzten Sachen abwarf und dann vor dem Spiegel ihre Haarpracht ausschüttelte, gab es kaum einen herrlicheren Anblick im ganzen Stadtviertel.
Fiel dann auch noch die Hose, wäre mancher Mann seinerseits geradezu auf die Knie gefallen, um die rasierten Beine, schönen Waden und sorgsam gestutzten Schamhaare mit ehrfürchtigen Küssen zu bedecken und manche andere Frau wäre geplatzt vor Neid.
Ihre Intelligenz und Geschäftstüchtigkeit — sie führte den Laden nicht nur, sondern hatte das kleine Unternehmen auch aufgebaut und dabei alle Höhen und Tiefen der Selbstständigkeit überlebt — fielen bei solchen Betrachtungen meist unter den Tisch und wenn es die Leute zu sehr übertrieben, wies Mae mit einem spöttischen Unterton darauf hin, dass weder Männer noch Frauen etwas von ihr zu befürchten hätten, denn sie sei vergeben.
Ihr Freund, ein Handwerker, hatte sich unter dem Einfluss der amerikanischen Kulturindustrie und als Rebellion gegen seine konservativen Eltern eine Weile „Joe Shen“ genannt, bis ihn das Überlegenheitsgehabe der Yankees zu sehr abstiess und er wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrte, ein Trend, der seit den 2000ern verstärkt zu beobachten ist.
„Auch eine Modeerscheinung kann den richtigen Weg zeigen. Mein Name ist Shen Xiaoqiu“, hatte er eines Morgens mit grimmiger Entschlossenheit gesagt und dabei war es geblieben.
Diese Entschlossenheit hatte Mae angezogen und sie bis in sein Bett geführt, gleichzeitig war sie der Anlass zu einem scheinbar kleinen Konflikt, der die Zukunft hätte ahnen lassen können.
„Es ist falsch, dass du dir einen amerikanischen Vornamen gibst“, hatte er nach einigen Wochen gesagt, als der erste Rausch verflogen war.
„Du solltest Sheng Bao heissen.“
Im Chinesischen steht der Familienname an erster Stelle, daher diese Reihenfolge. Bao hat mehrere Bedeutungen, je nach dem Kontext und als Frauenname heisst es „Juwel“. Obwohl das zu unserer Freundin gepasst hätte, hatte sie sich dagegen entschieden.
„Meine Eltern haben mich Mae genannt und ich bleibe Mae.“
Das hatte Xiaoqiu geschluckt, denn Respekt gegenüber den Eltern und den Vorfahren allgemein hat in China ebenfalls einen hohen Stellenwert.
„Für mich bleibst du mein Juwel“, hatte er gesagt und sie in die Arme geschlossen, womit er sein Maximum an Zärtlichkeit aufbot. Nun glaubten beide, glücklich zu sein und ihre Umgebung bestärkte sie darin.
„Shen und Sheng … hmmm. Shen-Sheng aus Shenzhen. Passt gut zusammen“, hatte eine Nachbarin gescherzt.
Auch in einer Welt der stetigen Veränderungen geht es übrigens nicht unendlich hoch hinaus, das hatte Mae bei einigen Rückschlägen als Geschäftsfrau gelernt und so waren ihre Ziele bescheiden — den Laden am Laufen halten, einige Rücklagen für Notfälle bilden, vielleicht einmal Kinder. Dass der Mann nicht perfekt war und beispielsweise nichts von Romantik verstand, musste sie dann wohl hinnehmen.
Bei diesem Kompromiss verblieb noch eine Menge unerfüllter Sehnsucht in ihrer Seele, die sie für gewöhnlich verdrängte. Sicher, hin wieder fragte sie sich, wie es wohl mit einem anderen Mann sein würde, vielleicht einem von denen, die sie durch das Schaufenster hindurch anstarrten so wie dieser grosse Alte gerade jetzt, aber das war auch schon alles.
II.
Es wäre gelogen, wenn man nun sagen wollte, André habe sich der Frau „wie magisch angezogen“ genähert. Er stand einen Moment auf dem Bürgersteig wie erstarrt, hatte sich dann aber wieder gefasst und betrat den Laden.
Kaufte eine Kleinigkeit, plauderte mit der Verkäuferin, kaufte noch etwas.
Mae hörte ihre Angestellte kichern.
Nun, Quan Pingfen kicherte oft und manchmal beneidete Mae die Jüngere um ihr unbeschwertes Gemüt, allerdings musste sie zugeben, dass dieser Weisse gut aussah und eine kultivierte Stimme besass, die viele Frauen attraktiv finden würden.
Sie hob das Lenovo-Tablet mit der Liste ihrer Warenbestände vor die Brust wie einen Schutzschild und schob sich etwas näher an die beiden heran.
Beobachtete mit einer Präzision, wie sie keine Überwachungskamera aufbringen konnte.
Fing gelegentlich einen Blick des Mannes auf…
Die Türglocke unterbrach den Zauber, als zwei neue Kunden eintraten. Pingfen entschuldigte sich mit einem letzten strahlenden Lächeln bei André und kümmerte sich dann um die Anderen.
Der alte Herr nahm die Einkaufstüte vom Tresen, trat dann, als hätte er etwas vergessen, zu Mae heran und fragte nach einem Softdrink in einer bestimmten Geschmacksrichtung, mit dem man Cocktails mixen konnte. Mae antwortete mit Sachkenntnis und Freundlichkeit, denn der Mann wirkte auf Anhieb sympathisch, erstarrte jedoch, als ihre Ohren plötzlich eine Einladung zu einem solchen Cocktail vernahmen.
Schlagartig verschloss sich ihr schönes Gesicht, so dass André erschrak, denn er wusste die Zeichen zu deuten: Chinesen sind gut darin, ihre Gefühle zu verbergen, lächeln selbst bei Schmerzen, weil sie andere Leute nicht mit ihren Schwächen belästigen wollen; wenn sie aber nicht mehr lächeln, hat man etwas gefährlich falsch gemacht.
Statt Angst zeigte Andrés Gesicht jedoch nur Besorgnis, denn er konnte sich vor dieser Frau nicht fürchten.
„Ich bin vergeben“, antwortete Mae schliesslich mit einer Ruhe, als spräche sie nur übers Wetter.
Für den Hauch einer Sekunde wirkte André so verwundet wie ein grosses gutmütiges Tier, das man grundlos getreten hat.
Dann kehrte sein Lächeln zurück und erst jetzt fühlte Mae den Stich in ihrem Herzen.
„Ich gratuliere“, hörte sie ihn sagen, ehe er sich mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete und Mae, die sich ihrer Logik nicht mehr sicher war, trat rasch ins Hinterzimmer des Ladens, um nicht vor den Augen anderer Leute die Fassung zu verlieren. Mit zittriger Hand legte sie das Tablet auf den Schreibtisch, sank in den Stuhl und krampfte beide Hände um die Armlehnen…
André hatte unterdessen die Strassenbahn genommen, um buchstäblich Abstand zu gewinnen, wanderte dann gedankenverloren durch den Lianhuashan-Park und liess sich schliesslich auf einer Bank nieder, um den Blick über einen Teich schweifen zu lassen.
Der unter chinesischen Frauen verbreitete Glaube, europäische Männer seien generell romantischer als einheimische, nährt sich aus der Tatsache, dass chinesische Männer eine Beziehung, ja sogar eine Heirat nur wie einen Geschäftsabschluss behandeln und von Liebe keine Rede ist. Das wiederum ist eine noch nicht überwundene Folge des Maoismus, der die alten Überlieferungen zerstören wollte, so dass die lange Tradition der qualvoll schönen Liebesgedichte aus alter Zeit und die Diskussion über den Sinn und Unsinn gemeinsamer Selbstmorde von unglücklich Liebenden seit den 1950ern abgerissen sind — romantische Gefühle galten damals als bourgeois und des neuen Menschen nicht würdig.
Mae wusste darüber nur flüchtig Bescheid, denn dass die alten Bücher neuerdings wieder gedruckt und gelesen werden dürfen, reicht noch nicht aus, um die damit verbundene Bildung wieder zu beleben. Dennoch war sie überzeugt, dass diese Stimme mit dem leichten französischen Einschlag wunderbar klingen würde, wenn sie ein Gedicht vorlas…
Auch hier gibt es eine Parallele zu Europa, wusste der Forscher in André. Dort wie hier in China gab es einmal den Brauch, die Schönheit von Frauen in den poetischsten Ausdrücken zu beschreiben, die man nur finden konnte und das gefiel den Frauen so sehr, dass sie regelrechte Wettbewerbe darum veranstalteten, heute dagegen beschränken sich die Männer auf Formeln wie „geile Titten“ und ähnlich abstossendes Zeug, was auch dazu führte, dass die Frauen ihrerseits diese Poesie nicht mehr kennen und mit Verwirrung reagieren, wenn sie etwas davon erleben.
André Lebel, der mit Smartphone und Tablet umgehen konnte wie nur je ein Teenager und auch ansonsten hervorragend mit dem 21. Jahrhundert zurechtkam, war nichtsdestoweniger ein Anhänger der alten Künste.
Sie ist wie eine Rose, überlegte er. Voll erblüht, zart und schön…
Man sollte ihr Blumen schenken, mit einer Karte, die einen derartigen Satz enthält.
Was denke ich da? Sie sagte doch, sie ist vergeben…
Das Flirten liegt den Franzosen im Blut und André war weiss Gott kein Kostverächter — eine von Fa Chunhes Lehrerinnen beispielsweise hatte ihn einmal um eine Nacht mit unverbindlichem Sex gebeten und mehr davon bekommen, als sie zu hoffen gewagt hatte — aber dieses Gefühl war anders, wie er die Sache auch drehte und wendete.
Schliesslich zückte er sein Smartphone.
„Ich muss Ihnen etwas verkaufen, die Chefin beobachtet uns“, hatte Pingfen mit ihrem schelmischen Kichern gesagt. Nun brauchte er nur online ins Gewerbeverzeichnis von Shenzhen zu gehen und die Adresse des Ladens einzugeben, um den Namen dieser Chefin herauszufinden.
Sheng, Mae, geboren am 26.06.1986.
Mein Gott, sie könnte meine Enkelin sein, zwang er sich zu denken, aber auch das änderte nichts, denn er wollte diese Frau. Sie war vierzig Jahre jünger und er wollte sie trotzdem in die Arme nehmen, küssen, lieben und nie mehr loslassen…
III.
Er wahrte die Contenance, indem er tatsächlich zuerst Blumen schickte und zwar ein Dutzend rote Rosen mit einer selbst geschriebenen Karte.
Der geborene Italiener „Giovanni B.“, Inhaber des Blumenladens, war von den grenzenlosen Möglichkeiten des modernen China angezogen worden und zur Abkürzung seines Namens hatte ihn das Lied „Johnny B.“ von den Hooters inspiriert, als er nach einer Möglichkeit suchte, sich von von anderen Händlern abzuheben, denn so riesig China ist, seit die Menschen dort beginnen, wieder Romantik zu lernen, ist auch die Konkurrenz auf dem Blumenmarkt enorm.
Zumindest im Fall von André funktionierte die Strategie, denn der hatte den Lieferdienst auf seinen Streifzügen entdeckt und von dem Besitzer und dessen Frau viele aufschlussreiche Dinge darüber gehört, wie man sich in China erfolgreich akklimatisiert. Nun verdienten die beiden etwas an ihrer Offenheit und lächelten sich überdies vergnügt zu, weil sie wussten, was Rosen bedeuten.
Als Mae am nächsten Tag vom Grossmarkt zurückkam und Pingfen ihr die vor einigen Minuten von „Giovannis Flower Power“ abgegebene Sendung überreichte, sah sie mit deutlicher Verblüffung auf den kleinen Umschlag mit ihrem Namen, der zwischen den Rosenstengeln steckte.
„Ihr Freund wird romantisch, Frau Sheng“, kicherte die Verkäuferin.
Erfreut, aber auch unsicher, was sie davon halten sollte, nahm Mae den Strauss mit in ihr Büro, öffnete dort den Umschlag und las den Text auf der Karte, der den Wunsch ausdrückte, die schönste Rose von Shenzhen möge ihre kleinen Schwestern als Zeichen der Liebe annehmen.
Die wénzì-Zeichen waren nicht etwa gedruckt, sondern mit äusserster Sorgfalt gemalt. Seit wann beherrschte Xiaoqiu so etwas? Sie kannte doch seine Handschrift — ah, natürlich: Bestimmt hatte er auch den Text beim Lieferservice schreiben lassen.
Als sie jedoch die Karte umdrehte und die auf der anderen Seite abgedruckte Anschrift las, erstarrten ihre Finger.
André Lebel
Strasse des Sieges von Xuzhou 75
Futian, Shenzhen 518048
Maes Gesicht erglühte nicht weniger als die Rosen selbst, als sie schlagartig begriff, wer diesen Strauss wirklich geschickt hatte und dass dieser Mann durchaus der Typ sein konnte, der eine Grusskarte selbst beschriftete…
Das ist falsch, rief eine Stimme in ihr. Ich habe ihm doch gesagt, dass ich nicht mehr zu haben bin.
Warum fühlt es sich dann so wunderbar an?, fragte eine andere.
Sie atmete den Duft der Blumen und erschauerte.
Einige Stunden später zum Ladenschluss erwartete sie heute Xiaoqiu, der sie zu einem Rockkonzert abholen wollte. Normalerweise kam er gemütlich herein, fragte nach Mae, wenn er sie nicht vorne antraf und Pingfen deutete in so einem Fall mit einem Grinsen auf die Bürotür.
Bisher hatte er es auch für witzig gehalten, an der offenen Tür „Klopf klopf“ zu sagen.
Jetzt dagegen stürmte er herein wie gehetzt und Maes Lächeln, mit dem sie seinen Eintritt begleitete, verblasste angesichts dieser Hektik schneller als sonst.
„Deine Verkäuferin sagte, ich hätte dir Blumen geschickt…?“
Irritation lag in seinem Tonfall und ein Hauch von Misstrauen, das sich noch zu verstärken schien, als er die Vase sah, in die Mae die Rosen gestellt hatte.
„Sieh es dir selbst an, sonst glaubst du mir nicht“, sagte seine Freundin und reichte ihm arglos die Karte.
Die Reaktion eines erwachsenen Mannes, der sich seiner Liebe sicher ist, hätte nun etwa in erhobenen Augenbrauen bestanden und in einem zärtlichen Scherz wie „Nanu, meine Liebe, wem hast du denn da das Herz gebrochen?“
Shen Xiaoqiu dagegen war zwar nach der Zahl seiner Jahre erwachsen, aber nicht in seiner Persönlichkeit. Rasende Eifersucht sprühte aus seinen Augen, er zermalmte die Karte förmlich zwischen den Fingern und trat einen Schritt auf sie zu.
„Wer ist der Kerl?!“
Seine Stimme war so rauh, dass Mae impulsiv zurückwich, aber sie war immer noch mehr verwundert als erschrocken.
„Ich kenne ihn nicht“, erwiderte sie leichthin, ohne zu ahnen, dass nun im Kopf ihres Freundes ein ganz anderes Programm ablief, das nichts mehr leicht nehmen konnte.
„Du hast ihn doch auch angemacht! Wie könnte er sonst von Liebe reden?“, brüllte die Stimme, die sie einst „mein Juwel“ genannt hatte.
„Unsinn“, erwiderte Mae nach einigen Sekunden in immer noch beherrschtem Tonfall.
„Sei vernünftig.“
„Hat ihr euch was geschrieben? Zeig mir dein Telefon!“
Nun hatte sie genug und schrie ebenfalls.
„Bist du besoffen, Mensch? Komm‘ mal wieder runter!“
Xiaoqiu prallte zurück, fegte die Blumenvase vom Tisch, die am Boden zerkrachte, dann herrschte eine furchtbare Stille, in der sie einander anstarrten und schliesslich stürmte der Mann hinaus und knallte die Ladentür hinter sich zu.
Mae stand noch einige Sekunden starr, seufzte dann und wollte Lappen und Besen holen, als Pingfen ängstlich um die Ecke spähte.
„Frau Sheng?“
Mae nahm sich zusammen und setzte ein beruhigendes Lächeln auf.
„Alles in Ordnung.“
Quan Pingfen bewunderte ihre Arbeitgeberin für ihre stetige Zielstrebigkeit und Vernunft, so dass sie sie ohnehin nicht weiter bedrängt hätte und sie wusste auch genug über Beziehungen, um zu erkennen, dass man bei manchen Dingen besser schwieg, also zog sie sich lautlos zurück.
IV.
Um die Mittagszeit des nächsten Tages beschloss Mae, dass es unvernünftig sei, zu schmollen. Sie griff zum Smartphone und schickte Xiaoqiu eine Messenger-Nachricht: Hast du Zeit?
Ein überschwängliches Für dich immer oder ein sofortiger Anruf in diesem Tenor wären nun wohl angemessen gewesen, aber er sendete nur Hast du denn welche für mich?
Weitere Geschichten zum Thema