„Jo, mein Freund, du musst mir unbedingt helfen. Mein Job hängt davon ab“, flehte Werner mich am Telefon an.
Werner war ein alter Freund, der mit mir die Grundschule besucht hat. Als jedoch seine Eltern nach Berlin zogen, haben wir uns aus den Augen verloren. Ich habe schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Woher er meine Handynummer hat? Weiß ich nicht. Es hat geklingelt und er war am Apparat.
„Du musst dir leider einen anderen suchen. Ich bin nicht der einzige Fachmann, der einen Verstärker reparieren kann. Ich wollte heute pünktlich Schluss machen und meine Mutter besuchen“, wehre ich ab.
„Das kannst du mir nicht antun. Unsere Popqueen zerreißt mich in der Luft, wenn nicht alles perfekt läuft. Du hast keine Ahnung, wie genau und nervig die kleine Göre ist. Da kann ich nicht nur irgendjemand fragen, da muss der Beste ran“, insistiert er.
„Von welcher Popqueen sprichst du denn überhaupt?“
„Von Black Venus.“
„Black was?“, frage ich überrascht.
„Kennst du Black Venus nicht?“
„Nie gehört“, gestehe ich ehrlich. „Ist das ein Pornosternchen?
„Himmel nein, Mann! Wo lebst du denn? Die haut seit zwei Jahren einen Hit nach dem anderen raus. Im Radio werden ihre Titel rauf und runter gespielt, sie räumt bei allen Preisen ab und jeder trällert ihre Lieder. Die musst du kennen!“
„Nicht, dass ich wüsste“, sage ich trocken. „Aber das ändert nichts an unserem Problem. Ich habe heute keine Zeit.“
„Mann Jo, der alten Freundschaft wegen“, bettelt er.
„An die erinnerst du dich aber auch reichlich spät.“
„Du weißt ja, wie das ist. In der großen Stadt ist die Ablenkung groß und außerdem musste ich mich um einen Job kümmern. Seit ich mit der Popqueen auf Tour gehe, bleibt mir sowieso keine Zeit mehr. Das bringt zwar richtig Kohle, dafür bist du jeden Tag irgendwo anders.“
„Klingt stressig.“
„Klingt nicht nur so, ist es auch.“
„Warum tust du dir das dann an?“
„Ist irgendwie auch cool. Du kommst in der ganzen Welt herum. Wir sind erst seit drei Tagen von einer Welttournee zurück.“
„Ach ja, zurück. Und damit sind wir wieder beim Thema. Ich wollte eben den Laden verlassen, um in die große weite Welt zu ziehen. Ich komme erst morgen früh wieder zurück“, versuche ich mich zu winden.
„Dann kannst du ja gleich ins Stadion kommen“, fleht Werner. „Bitte!“
„Ist die Tante so fürchterlich?“, frage ich nach.
„Es geht doch nicht nur um die Queen. Hast du eine Ahnung! Das Konzert ist ausverkauft. In etwa vier Stunden kommen knapp 30.000 Fans. Kannst du dir vorstellen, wie die enttäuscht sind, wenn der Verstärker nicht funktioniert?“
„Dann müsst ihr das Konzert eben verschieben“, rate ich.
„Das geht nicht. Das Stadion ist gebucht und unser Tourplan ist ausgesprochen eng. Einen passenden Termin zu finden, ist äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich.“
„Das gibt es doch nicht! Ich kriege es nicht einmal hin, zumindest einen Abend in der Woche für mich zu haben“, jammere ich.
„Heißt das, du kommst?“
„Ich kann dich wohl nicht hängen lassen“, lenke ich ein. „Dich und die 30.000 Fans.“
—
Ich könnte mich ohrfeigen, weil ich mich schon wieder habe breitschlagen lassen. Doch Werner war echt ein super Freund, damals zumindest. Was haben wir doch alles für Streiche zusammen ausgeheckt und was haben wir zusammen erlebt. Wenn er nun schon in der Nähe ist, dann ist es auch schön, ihn zu treffen. Er hat versprochen, dass er ein Bier ausgibt, sobald der Verstärker funktioniert und das Konzert begonnen hat. Ich freue mich wirklich, ein wenig über die alten Zeiten zu quatschen und zu erfahren, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist.
Wir haben ausgemacht, uns am Süd-Eingang des Stadions zu treffen und Werner wartet dort auch schon ungeduldig auf mich.
„Hallo Jo, gut schaust du aus. Bist keinen Tag älter geworden“, begrüßt er mich und drückt mich fest an sich.
„Keinen Tag älter. Du hast gut reden. Wir sind doch erst 25″, lache ich.
„Nun ja, wir sind keine zwölf mehr“, scherzt er.
„Für Dummheiten haben wir später noch Zeit. Wo ist denn unser Patient?“, erinnere ich ihn an den Grund meines Hierseins.
„Stimmt! Komm mit!“
Werner hängt mir ein Band mit einem Ausweis um den Hals. Es steht groß und deutlich „Staff“ drauf.
„Damit kommst du in jeden Bereich des Stadions“, erklärt er mir. „Aber im Moment kommst du besser mit mir.“
Werner geht voraus und ich folge ihm. Er führt mich direkt auf die Bühne, wo im hinteren Bereich das gesamte technische Equipment aufgebaut wurde.
„Da ist der Übeltäter“, meint er. Werner deutet dabei auf einen gigantischen Verstärker.
„Was hat der denn an Leistung?“
„Acht mal 30.000 Watt“
„Wow“, staune ich. „Ist das nicht ein wenig viel?“
„Bei diesem Stadion? Da brauchst du ordentlich Wumm!“
„Habt ihr Ersatz?“
„Das ist der Ersatz. Das Hauptgerät muss noch repariert werden. Soll in einer Woche fertig sein.“
„In einer Woche erst?“, staune ich. „Na, dann bleibt uns wohl keine Wahl, als dieses Schätzchen wieder zum Laufen zu bringen.“
Ich nehme das Teil vom Strom und öffne die Abdeckung. Ich hole die mitgebrachten Instrumente heraus und messe im Innenleben des Verstärkers, um einen Hinweis auf den Fehler zu finden. Die Suche erweist sich aber als schwieriger, als gedacht.
„Soundcheck!“, ruft jemand vorne auf der Bühne.
Ich schaue Werner an und muss unwillkürlich lachen.
„Ohne dieses Teil hier, wird ein Soundcheck wenig Sinn machen“, sage ich vergnügt.
„Oh Scheiße!“, platzt Werner heraus.
Ohne ein weiteres Wort verschwindet er. Als ich von der Bühne lautes Schimpfen höre, vermute ich, dass er sich dort befindet, um die schlechte Nachricht zu überbringen. Allerdings achte ich nicht darauf und widme mich weiter meinem Problemkind.
„Können Sie sich nicht beeilen?“, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir.
Ich schaue mich um, weil ich sehen möchte, ob schon ich gemeint bin. Jeder, der etwas von der Materie versteht, der weiß, dass Eile in so einem Fall wenig bringt. Die Fehlersuche ist manchmal Geduldssache, wenn man nicht genau weiß, woran es hakt.
Das Bild, das sich mir bietet, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass ich das Ziel der Frage bin. Direkt hinter mir hat sich eine junge Frau aufgebaut und steht mit in die Hüften gestemmten Armen da. Der Ärger ist ihr ins Gesicht geschrieben.
Eigentlich wäre sie ein ganz ansehnlicher Käfer. Sie ist 20 oder ganz knapp drüber und damit nur wenige Jahre jünger als ich. Sie hat echt eine Traumfigur, die zudem in einem hautengen Latex-Kostüm steckt, das aus der geringen Distanz der Fantasie nur wenig Spielraum lässt. An ihr ist kein Gramm Fett zu viel. Ihre grünen Augen funkeln ärgerlich. Das Gesicht wirkt ansonsten jedoch ausgesprochen süß.
Während ich ihr Outfit betrachte, wird mir bewusst, dass ich in meiner Arbeitskleidung losgestürmt bin und sicher nicht konzerttauglich gekleidet bin. Die Jeans ist an den Oberschenkeln schmutzig und das T-Shirt ist verwaschen und in die Jahre gekommen. Doch kleidungstechnische Probleme stehen im Moment ganz sicher nicht im Vordergrund.
„Sie meinen mich?“, frage ich zur Sicherheit nach.
„Wen denn sonst?“, antwortet sie mürrisch. „Außer dir ist ja keiner da.“
„Wenn Sie wirklich mich meinen, dann lautet die Antwort definitiv: Nein!“
„Wie nein?“
„Ich kann mich nicht beeilen. Die Suche nach dem Fehler ist Geduldsarbeit. Da kann man sich nicht beeilen.“
„Ohne Soundcheck wird es aber kein Konzert geben?“, braust sie auf.
„Kann es ohne Verstärker eines geben?“, stelle ich eine Gegenfrage. „Und wenn Sie mir noch länger auf den Sack gehen, dann werden wir nie rechtzeitig fertig.“
„So eine Unverschämtheit“, protestiert sie. „Das hat Konsequenzen!“
„Ja, ja!“, tue ich ihre Drohung ab. Was soll sie mir denn schon anhaben. Ich bin schließlich selbstständig. „Das schlimmste, das mir passieren kann ist, dass man meine Rechnung nicht bezahlt. Aber ohne Erfolg auch keine Rechnung. Also lassen Sie mich jetzt endlich in Ruhe arbeiten. Sonst sind wir beide nicht zufrieden.“
Damit allerdings ärgere ich sie vermutlich noch mehr. Zumindest schließe ich das daraus, dass ihr Kopf rot anläuft. Wären wir in einem Zeichentrickfilm, würde ihr vermutlich Rauch aus den Ohren kommen.
Doch ich habe keine Zeit, mich mit dieser Disponentin oder was die Göre sonst ist, herumzuschlagen. Deshalb drehe ich mich zurück zu meinem Patienten und mache mit der Fehlersuche ungerührt weiter.
Während ich wieder nach dem Problem suche, das den Verstärker komplett stumm bleiben lässt, fällt mir auf, dass die junge Frau nicht von meiner Seite weicht. Als ob das etwas bringen würde, wenn sie mir dauernd über die Schulter schaut, denke ich bei mir. Da sie sich aber ruhig verhält, achte ich nicht weiters darauf. Sie zu verscheuchen braucht auch nur Zeit und Nerven.
Etwa eine halbe Stunde später finde ich ein Kabel, das sich aus der Lötstelle gelöst hat. Da der Draht sehr versteckt unter einer Läuterplatte zwei Punkte miteinander verbindet, war er nicht auf Anhieb zu finden. Ich hoffe, dass ich damit das Problem gefunden habe.
„Hallo Werner, ich glaube ich habe den Fehler“, informiere ich meinen Freund über Handy.
„Das wurde auch langsam Zeit!“, kontert die junge Frau. „Beeil dich mit der Behebung des Schadens!“
Nun aber platzt mir der Kragen. Die junge Frau mag zwar ausgesprochen hübsch sein, sie nervt aber gewaltig.
„Haben Sie nichts Besseres zu tun, als mir auf die Nerven zu gehen?“, fahre ich sie an.
„Ich gehe Ihnen auf die Nerven?“, meint sie spöttisch.
„Und wie!“, gebe ich Kontra. „Aber davon geht es auch nicht schneller.“
„Soll ich mich etwa in eine Ecke setzten und ruhig sein?“
„Das wäre echt super! Danke!“
Sie grinst und hockt sich doch tatsächlich neben mir im Schneidersitz auf eine der großen Boxen. Von dort aus schaut sie mir spöttisch zu. Langsam platzt mir der Kragen.
„Hast du nichts Besseres zu tun?“, frage ich genervt.
„Ich warte auf den Soundcheck.“
„Der geht aber auch nicht schneller, wenn du mir im Nacken sitzt.“
„Ich sitze nicht dir im Nacken, sondern auf der Box.“
„Trotzdem!“, antworte ich leicht verärgert.
„Einigen wir uns darauf, dass ich still bin und du arbeitest“, schlägt sie vor. „Das wäre doch ein fairer Deal. Wo ich sitze, kann dir doch völlig egal sein.“
Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. Die Göre nervt gewaltig. Dabei habe ich nicht verstanden, was für eine Aufgabe sie hat. Ich gehe davon aus, dass sie eine Assistentin oder so etwas ähnliches ist, die den Star, von dem ich noch nie etwas gehört habe, holen soll, sobald die Anlage funktioniert. Deshalb wird es wohl besser sein, wenn ich den Schaden so schnell wie möglich behebe. Je schneller ich damit fertig bin, umso schneller bin ich die Nervensäge los und kann gehen.
Ich hole den Lötkolben und suche nach Strom. Während ich warte, dass sich das Gerät aufwärmt, reinige ich die Lötstelle und bereite das Lötzinn vor. Das Mädchen schaut mir aufmerksam zu, sagt aber nichts.
Das Löten selbst klappt perfekt. Ich teste noch kurz, ob die Anlage funktioniert und kann feststellen, dass ich tatsächlich den Fehler gefunden und behoben habe.
„Geht doch“, meint das Mädchen und springt von der Box.
„Nicht so schnell, Kleine. Ich muss das Teil noch zusammenbauen. Sonst könnte es gefährlich werden.“
„Wenn es sein muss“, antwortet sie und hockt sich wieder zurück auf die Box.
Um ihre Mundwinkel spielt ein Grinsen, das ich nicht zu deuten weiß. Sie wirkt beinahe erheitert. Dabei wüsste ich nicht, was so lustig ist. Aber sie gibt erstaunlicherweise Ruhe und lässt mich den Verstärker zusammenbauen. Das klappt dann auch relativ gut.
„So, fertig!“, sage ich. „Von mir aus kann der Soundcheck beginnen. Ich bin dann weg.“
„Danke. Gute Arbeit!“, meint meine Zuschauerin.
Sie springt von der Box und macht sich auf den Weg zur Bühne. Ich mache mich daran, das Werkzeug einzupacken, da kommt Werner um die Ecke.
„Tolle Arbeit!“, lobt er.
„War kein großes Ding“, wiegle ich ab. „Ich packe nur noch schnell zusammen, dann bin ich weg.“
„Könntest du nicht bleiben bis zum Ende der Show? Nur zur Sicherheit“, erkundigt er sich.
„Ich, wozu? Traust du meiner Arbeit nicht?“
„Deiner Arbeit schon, den Geräten aber nicht“, beeilt er sich klarzustellen. „Außerdem ist es der Wunsch der Künstlerin.“
„Die möchte, dass ich bleibe?“, frage ich überrascht.
„Sie hat mich ausdrücklich darum gebeten. Außerdem berechtigt dich der Pass, den ich dir gegeben habe, überall hinzugehen. Damit kannst du kostenlos das Konzert von fast jeder Position aus anschauen.“
„Ich kenne diese Black Venus nicht“, gestehe ich.
„Sie wird dir gefallen.“
„Ich stelle die Zeit aber in Rechnung.“
„Kein Problem, wird morgen überwiesen.“
„Na dann, so leicht habe ich mein Geld noch nie verdient.“
„Bis später“, verabschiedet sich Werner.
—
Ich packe meine Sachen zusammen und stelle sie neben der Technik ab. Da ich inzwischen Musik von der Bühne höre und sowieso nicht weiß, wie ich die Zeit totschlagen soll, gehe ich in den Zuschauerraum und schaue mir die Bühne von dort aus an. Zu meiner Überraschung steht in der Mitte der Bühne die Nervensäge von vorhin mit Gitarre und singt. Die Band hinter ihr besteht nur aus Frauen. Was ich höre, gefällt mir nicht schlecht.
Ich hocke mich im Schneidersitz in der Mitte der Halle hin und lasse die Musik auf mich wirken, Einige Lieder kenne ich tatsächlich aus dem Radio. Ich achte aber nie auf die Interpreten, weshalb mir auch der Name nichts gesagt hat. Je länger ich aber zuhöre, umso mehr fängt mich der Rhythmus ein und ich genieße die Musik.
Als die Kleine den Soundcheck beendet, da sie offenbar damit zufrieden ist, bleibe ich im Zuschauerraum sitzen. Ich habe schließlich Zeit. Plötzlich nähert sich jemand von links und setzt sich neben mich auf eine Kiste, in der die Lichttechnik wohl ihre Utensilien aufbewahrt und die vermutlich noch aus dem Saal geschoben werden muss, bevor das Konzert beginnt. Als ich schaue, wer sich zu mir setzt, bin ich überrascht. Es ist die Assistentin.
„Da bist du also“, meint sie.
„Ich soll noch dableiben, bis das Konzert vorbei ist“, erkläre ich.
„Ich weiß.“
„Aber auf mich aufpassen musst du nicht mehr“, stelle ich klar. „Solltest deiner Chefin sagen, dass der Soundcheck gepasst hat. Star müsste man sein, dann hat man für alles Leute, die einem die Arbeit abnehmen. Hätte nicht gedacht, dass man sogar den Soundcheck delegieren kann.“
Sie schaut mich etwas überrascht an und runzelt die Stirn. Plötzlich werden ihre Augen größer und ein Lächeln schleicht sich auf ihr Gesicht.
„Ich bin Anna“, meint sie und streckt mir ihre Hand entgegen. „Und du?“
„Ich bin Jo.“
„Angenehm Jo“, antwortet sie. „Kennst du Werner schon lange?“
„Wir waren zusammen in der Schule“, erkläre ich. „Haben uns dann aber aus den Augen verloren.“
„Cool.“
„Solltest du nicht lieber zu deiner Chefin gehen, zu dieser Black Venus?“, frage ich und muss unwillkürlich lachen.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Bei dem Namen fällt mir die schwarze Witwe ein. Du weißt schon, die Spinne.“
„Die nach dem Sex die Männchen frisst.“
„Genau die.“
„Könnte passen.“
„Warum?“
„Du bist aber neugierig“, meint sie mit gespielt vorwurfsvoller Stimme.
„Du hast damit angefangen“, verteidige ich mich.
„Diese Frau hat mit den Männern nicht viel Glück“, antwortet sie. „Bisher hat keiner etwas getaugt. Sie hat sie zwar nicht gefressen, aber am nächsten Morgen abserviert.“
„Bei dem Leben, ist das auch kein Wunder. Sie ist ständig auf Achse und dann sind da noch die Fans. Kann mir vorstellen, sie hat jede Menge Verehrer.“
„Das kannst du laut sagen.“
„Hat sie Stalker?“
„Nun ja, im klassischen Sinne nicht. Aber wie soll sie einen netten Kerl, der nur Interesse an ihr hat, von einem Mann unterscheiden, der sie nur anhimmelt, weil sie die Popqueen ist?“
„Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.“
„Du scheinst netter zu sein, als ich anfangs gedacht habe“, gesteht sie.
„Ach so, wie hast du mich Anfangs denn eingeschätzt?“
„Wie einen Grießgram.“
„Aha, und ich dich als Nervensäge“, gestehe ich. „Doch auch ich muss inzwischen zugeben, dass du nicht so schlimm bist, wie ich gedacht hatte.“
„Du bleibst bis zum Ende des Konzertes?“
„Ich werde dafür bezahlt“, antworte ich lachend.
„Was machst du nachher? Gehen wir etwas trinken oder einen Happen essen?“
„Wenn ich dich einladen darf.“
„Cool, abgemacht!“, meint sie. „Ich muss jetzt weg. In einer Stunde gehts los. Wir sehen uns nachher hinter der Bühne.“
Sie springt von der Kiste, stellt sich vor mich und haucht mir einen ganz zarten Kuss auf die Lippe. Er ist unglaublich schüchtern, denn sie berührt kaum meine Haut. Einen Moment lang glaube ich sogar, alles nur zu träumen. Mit einem glückseligen Ausdruck im Gesicht dreht sie sich um und ist weg.
Schon lange hat mich keine Frau mehr so angeschaut. Ihre Augen hatten ein faszinierendes Leuchten. Dabei habe ich sie doch nur eingeladen, mit mir Essen zu gehen. Sie hatte auf einmal etwas Frisches und Jugendliches an sich. Sie wirkte plötzlich wie ein Teeny und nicht wie eine junge Frau Anfang 20.
—-
Schon bald nach Annas Verschwinden strömen die ersten Konzertbesucher in die Halle. Der größte Teil davon ist 15 bis 30 Jahre alt. Mit meinen 25 Jahren passe ich genau dazu. Ich lehne an der Wand und beobachte. Viele drängen sich schon am Absperrgitter vor der Bühne und warten sehnsüchtig auf das Konzert. Sie können es ganz offensichtlich nicht mehr erwarten, endlich ihren Star zu sehen.
Black Venus lässt sich etwas Zeit. Erst eine Viertelstunde nach eigentlichem Konzertbeginn gehen die Lichter aus. Es ist kurze Zeit stockdunkel in der Halle. Als plötzlich die Scheinwerfer angehen und die Bühne in gleißendes Licht tauchen, staune ich nicht schlecht. Die Gruppe hat sich in der Dunkelheit auf die Bühne geschlichen und rockt sofort los. Allerdings kann ich es kaum glauben, mitten auf der Bühne steht Anna, eine Gitarre in der Hand und singt aus Leibeskräften.
Scheiße! Ich habe nicht, wie ich angenommen habe, mit der Assistentin gesprochen. Es war die Popqueen selbst, die mir im Nacken saß. In dem Moment fällt mir auch ein, dass ich sie als schwarze Witwe bezeichnet habe. Mein Gott, wie konnte mir das nur passieren? Ich muss mich nach dem Konzert unbedingt bei ihr entschuldigen.
Nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt habe, kann ich mich immer mehr dem Konzert an sich widmen. Ich muss zugeben, mir gefällt, was sie singt. Umgeben von kreischenden Fans lasse ich mich von der Musik treiben und bewundere die zarte, junge Frau, die auf der Bühne alles gibt, um das Publikum mitzureißen. Das gelingt ihr auch vom ersten Augenblick an. Kein Vergleich mehr mit dem Soundcheck und der war schon gut. Doch jetzt, hier mitten unter den Fans ist die Stimmung noch einmal ganz anders. Auch ich genieße das Konzert. Anna ist ein Vollprofi.
Als die Zuschauer bereits mehrfach Zugaben verlangt und bekommen haben, begebe ich mich über einen bewachten Seiteneingang hinter die Bühne. Mit meinem Pass kann ich problemlos passieren. Aus den Augenwinkeln heraus kann ich beobachten, wie mir einige Fans neidisch hinterherschauen.
Den Abschluss des Konzertes beobachte ich vom Rand der Bühne aus. Ist schon ein irre geiles Gefühl, hier oben zu stehen und dem Star so nahe zu sein. Als Anna mich erblickt, lächelt sie mir zu. Für einen Augenblick verschwindet der konzentrierte Ausdruck aus ihrem Gesicht und die Augen strahlen. Ich kann kaum glauben, dass sie mich damit meint. Doch es befindet sich kein anderer Mensch neben oder hinter mir.
Als das Licht definitiv erlischt und die Bühne im Dunkeln liegt, spüre ich plötzlich eine Hand, die mich berührt.
„Warte hier auf mich!“, sagt sie.
Ich erkenne ihre Stimme. Es ist Anna. Doch bevor ich etwas sagen kann, ist sie auch schon weg. Als wenig später das Licht wieder angeht, ist auch der Saal hell erleuchtet. Einige Zuschauer rufen immer noch nach Black Venus, doch die Rufe werden allmählich schwächer und der Saal beginnt sich zu leeren.
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