„Wie ist dein Name, Mädchen?“
„Leana“, antwortete sie und setzte sich stöhnend auf. Da der fremde Mann bemerkt hatte, dass sie wach war, hatte es keinen Sinn mehr, sich schlafend zu stellen. Ihr brummte der Schädel und sie fasste sich an den Kopf, wobei sie vor Schmerz die Augen zusammenkniff. Ihre Finger berührten etwas weiches, das sich über ihre Haare spannte.
„Kannst du dich an mich erinnern?“, fragte der Mann, der ihr gegenüber am Lagerfeuer saß und sich in einen dicken Mantel gehüllt hatte. Eine Hälfte seines Gesichts wurde vom Feuer beleuchtet, die andere verschwand im davon erzeugten Schatten seiner Nase. Vor ihm, am Rande des knisternden Feuers lag ein Schwert, eingeschlossen in der zugehörigen Schwertscheide. Leana kniff unverzüglich die Augen zusammen.
Nach einer kurzen Pause fügte der Mann hinzu: „Kannst du dich an etwas erinnern?“
„Nein“, murmelte Leana und stützte sich mit den Händen im weichen Gras ab, um ihre Beine anwinkeln zu können. Als sie bequemer saß, schlang sie die Decke, die sie dabei abgeschüttelt hatte fest um sich. Sie beobachtete die Bewegungen des Mannes aus Argusaugen.
„Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist…“
„Heute ist der neunte Oktober. Es müsste nun etwa ein Uhr in der Nacht sein. Du hast also etwa sechs Stunden geschlafen.“
Leana fröstelte trotz ihrer warmen Decke. Sie rückte näher an das Feuer heran und sah sich um. Den Steinkreis, der das Lagerfeuer eingrenzte, umgaben vielerlei Schatullen, Beutel und Säcke. Zwischen ihr und dem Fremden standen außerdem mehrere Tassen und eine dunkle Kanne, aus deren Tülle wohlriechender Dampf emporstieg. Sie blickte den Mann an und öffnete den Mund, dieser nickte jedoch, bevor sie eine Frage stellen konnte.
„Nimm ruhig.“
Leana nahm sich eine Tasse und schenkte sich ein. Der Tee wärmte ihre Kehle und sie fühlte, wie die Hitze sich in ihrem Körper ausdehnte. Sie seufzte auf. Es war sicher zwei Jahre her, dass sie zuletzt Kamillentee geschmeckt hatte.
„Danke“, sagte sie schnell und erschrak leicht über sich selbst, weil sie nicht sofort daran gedacht hatte.
„Kein Problem“, sagte der Mann und lächelte. Er stellte sich als Gaia vor und versicherte ihr, dass sie in Sicherheit sei. Wovor wagte Leana nicht zu fragen, aber sie schenkte seinen Worten Glauben und nippte weiter an ihrem Tee. Dabei blickte sie immer wieder verstohlen zu ihm hinüber, weiterhin auf der Hut, wenn auch nicht mehr so misstrauisch wie zuvor.
Er war durchaus hübsch, soweit sie das im Halbschatten des Lagerfeuers beurteilen konnte. Sein Lächeln hatte etwas sonderbares, erhabenes, beinahe katzenhaftes. Seine Augen blickten müde, aber freundlich zu ihr und schienen den Feuerschein weniger zu reflektieren, als ihn aufzufangen und in sich zu behalten. Sie schwiegen eine Weile, bis Leana ihre Tasse ausgeschlürft hatte.
„Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?“, fragte Gaia und schenkte ihr nach.
„Ich erinnere mich noch an heute morgen, entschuldigung, gestern morgen. Ich bin aufgestanden und rausgegangen zu Mama und Papa, und hab ihnen geholfen, auf dem Feld. Dann kam Galmo vorbei und fragte mich, ob ich Zeit hab, aber der Papa hat gesagt, ich müsse ihm weiter helfen.“
Sie blickte in das Feuer und hielt die Teetasse fest umklammert, fixierte einen brennenden Holzscheit.
„Noch etwas?“
„Nein“, antwortete sie seufzend nach kurzem Schweigen, „danach ist alles weg.“
„Ich habe dich gefunden“, sagte Gaia langsam und wählte seine Worte mit Bedacht, „als du von drei Männern bedrängt wurdest, an einem Scheideweg. Einer war groß mit schwarzen Haaren, einer eher klein und stämmig hatte einen dichten Bart, der dritte hatte ein sehr seltsam vernarbtes Gesicht.“
Gaia machte eine kurze Pause, aber Leana presste nur weiter ihre Hände gegen die Tasse, ihre Augen weit aufgerissen und in die Flammen starrend.
„Erinnerst du dich an sie?“, fügte er hinzu, als er merkte, dass sie von alleine nicht reden würde.
Leana erinnerte sich gut.
*
„Komm, kleines Rättchen, bleib, bleib genau so“, schrie der Narbige und lachte gackernd. Er zog Leana von dem staubigen Scheideweg nach oben, riss an ihrem Hemd herum und kratzte dabei mit den Fingernägeln über ihre Haut. Der Stoff riss, sie schrie.
Die Hand, die eben noch an ihren Haaren gezogen hatte, verschwand und der Große packte sie von hinten bei den Schultern, der mit Bart griff nach ihrem Arm, den sie sich schützend vor die Brust hielt. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, doch die Hände auf ihren Schultern verhinderten eisern jede heftige Bewegung.
Gaia beeilte sich. Er hatte sich nicht getäuscht, da waren Schreie, und er kam näher, also lief er.
„Hähä, jetzt zeig doch mal, was du da hast, Kleine! Nicht so schüchtern, nicht so schüchtern, wir beißen nur, wenn dus willst!“
Leana strampelte hilflos in den Armen des Großen, der Kleine packte ihre Brust grob an und drückte sie schmerzhaft zusammen. Sie schrie und weinte, wollte laufen, nochmal laufen, so wie zuvor.
Der Narbige zog ein Messer aus seinem Gürtel hervor und hielt es ihr vor die Augen. Sie erstarrte.
„Siehst du das da?“, fragte der hässliche Mann und fuchtelte vor ihrem Gesicht mit der Klinge umher.
„Das ramm ich dir in deinen kleinen Hals, wenn du nicht still hältst. Die Jungs und ich hatten schon lange nicht mehr unsern Spaß, da kommt uns so’n Rättchen wie du grad recht, wenn du verstehst.“
Die Jungs bestätigten die Worte ihres Fürsprechers mit einem Nicken und lachten. Der Kleine mit Bart knetete unterdessen weiter ihre entblößte Brust und kniff derb hinein, so dass sie laut wimmerte.
„Halts Maul“, fuhr sie der Narbige an und leckte sich auf wiederwärtige Weise über die Unterlippe, wo seine Narben begannen, „sonst stoß ich dir das Ding in deine Titte! Dann ist die nicht mehr so schön wie jetzt, nein, nein, nicht mehr schön. Und wenn du nochmal schreist, dann schneid ich dir deine Zunge raus, dass du still bist!“
Er drückte den Dolch unters Kinn und ging so nah an ihr Gesicht heran, dass Leana seinen Atem riechen konnte, er stank nach Alkohol und halbgarem Essen.
„Du solltest besser ein verdammt guter Fick sein, ’n enges Loch haben, sonst schlitz ich dich so auf, dass du für ’n Pferd noch zu lose bist. Is das klar?“
Leana nickte nicht, sagte nichts, schluchzte nur, was dem Narbigen aber anscheinend als Bestätigung reichte. Seine Kumpanen hielten sie fest, während er das Messer einsteckte, ihren Rock hochschob und mit einiger Gewalt ihre Schenkel spreizte.
„Dann schaun wir mal, was du so zu bieten hast, hähä…“
„Sofort aufhören!“, rief Gaia, als er aus dem Feld auf die Straße trat. Er sah seine geliebte Tocita, mit den blonden Haaren und den grünen Augen, und kalte Wut schäumte in ihm hoch.
Die Männer blickten sich nach ihm um und hielten in ihrem Treiben inne, der Narbige zog noch an seinem Gürtel, den er gerade geöffnet hatte.
Gaia starrte die Männer wütend an, sah sich das junge Mädchen in ihren Armen noch einmal genauer an. Die blonden, zerzausten Haare, den schönen Wuchs, die kleinen frechen Brüste und den zerissenen Rock. Sie sah ihr sehr ähnlich. Er zog sein Schwert aus der Scheide.
„Hört auf“, wiederholte er, „oder ihr werdet dafür büßen müssen!“
*
„Wie bist du eigentlich an diese Männer gekommen?“, fragte Gaia und steckte das Schwert zurück in die Scheide, nachdem er es zuvor ein Stück herausgezogen und betrachtet hatte.
„Ich bin vor ihnen geflohen“, antwortete Leana, nicht ganz ohne Stolz, „den halben Tag schon. Am Scheideweg wusste ich nicht, ‚wohin soll ich laufen?‘, und da haben sie mich eingeholt. Haben mich vorher nicht bekommen, weil ich schneller war als sie.“
„Sie haben dich verfolgt?“, hakte Gaia nach und runzelte die Stirn. „Wieso das?“
„Naja, sie kamen am Mittag bei uns vorbei. Die Mama und der Papa, die haben mich ins Haus gescheucht, als sie kamen und haben gesagt, ich solle leise sein. Das hab ich gemacht, aber dann kamen sie plötzlich rein, zusammen mit den Männern, und haben auf den Schrank gezeigt in dem ich war. Die Männer haben mich rausgeholt und mich geschlagen.“
Sie schenkte sich neuen Tee ein und versuchte, nicht zu schniefen. Sie schaffte es nicht. Gaia beobachtete sie genau, kam ihr aber nicht zunahe. Er fürchtete, ihr damit vielleicht Angst zu machen, also ließ er sie vorerst gewähren.
„Papa hat dann gefragt, ob sie ihn und die Mama dann auch sicher in Ruhe ließen, da haben die Männer gelacht und gesagt, solange die Mama nicht jünger werde oder der Papa reich, würden sie bestimmt nicht mehr vorbeikommen.“
Die Tasse zitterte in ihrer Hand, ein wenig Tee schwappte zur Seite heraus. Leana erschrak, entschuldigte sich wegen dem guten Tee und zog die Nase hoch. Gaia winkte ab.
„Ist schon gut. In der Kanne ist noch genug.“
Nach einem schnellen Schluck und einem hektischen Kratzen an ihrem Kopfverband fuhr Leana fort. Gaia bemerkte, dass sich auf dem Verband bereits ein roter Fleckgebildet hatte.
„Dann haben sie mich mit sich aus dem Haus geschleift. Ich habe geschrien, aber weder Mama noch Papa noch sonst jemand hat gehört oder geholfen. Und Papa ist auch nicht reich geworden und Mama auch nicht jung.“
Sie lachte kurz und zog dann erneut die Nase hoch. Dann starrte sie in ihren Schoß und schwieg einige Sekunden, sammelte sich.
„Später dann“, fuhr sie fort, „konnte ich mich losmachen und rennen. Sie haben nicht aufgepasst, also bin ich schnell den Weg entlang zurück, dachte, ich wüsste wohin. Aber so weit weg war ich noch nie von zuhause, und am Scheideweg haben sie mich dann gekriegt.“
Sie kratzte sich noch einmal über ihrem Ohr, wo der Verband eng anlag.
„Du hast Glück gehabt, dass du so nah an mein Feuer gekommen bist“, antwortete Gaia leise und legte das Schwert auf den Stein zurück.
„Hätte ich dein Geschrei von hier aus nicht gehört, wäre es vielleicht anders gekommen.“
*
„Wir müssen dafür büßen?“, fragte der Narbige und lachte gackernd. „Glaub ich kaum. Ich glaub eher, du kannst nicht zählen. Wir drei sind mehr als du, und wenn du dich mit uns anlegst, dann büßt wohl eher du!“
Stolz auf seine mathematischen Fähigkeiten und seine schnelle Auskonterung der Drohung Gaias blickte er ihm ins Gesicht und ließ demonstrativ seine Hose zu Boden fallen. Der Bärtige und der Große lachten spöttisch und gingen wieder dazu über, die Brustwarzen des Mädchens zu malträtieren.
Gaia blickte auf die hellen Oberschenkel Leanas und noch mehr kalte Wut durchströmte ihn, als der Narbige seine Hand langsam diese hinauf und über ihr Schambein gleiten ließ.
„Lass sie los“, sagte er und betonte jede Silbe einzeln. Seine Gesichtszüge waren zu einer steinernen, wütenden Maske erstarrt. Überraschenderweise folgte der Narbige seinem Befehl nach einem Seufzen. Er stieß Leana harsch zu Boden, zog die Hose hoch und schloss den Gürtel. Dann zog er einen Dolch hervor. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel, wobei der Große der am Boden liegenden Leana noch einen heftigen Tritt in den Rücken verpasste, wodurch diese aufschrie und sich gequält stöhnend am Boden wand.
„Na gut, Junge, du willst es ja nicht anders! Wir schlitzen zuerst dir die Kehle auf, dann dem Mädchen die Fotze!“
Die drei umkreisten ihn, langsam, mit zusammengekniffenen Augen, sie bewegten sich lautlos und aufeinander eingespielt. Gaia verharrte breitbeining, die Hände am Schwertgriff und lauschte.
Ein lautes Geräusch von Kies, von dem ein Fuß hochschnellt, links. Gaia duckte sich unter dem Hieb des Großen hinter ihm weg, dann blockte er den Schwertstreich des Narbigen von oben. Stich von unten, der Bärtige, Ausweichen nach rechts.
Die Männer drängten ihn zurück, Schritt für Schritt, immer weiter weg von dem Mädchen, das er zuerst für Tocita gehalten hatte. Gaia versuchte, sie auf Abstand zu halten, ging immer schneller rückwärts, wich immer öfter aus anstatt zu parieren.
Mittlerweile viele Meter entfernt rappelte sich Leana auf, fiel wieder hin und kroch auf Knien davon, auf die rechte Straße der Weggabelung. Gaia sah seine Chance, duckte sich unter einem Hieb des Narbigen hinweg und stieß dem Bärtigen die Faust ins Gesicht. Dafür kassierte er einen Tritt des Großen gegen die Schulter, welcher ihn einige Schritte zurückstolpern ließ.
Sein Plan ging trotzdem auf: Der Narbige sah Leana am Ende der Straße fliehen und setzte an Gaia vorbei auf sie zu, wobei er es natürlich nicht versäumte, zur Seite mit dem Messer nach ihm zu schlagen.
Gaia wich aus, dann war der Narbige weg.
„Verrecke, Mistkerl!“, meldete sich der Bärtige zu Wort, dem das Blut über Mund und Kinn lief und rannte mit erhobenem Dolch auf ihn zu.
Gegen nur zwei der Männer hatte Gaia sehr viel leichteres Spiel. Dem Großen versetzte er einen Kratzer an der Schläfe, woraufhin dieser irritiert zurücktaumelte und sich schwankend den Kopf hielt. Der kleinere erhielt einen Stoß gegen den Schädel, dann einen Stich mitten hinein.
Hinter sich hörte er einen dumpfen Schlag und den Schrei Leanas. Alarmiert sprang er auf den Großen zu, der in kurzen Abständen blinzelte und weiter hin und her schwankte. Dunkelrotes Blut floß ihm über die Finger der linken Hand, die er krampfhaft gegen seine Kopfhaut drückte und tropfte auf seine Weste herab, wo sich bereits ein großer, schwarzer Fleck gebildet hatte. Ein Hieb trennte die Quelle des Blutes weit genug von seiner Weste, so dass sich der Fleck nicht mehr vergrößern konnte.
Hektisch drehte sich Gaia um, um den Narbigen auf sich zukommen zu sehen.
*
„Also hast du sie alle umgebracht?“, fragte Leana, während Gaia ihren neuen Verband festzog.
„Ja. Sie wollten es ja nicht anders.“
Er griff sich den alten, vollgebluteten Verband und ging zurück zu seinem ursprünglichen Platz.
„Danach habe ich dich untersucht, mitgenommen und verbunden. Du schienst mir ansonsten gesund zu sein, also habe ich darauf verzichtet, dich…eingehender zu untersuchen.“
Lena hob die Brauen und errötete, tastete unter ihrer Decke. Scheinbar beruhigt atmete sie aus, dann zog die die Hand wieder hervor und wickelte sich enger in die Decke, korrigierte ihre Sitzposition, wobei sie auf ihr Dekollete blickte, genauestens darauf achtend, nicht zufällig etwas zu zeigen, was Gaia bei einer eingehenderen Untersuchung hätte begutachten können.
„Willst du zurück zu deinen Eltern?“, fragte Gaia.
„Zu denen?“, fragte Leana und schnaubte wütend.
„Die, die mich verkauft haben, meinst du? Die mich verkauft haben, um ihre eigene Haut zu retten? Zu dem Abschaum soll ich zurück? Nein, danke! Lieber arbeite ich in einem verfluchten Laufhaus, als noch einmal auf diesem verdammten Acker zu stehen!“
Sie ergriff einen kleinen Stein und warf ihn ins Feuer. Er kam klackend auf einem Holzscheit auf, Funken stoben hervor. Gaia fragte sich, ob Leana wusste, dass in einem Bordell ziemlich genau das mit ihr passieren würde, was er gestern nur mit Mühe hatte verhindern können. Und er fragte sich, was sie gegen Acker hatte.
„Wie alt bist du?“
„Wieso willst du das wissen?“, fragte Leana und sah mit leicht zusammengekniffenen Augen erstaunt zu ihm herüber.
„Ist es denn ein Geheimnis?“
Leana legte den Kopf schief, lächelte geheimnisvoll und erwägte kurz, nicht zu antworten, hielt das dann aber für zu kindisch. Ihre Lippen bewegten sich, gleichzeitig fiel einer der brennenden Äste im Lagerfeuer laut knackend in sich zusammen. Gaia zog erstaunt die Brauen hoch.
„Wirklich?“
„Ja. Wieso so verwundert?“
„Naja, das ist eben…ich hätte dich älter geschätzt.“
Leana lächelte erhobenen Hauptes und warf sich in die Brust, wobei die Decke ein Stück an ihr herabglitt und tief blicken ließ. Gaia hätte sie eindeutig älter geschätzt. Er schüttelte den Kopf.
„Wohin willst du denn dann?“, lenkte er aufs Thema zurück. Leanas Miene verdunkelte sich sofort, ihre stolzgeschwellte Brust sank in sich zusammen.
„Das nächste Dorf ist zwei Tagesritte entfernt, zu zweit auf nur einem Pferd vielleicht sogar drei.“
„Keine Ahnung“, erwiderte Leana genervt. „Ich will in kein Dorf. Und auch in keine Stadt. Ich will nirgendwo hin.“
Sie warf noch einen Stein in das Lagerfeuer und schwieg, die Lippen aufeinander gepresst. Gaia spürte, dass jetzt eine psychologisch intelligente Herangehensweise von Nöten war, um Leana zu versichern, dass die Welt noch lange nicht untergegangen war und das Leben lebenswert wäre und alles gut würde, um die Stimmung wieder zu heben. Im Kopf legte er sich einige Sätze zusammen, verwarf diese aber wieder und beschloss, doch lieber gar nichts zu sagen.
Eine Weile lang saßen sie also schweigend beisammen, sie blickte in die Flammen, ohne sich zu bewegen, er blickte in den Himmel und zählte die Sterne, rutschte von Zeit zu Zeit auf seinem Platz hin und her.
„Wieso hast du mich gerettet?“, fragte sie, die Augen weiterhin starr auf das Feuer gerichtet.
„Das sagte ich doch schon, ich habe dich von hier aus gehört“, antwortete Gaia und schenkte ihr einen Blick aus dem Augenwinkel. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Er griff sich unauffällig einen Zweig vom Boden und drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her.
„Du warst in der Nähe und ich konnte dein Geschrei hören.“
„Ja, das sagtest du. Du sagtest, dass ich nahe war und du mich hören konntest. Aber das erklärt nicht, warum du mir geholfen hast. Nicht jeder wäre zu mir gekommen, nicht jeder hätte sein Leben riskiert, hätte getötet, um mir zu helfen, und mich danach noch verbunden. Warum also hast du es getan?“
Gaia fühlte sich ertappt, irgendwie peinlich berührt. Er dachte an Tocita und den Tag, an dem er sie verloren hatte. Der Ast spannte sich unter seinen Fingern.
„Ich habe mich eben gefragt, was da los ist. Es hätte ja auch etwas weniger schlimmes sein können. Ein Eber oder sowas.“
„Ein Eber, hier? Klar. Da ist es noch eher wahrscheinlich, es schaut ein Drache hier vorbei. Also, warum?“
„Hätte ich dich lieber verrecken lassen sollen?“, zischte er und bereute sofort, so einen rauen und unhöflichen Ton angeschlagen zu haben. Leana zuckte leicht zusammen und sah beschämt in ihren Schoß.
„Tut mir leid, ich wollte nicht…“, sagte er, hielt inne und seufzte. Er warf die beiden Enden des gebrochenen Zweiges ins Feuer.
„Ich habs nicht böse gemeint.“
„Das dachte ich auch nicht“, antwortete Leana und lächelte ein junges, sanftes Lächeln.
„Mir tut es leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass du mich gerettet hast. Ich wollte nur wissen, ob es einen speziellen Grund gab.“
„Meine Antwort“, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu und lächelte erneut, wobei sie ihn diesmal direkt anblickte, „habe ich ja gewissermaßen bekommen. Trotzdem musst du mir natürlich nicht sagen, was dein Grund war. Und ich entschuldige mich, falls ich dich verletzt haben sollte.“
„Hast du nicht“, erwiderte Gaia, ebenfalls um Sanftheit bemüht, „es kamen bloß ein paar unangenehme Erinnerungen hoch. Verzeih meinen Ausbruch.“
Das Holz im Feuer knackte, als der nächste Scheit in sich zusammenbrach und einige Äste unter sich begrub. Leana und Gaia schwiegen beide.
„Du, Gaia“, sagte Leana und räusperte sich.
„Ich höre.“
„Ich, also…“, sagte sie, verstummte für einen Augenblick, rückte ein Stück zu ihm herüber und setzte dann noch einmal von Neuem an.
„Ich weiß, wie ich meine Dankbarkeit unter Beweis stellen kann. Wenn du nur willst…“
„Wie bitte?“
Das Mädchen rückte noch ein Stück näher, öffnete die Decke diesmal absichtlich ein wenig weiter, so dass sie über eine ihrer Schultern herab glitt. Rasch fügte sie hinzu:
„Ich kann dich nicht bezahlen oder sowas, aber ich könnte es die Sache für dich wert machen…“
„Kein Wort davon, Leana“, unterbrach er sie, ehrlich verwirrt und erschrocken, zog ihr die herabgeglittene Decke wieder über beide Schultern.
„Kein Wort.“
„Wirklich nicht?“, fragte sie unsicher und errötete zusehends, „ich meine, ich hätte kein Problem…“
„Nein. Danke trotzdem.“