Copyright by swriter Mai 2015
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Sie wussten es seit einigen Wochen. Zunächst waren nur wenige eingeweiht. Später hatte sich die Geheimhaltung nicht mehr aufrecht halten lassen. Dann brachen alle Dämme, und die Medien überschlugen sich. Die Zeitungen waren voll, die Sender berichteten jede Minute des Tages über das bevorstehende Ereignis. Die Lenker und Denker aller Staaten arbeiteten fieberhaft zusammen, um die ultimative Lösung für das Problem zu finden. Die Menschen waren auf dem Mond gelandet, hatten Kriegsmaschinen entwickelt, die Millionen von Menschen getötet hatten. Der technische Fortschritt in allen Sparten war rasant verlaufen und nicht aufzuhalten gewesen. Die Menschen konnten alles, was sie sich vorgenommen hatten. Sie waren die Herrscher auf der Erde, bestimmten ihr Leben und ihr Schicksal. Doch plötzlich war nichts mehr, wie es sein sollte.
X/2015 G1. Das war der Name, der den Tod über die Menschheit bringen würde. Ein riesiger, mehrere Kilometer dicker Komet, der mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde zuraste. Sämtliche Berechnungen basierten auf der Annahme, dass der todesbringende Gesteinsbrocken die Erde nicht verfehlen würde. Die Auswirkungen eines Zusammenstoßes hatten Experten Tausende Male berechnet und vorhergesagt. Das Ende der Menschheit war gekommen und jegliches Leben auf diesem Planeten war dem Untergang geweiht. Niemand war in der Lage, den Kometen aufzuhalten. Keine Raketen, keine noch so ausgefeilte Technik war geeignet, die Bahn von X/2015 G1 zu beeinflussen. Er würde genau an diesem Wochenende in die Erdatmosphäre eintreten. Experten rechneten mit dem Einschlag irgendwo auf dem europäischen Kontinent, wahrscheinlich nahe der Grenze zwischen Polen und Deutschland.
Der Aufprall würde mit so enormer Wucht erfolgen, dass die Auswirkungen verheerend wären. Die Menschen in direkter Umgebung würden eines schnellen Todes sterben. Doch nicht nur dort, wo der Komet aufschlagen würde, wäre das Leben zu Ende. Das Leben auf der gesamten Erde würde ausgelöscht werden. Daran bestand nicht der Hauch eines Zweifels. Die Menschen verbrachten die letzten Stunden ihres Lebens auf dem Planeten, der ihre Heimat war und der bald nicht mehr existieren würde. Die Bevölkerung war seit wenigen Wochen informiert und hatte nur wenig Zeit, sich auf den unausweichlichen Augenblick vorzubereiten und mit dem Leben abzuschließen. Man hatte verschiedenste Phasen durchlebt. Unglaube, Zweifel, Hoffnung, Resignation und zum Schluss die Gewissheit, dass es dem Ende zugehen würde. Die Menschheit hörte auf zu existieren, und nun war es an der Zeit, die letzten Momente mit den Menschen zu verbringen, die man liebte und mit denen man den Schmerz in angemessener Atmosphäre teilen konnte.
In der Finkenstraße 25 saß die Familie Müller zu viert im Wohnzimmer. Es war die Zeit nach dem Abendessen. Sie hatten gemeinsam die letzte Mahlzeit zu sich genommen und sich beigestanden. Wie viele andere hatten die Müllers die Hoffnung aufgegeben. Wochenlang hatten sie vor den Bildschirmen gesessen und auf positive Nachrichten gehofft, doch alles Beten und Flehen war umsonst gewesen, es würde keine Rettung geben. Die Erde würde schon bald nicht mehr existieren, und damit mussten die Familienmitglieder klarkommen. Jutta Müller, die 43-jährige Hausfrau, hatte auf ein gemeinsames letztes Abendessen bestanden, auch wenn die anderen keinen Sinn mehr darin sahen, es sich schön und gemütlich zu machen. Sie würden alle sterben – was brächte das?
Sie hatten lange diskutiert, in welchem Rahmen sie den letzten Moment verbringen wollten. Lars, Juttas 21-jähriger Sohn, hatte vorgeschlagen, mit vielen Menschen dem Tod ins Auge zu sehen. Sich irgendwo in einem Stadion treffen, mit den anderen Trauernden und Ängstlichen zusammenhalten und sich gegenseitig Trost zu spenden. Sich bei den Händen halten und dem Kometen entgegen lächeln. Thomas, sein Vater, unterstützte den Wunsch seiner Frau und schlug das Beisammensein im Kreise der Familie vor. Nur sie Vier in aller Stille und Demut, wie sie auf das Ende warteten. Die 19-jährige Nina hätte sich am liebsten in ihr Zimmer verkrochen, die Bettdecke über den Kopf gezogen und das rasche Ende des Weltuntergangs herbeigesehnt. Sie hasste es, auf den Tod warten zu müssen und letzte Feierlichkeiten oder Abschiede anzugehen. Was sollte das bringen? Sie würden sterben, und es würde keine Rolle spielen, ob sie vorher ein letztes Mal im Familienkreise beisammengesessen hätten oder nicht. Hoffnungslosigkeit hatte auf ihr Gemüt geschlagen und es hatte Einiges an Überzeugungskraft gekostet, die deprimierte junge Frau aus ihrer Lethargie zu befreien.
Jetzt saßen sie zu viert am Wohnzimmertisch. Thomas hielt eine Bierflasche in der Hand, die er eingehend studierte. Ob dies sein letztes Bier sein würde, bevor er zu existieren aufhörte? Jutta hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. So viele Erinnerungen hingen mit diesen vier Wänden zusammen. Seit Lars geboren wurde, lebten sie in diesem Haus, in dem sie gemeinsam sterben würden. Lars saß mit verschränkten Armen neben seiner Mutter und starrte geradeaus. Nina hatte sich an ihren Vater gelehnt, der seinen freien Arm um seine Tochter gelegt hatte. Sie hatten sich bis gerade unterhalten, hatten in schönen Erinnerungen geschwelgt und darüber philosophiert, welche Zukunftspläne ihnen vorgeschwebt hätten, und was sie nie mehr würden erleben dürfen. Jutta würde nie ein Enkelkind auf ihrem Schoß sitzen haben, die Kinder würden nie einen Beruf ergreifen, nie einen Partner fürs Leben kennen und lieben lernen, nie mit jemandem alt werden können. Thomas würde nie erleben, wie sein Lieblingsfußballverein doch noch einmal die Meisterschaft einfahren würde. Wichtige Dinge und Kleinigkeiten des Lebens spielten keine Rolle mehr, denn es war ausweglos zu Ende und sie wussten es.
Sie ließen sich in ihrer Lethargie treiben, und plötzlich lachte Nina auf und grinste breit. Ihre Mutter wunderte sich über die Reaktion ihrer Tochter und fragte: „Worüber amüsierst du dich?“
Nina sah sie an und zuckte mit den Schultern. „Mir wird gerade klar, dass ich als Jungfrau sterben werde.“
Jutta warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Ich denke, es gibt Schlimmeres.“
„Zum Beispiel von einem Kometen erschlagen werden?“, erwiderte Nina gereizt.
Thomas meldete sich zu Wort und meinte: „Sei stolz auf dich, dass du auf den Richtigen gewartet hast. Stell dir vor, du wärst mit dem Falschen in der Kiste gelandet und würdest es bis zum Ende deines Lebens bereuen.“
Er lachte auf, und auch die anderen wussten den Witz in seiner Bemerkung zu erkennen.
„Nein ernsthaft“, erklärte Nina. „Ich habe mich bewusst zurückgehalten und bin nicht mit dem erstbesten Typen ins Bett gegangen … Und wofür habe ich mich jetzt aufgespart?“
„Wäre es dir lieber, wenn du dich an einen gemeinsamen Moment mit einem Jungen erinnern könntest?“, wollte ihre Mutter erfahren.
Ein Achselzucken bestätigte, dass Nina sich nicht sicher war.
„Noch ist Zeit“, fiel Lars ein. „Schnapp dir noch schnell einen Typen, den du an dich ranlässt, dann bist du das Problem wenigstens los.“
„Du Arsch!“
„Du hast doch mit dem Thema angefangen“, verteidigte sich ihr Bruder.
„Können wir den letzten Abend nicht friedlich und ohne Streit miteinander verbringen?“, warf Jutta besorgt ein.
Ihre Kinder nahmen sich sogleich zurück, doch dann platzte es aus Nina raus: „Hast du überhaupt schon mal bei einem Mädchen landen können?“
Sie blickte Lars scharf an. Lars war mit seinen 21 Jahren zwar älter als sie, doch in Sachen Partnerschaft kein Stück weiter als Nina gekommen. Seine Welt waren Computer, Schule und Pläne für die Zukunft schmieden gewesen. Eine Freundin war so weit weg gewesen, wie die Rettung für die Menschheit. Lars blickte seine Schwester feindselig an und meinte: „Ich habe mein Leben so gelebt, wie ich es haben wollte. Ich bereue nichts und werde keiner Gelegenheit nachtrauern.“
„Also bist du auch nur ein verdammter Unberührter, der zu dämlich war, wenigstens einmal in seinem Leben in den Armen eines anderen Menschen zu liegen.“
„Kinder. Hört doch auf damit“, bat Jutta inständig.
„Wenn es dir so wichtig ist, hättest du mal hier und da die Beine breitmachen sollen“, warf Lars feindselig ein.
„Vielleicht hätte ich das wirklich einfach mal tun sollen.“
„Hört euch doch mal zu“, forderte Thomas seine Kinder auf. „Wir verbringen hier die letzten gemeinsamen Stunden und ihr feindet euch wegen so einer Sache an.“
Nina schmollte und verschränkte die Arme vor der Brust. Lars musterte sie mit kritischem Blick und war kurz davor, eine weitere abfällige Bemerkung vom Stapel zu lassen, doch seine Mutter hielt ihn mit einem warnenden Blick davon ab. Die Familie schwieg sich eine Weile aus, dann fragte Jutta ihre Tochter: „Hast du das Gefühl, etwas in deinem Leben verpasst zu haben?“
Nina dachte nach. „Es gibt sicherlich etliche Dinge, die ich anders gemacht hätte oder die ich längst getan hätte, hätte ich geahnt, wie wenig Zeit mir bleibt.“
„Gehört dazu auch das Erlebnis, mit jemandem zu schlafen?“
Nina nickte. „Ich weiß, dass es Wichtigeres gibt … Und angesichts unserer Zukunft klingt es wahrscheinlich albern, es nicht wenigstens einmal ausprobiert zu haben.“
„Ich kann das nachvollziehen“, gab Jutta zu. „Ich bin mir sicher, dass du einige schöne Stunden mit einem anderen Menschen verbracht hättest. Vielleicht wärst du aber auch enttäuscht worden, weil es nicht so gelaufen wäre, wie du es dir erträumt hast.“
„Ist ja auch egal“, zeigte sich Nina resigniert. „Ob ich jetzt Sex gehabt habe oder nicht … Was ändert das an unserem Schicksal?“
„Hör mal Nina“, schaltete sich ihr Vater ein. „Wenn es dir so wichtig ist, dass es dir keine Ruhe lässt, musst du etwas tun.“
„Was soll sie denn bitteschön tun?“, fragte Jutta überrascht und blickte ihren Mann ungläubig an. Thomas zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sollte Nina tatsächlich wenigstens einmal in ihrem Leben in den Armen eines Mannes liegen.“
„Und du glaubst, darauf kommt es an?“, fragte Jutta kritisch nach.
„Wenn es Nina wichtig ist, solltest du das nicht kleinreden.“
Jutta verstand ihren Mann nicht und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Also wärst du dafür, dass Nina jetzt noch loszieht und sich auf einen Typen einlässt, statt ihre letzten Stunden mit ihrer Familie zu verbringen?“
„Nein, natürlich nicht“, entgegnete Thomas. „Aber … aber vielleicht kann man ja beides miteinander verbinden.“
„Ich verstehe nicht.“, hakte Jutta nach.
„Ach, vergiss es“, wiegelte Thomas ab.
„Nein … Sag schon. Was meinst du?“
Thomas blickte in die Runde und sah jedem aus seiner Familie in die Augen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf seine Frau und sagte leise: „Sie könnten doch ihr erstes Mal im Kreise der Familie erleben.“
Im Wohnzimmer herrschte Schweigen. Keiner sagte etwas. Es schien, als würde niemand zu atmen wagen. Jutta starrte ihren Ehemann ungläubig an und versuchte zu ergründen, was er mit seiner Äußerung gemeint haben könnte. Sie setzte mehrfach zu einer Erwiderung an, verstummte dann aber wieder. Dann riss sie sich zusammen und fragte: „Habe ich dich jetzt richtig verstanden …? Du schlägst also vor, dass wir unseren Kindern ihr erstes und letztes sexuelles Erlebnis im Kreise unserer Familie nahebringen?“
„Was?“, stöhnte Lars auf. „Seid ihr verrückt?“
„Was soll denn diese blöde Idee“, beschwerte sich auch seine Schwester.
Jutta brachte ihre Kinder mit einer Handbewegung zum Schweigen und wandte sich erneut an ihren Mann. „Das kannst du doch nicht ernst meinen.“
„Warum denn nicht? Jetzt ist doch sowieso alles egal … Was immer wir heute hier tun, wird Morgen Geschichte sein. Niemand wird sich an diesen Abend erinnern, denn dann sind wir alle mausetot.“
„Das ist mit durchaus bewusst“, erwiderte seine Frau.
Thomas hielt ihrem fragenden Blick stand und erklärte: „Was soll es bringen, auch diesen letzten Abend in Anstand und mit moralischen Grundsätzen zu verbringen? Niemand wird uns morgen früh verurteilen, keiner zeigt mit dem Finger auf uns. Wir müssen uns nicht rechtfertigen. Es gibt keine Richter, die uns zur Rechenschaft ziehen werden.“
„Aber das ist noch lange kein Grund, sich wie die Tiere zu benehmen“, warf Jutta ein.
„Glaubst du, dein Tod ist ehrenhafter, weil du am letzten Abend deines Lebens anständig geblieben bist?“, fragte Thomas energisch. „Warum sitzen wir hier auf der Couchlandschaft und warten auf das Ende …? Warum lassen wir nicht die Sau raus? Warum feiern wir nicht? Tun nicht Dinge, die wir uns früher nie getraut haben? Warum schlagen wir nicht über die Strenge, lassen uns gehen und machen, was uns verdammt noch mal gefällt?“
Der Rest der Familie sah ihn eindringlich an. Die Kinder hatten geschwiegen und sich aus dem Disput zwischen ihren Eltern herausgehalten. Jetzt meldete sich Nina leise zu Wort und sagte: „Papa hat ja irgendwie Recht.“
„Wie bitte?“
„Ich meine … das mit dem Feiern“, erklärte Nina. „Wir sitzen hier tatsächlich wie auf unserer eigenen Beerdigung, statt noch einmal etwas Besonderes zu erleben.“
„Genau“, unterstützte Thomas seine Tochter. „Wir könnten mit einem Knalleffekt aus dem Leben scheiden. Wozu sollen wir uns zurückhalten? Dies ist unsere letzte Gelegenheit.“
Jutta blickte sich um. Niemand sagte etwas. Sie schüttelte dezent den Kopf und vergrub dann den Kopf in den Händen. Sie fing zu weinen an, und der neben ihr sitzende Lars nahm sie tröstend in den Arm. Nach einer Weile versiegten ihr die Tränen und sie setzte einen trotzigen Blick auf. „Vielleicht habt ihr Recht. Ich habe mich mein Leben lang anständig und moralisch vorbildlich verhalten. Und dennoch werde ich morgen sterben.“
„Es sagt ja niemand, dass dein Verhalten falsch war“, war sich Thomas sicher. „Nur vielleicht solltest du einmal über deinen Schatten springen und etwas Verrücktes tun.“
„Und das wäre?“
Thomas grinste frech. „Zum Beispiel dafür zu sorgen, dass deine Kinder nicht als Jungfrauen an die Himmelspforte treten müssen.“
Lars hatte sich bislang bedeckt gehalten und zog auch weiterhin vor, dieses spezielle Thema nicht zu diskutieren. Jutta sah ihren Mann fragend an und meinte: „Und was denkst du, sollten wir jetzt tun?“
Thomas zuckte mit den Schultern und warf seiner Tochter einen neugierigen Blick zu. „Was denkst du darüber, Nina?“
Ihre Tochter spürte die Blicke der anderen auf sich und senkte den Kopf. Sie flüsterte: „Ich weiß nicht.“
„Du hast das Thema mit der verlorenen Unschuld eingebracht. Du musst doch eine Meinung haben“, hakte ihre Mutter nach.
„Natürlich habe ich es bedauert, dass mir dieses Erlebnis in meinem bisherigen Leben gefehlt hat“, stellte Nina fest. „Aber ich habe mir natürlich auch noch nie Gedanken darüber gemacht, etwas im Kreise meiner Familie zu machen.“
„Und du, Lars?“
Der 21-Jährige rückte seine Brille auf der Nase zurecht und erklärte: „Ihr wisst schon, dass das eine ganz schön verrückte Idee ist, oder …? Andererseits spielt es glaube ich keine Rolle, ob wir etwas tun, was wir bereuen könnten, angesichts unserer Lebenserwartung, die unter der einer Eintagsfliege liegt.“
„Jetzt mal konkret“, hakte Thomas nach. „Könntest du dir vorstellen, etwas zu tun, was du unter normalen Umständen nicht getan hättest.“
„Zum Beispiel?“
„Keine Ahnung … Sex mit einem Familienmitglied zu erleben“, schlug Thomas vor und sah im nächsten Moment, wie seine Leute nach Luft schnappten. Doch es hagelte keine Proteste, es gab keine spontanen Einwände, kein Verurteilen des ungeheuerlichen Vorschlages.
„Mit Mama?“, fragte Lars nach.
„Oder mit deiner Schwester“, skizzierte Thomas eine Alternative.
„Ich sag ehrlich, dass ich nicht so wirklich scharf darauf bin, mit meinem Bruder in die Kiste zu hüpfen“, erklärte Nina und fing sich sogleich einen finsteren Blick ihres Bruders ein.
„Ich könnte mir auch Schöneres vorstellen, als dich nackt zu sehen.“
„Kinder … Hört jetzt bitte auf“, bat Jutta, die sich zuletzt mit Kommentaren zurückgehalten hatte. „Was wir auf keinen Fall tun sollten, wäre, miteinander zu streiten. Was das andere angeht … Vielleicht wäre nun wirklich die Zeit gekommen, etwas total Verrücktes zu unternehmen.“
Ihr Mann und die Kinder hingen ihr an den Lippen. Jutta atmete tief ein und aus und sagte dann: „Wie wäre es, wenn wir es uns bequem machen würden? Wir ziehen uns einfach aus, bleiben hier gemütlich sitzen, trinken einen leckeren Wein und sehen, wohin das alles führt.“
„Eine gute Idee“, fand Thomas und erhob sich von seinem Platz. Er begab sich in die Küche und kehrte kurz darauf mit einer Flasche und vier Weingläsern zurück. Er öffnete die Flasche, während Jutta auf ihre Kinder einredete. „Ich möchte, dass wir das hier vollkommen entspannt angehen. Am besten machen wir uns frisch, ziehen uns schick an und kommen dann wieder zusammen.“
„Wozu sollen wir und schön anziehen, wenn wir uns dann doch wieder ausziehen?“, zeigte sich Lars skeptisch.
Jutta warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. „Also gut … Dann machen wir uns frisch und kommen anschließend so wie wir sind hierhin zurück.“
„Also nackt?“, fragte Nina nach.
„Ja. Einfach nur nackt“, bestätigte ihre Mutter. „Um es etwas angenehmer zu gestalten, verhüllen wir uns mit Badetüchern.“
„Ich habe zwar keine Ahnung, was gleich hier passieren wird und ob wir nicht die größte Dummheit aller Zeiten begehen … Aber ich gehe jetzt erst einmal duschen“, erklärte Nina und erhob sich von ihrem Platz. Lars sah ihr hinterher und blickte dann seinen Vater fragend an. „Willst du das wirklich durchziehen?“
Thomas schenkte Wein in die Gläser und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was richtig und was falsch ist, besonders angesichts unserer Situation. Aber ich verspüre das Bedürfnis, mit einem Knalleffekt aus dem Leben zu scheiden. Und was kann es Aufregenderes und Verboteneres geben als das, was wir im Begriff zu tun sind?“
Zwanzig Minuten später kamen sie wieder im Wohnzimmer zusammen. Nina und Jutta hatten sich geduscht und sich anschließend mit Badetüchern die nackten Körper verhüllt. Ihre nassen Haare fielen ihnen auf die nackten Schultern. Lars musste überredet werden, sich an der ungewöhnlichen Aktion zu beteiligen. Er fand es falsch und bedenkenswert, das zu tun, was im Raum stand, doch da er nicht außen vor bleiben wollte, riss er sich zusammen und hatte sich wie sein Vater vorbereitet. Vater und Sohn saßen nebeneinander auf dem einen Teil der Couchlandschaft. Beide hatten freie Oberkörper und trugen Badetücher um ihre Hüften. Lars trug seine Brille und wirkte unsicher, während Thomas selbstbewusst auf seinem Platz saß und den Frauen seiner Familie neugierige Blicke zuwarf.
Jutta ergriff das Wort und sagte: „Wenn ich etwas vorschlagen darf …? Ich finde, wir sollten uns langsam an die Sache herantasten und nichts überstürzen.“
„Einverstanden“, bestätigte ihr Mann.
„Also gut“, fuhr Jutta fort. „Um die Situation etwas aufzulockern, erzähle ich euch einfach mal etwas über mein erstes Mal.“
„War das nicht mit Papa gewesen?“, fragte Nina überrascht.
Thomas lächelte wissend und Jutta räusperte sich. „Euer Vater kam etwas zu spät. Jemand kam ihm zuvor.“
„Wer war der Glückliche?“, fragte Nina nach.
„Ihr kennt ihn nicht und es war zwar mein erstes Mal, aber es war im Nachhinein nichts Besonderes“, gestand Jutta. „Den meisten jungen Frauen dürfte es so wie mir ergangen sein. Man hat Angst, etwas falsch zu machen. Man ist unsicher, unerfahren und weiß nicht, was einen erwartet. Meistens ist der erste Sexpartner ebenso unerfahren wie man selber und beide stellen sich mehr als dämlich an.“
Nina lächelte schelmisch und warf ihrem Bruder einen aufmunternden Blick zu. Lars schien noch zu überlegen, was er bei dem Geständnis seiner Mutter empfinden sollte.
„Auf jeden Fall war mein erster Mann sehr unerfahren und tierisch nervös. Er hat mich überall angefasst und ging dabei nicht sehr geschickt vor. Ich weiß noch, dass ich mir meinen BH selber ausgezogen habe. Dann hat er mir unter das T-Shirt gefasst und losgelegt wie die Feuerwehr.“