Seelentrinker Teil 2: Seelenverwandte
Maunzi
Es war fast schon 18:00 Uhr und es wurde langsam dunkel. Nach Feierabend war sie erst nach Hause gegangen, hatte sich frisch gemacht, kurz etwas gegessen, mit Tonja gesprochen und jetzt waren sie hier.
Sie wusste eigentlich auch nicht so genau, warum sie mit ihrer Tochter zusammen hierhergekommen war. Der Mann war offensichtlich schwer behindert und solche Wohnungen waren nachvollziehbarerweise oft zugemüllt, vernachlässigt und rochen ziemlich übel.
Dann noch eine Katze. Hoffentlich war sie sauber und es ging ihr gut.
Vor ihrem inneren Auge zeichnete sich bereits ein wahres Desaster ab. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht so schlimm. Nur hatte sie so was halt immer wieder gehört und wenn man mal dem Durchzappen mittags bei den Privaten kurz hängen geblieben war… Da sah man schon so Einiges.
Umgekehrt wollte sie aber auch nicht allein in die Wohnung gehen und war froh über eine Begleitung. So war halt Tonja mit dabei, ihre Tochter.
Die war begeistert, als sie von der Katze hörte. Kinder stehen immer auf Tiere. Na ja, Tonja war mit ihren zwölf Jahren eher ein Teen und die komplizierten Jahre standen direkt bevor. Aber mit Tonja hatte sie eine feste Stütze an ihrer Seite.
Sie hoffte, dass Herr Kleinmanns bald wieder auf die Beine kommen würde, aber so wie er dagelegen hatte, war sie skeptisch. Auf der anderen Seite hatte sie sofort gesehen. Dieser Mann war ein Kämpfer!
Das Treppenhaus verhieß nichts Gutes. Hier im Viertel waren die Häuser höchst unterschiedlich, kam immer darauf an, wer darin wohnte.
Ihr Haus war gerade mal zwei Häuser entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, doch im Eingangsbereich waren gepflegte Rabatten mit blühenden Blumen, schöne gestutzte Büsche und auf dem kleinen Rasenstreifen, der das Haus umgab, strahlten farbenfroh die Wildblumen zwischen saftigem Grün.
Hier war alles trocken, verdorrt, zugemüllt und ein Hundeklo. Die umgekippte und halbvolle Mülltonne lag da auch schon seit Wochen und stank erbärmlich.
Jeder tut, was er kann und will — jedem das Seine… Sagte man das hier in Deutschland nicht so?
Im Eingangsbereich setzte sich der erste Eindruck fort. Sie sah kurz auf Tonja.
„Vergiss es. Ich komme mit!“
Aber ihr Blick sprach Bände. Den Heiligen sei Dank, wir wohnen in einem anderen Haus und so wie das hier aussah, auch in einer anderen Welt.
Der Aufzug ging immer noch nicht und beim Absatz des dritten Stocks stand der zusammengefaltete Rollator. Zum Glück hatte den niemand geklaut.
Herr Kleinmanns wirkte nicht so, als ob er sich eben mal so einen neuen leisten könnte.
„Tonja, nimmst Du den Rollator mit?“
Zwischen Treppenhaus und dem Flur der dritten Etage war eine schwergängige Brandschutztür. Sabina öffnete sie für ihre Tochter und sie betraten den Flur. Ein paar der Birnen waren kaputt. Seine Tür war die letzte auf der rechten Seite. Eine lustige Kette mit offensichtlich selbstgestalteten Ostermotiven hing an seiner Tür.
Als sie die Tür öffnete, hörte sie schon ungeduldiges Maunzen dahinter. Da hatte sich wohl jemand seinen Namen wohlverdient -„Maunzi“.
„Wir müssen vorsichtig sein, dass die Katze nicht hinausschlüpft.“
„Ich pass schon auf.“
Behutsam öffnete Sabina die Tür, doch die Katze war verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie begriffen, dass ihr Herrchen jetzt nicht kommen würde.
„Ist ja guuut“
Sabina richtete ein paar beruhigende Worte an die Katze. Wie auch ihre Tochter liebte sie Tiere. Ihr wurde gerade schmerzlich bewusst, dass sie seit ihrer Scheidung seltsamerweise nie wieder ein Tier gehabt hatten.
Sie betätigte den Lichtschalter und der Flur wurde mit Licht erfüllt.
Einladend!
Sie orientierte sich kurz.
Direkt links ging es ins Badezimmer. Große Dusche mit Stuhl, Badezimmerschränke und Katzentoilette.
Rechts ging es in einen anderen Raum — vielleicht das Wohnzimmer. Dann folgte wahrscheinlich das Schlafzimmer, wo sie eine sehr große, goldbraun gesprenkelte Katze misstrauisch beäugte. Geradeaus ging es in eine geräumige Wohnküche. Der Schnitt war identisch mit ihrer eigenen Wohnung.
Gleiche Baugesellschaft, gleiches Muster.
Schuhschrank, ein kleiner antiker Tisch und ein schönes Bild — schon auf den ersten Blick war alles sehr ordentlich und die Wohnung roch sehr gut.
Ein Rest von Räucherwerk?
Orangenöl?
„Komm rein Tonja.“
Sie traten komplett ein, schlossen die Tür und die Katze verschwand in den Tiefen des Schlafzimmers.
„Bist Du ein wenig neugierig?“
„Ja. Schon. Ich bin das erste Mal in einer fremden Wohnung, ohne das“
„… derjenige mit dabei ist, der sie bewohnt. Geht mir auch so. Komm. Lass uns erst mal in die Küche gehen und schauen, ob die Katze vielleicht Hunger hat.“
„Soll ich mal nach ihr sehen?“
Tonja war neugierig.
„Gib ihr noch ein paar Minuten, sich an die Situation zu gewöhnen. Sie wird schon neugierig sein. Und wenn sie hungrig ist, kommt sie ganz automatisch.“
Die Wohnküche war ebenfalls sehr sauber. Ein wunderschöner grüner Florteppich lag auf dem braunen Laminat.
Esstisch, Eckbank und zwei Stühle, ein bequemer Barhocker. Tonja schnappte sich gleich einen der beiden Stühle und setzte sich. Ein alter umfunktionierter Wohnzimmertisch mit Mikrowelle, Küchengeräten und unter dem Tisch Getränkekisten — vielleicht von einem Lieferdienst.
Sabina ging mit offenen Augen durch den großen Raum. Die Küche war sehr sauber und gut organisiert. Alles da, was man brauchte und wichtige Sachen alle in Griffhöhe.
Ja er hatte wohl beim Bücken seine Schwierigkeiten.
Ein uralter, wunderschöner Buffetschrank mit altem Geschirr. Sah teuer aus. An der Wand hingen alte bemalte Porzellanteller mit filigranen Blumenmotiven, Pfannen und Küchenequipment.
„Wirkt sehr gemütlich.“
„Ja, muss ich auch sagen.“
„Das ist wohl der Katzenfressplatz.“
Tonja zeigte neben den Barhocker. Dort lag auf dem Boden ein Plastikset mit einem fast leeren Wassernapf und der Fressnapf war komplett leer.
„Sie wird Hunger haben.“
„Ich schau mal in den Küchenschränken.“
Alles war so anderes, als Sabina es sich vorgestellt hatte.
„Vielleicht im Kühlschrank? Wir haben Neros Futter immer im Gemüsefach gehabt.“
„Gute Idee Tonja.“
Tonja stand auf, nahm die Katzennäpfchen, ging zur Spüle, drehte das Wasser auf und fing an sie zu reinigen.
Das vertraute Klappern war nur allzu verführerisch.
„Schau mal Mutti wer da ist!“
Da stand sie im Türrahmen. Riesig und schön. Maunzi war eine wirklich gewaltige in unterschiedlichsten Rot-, Gold- und Brauntönen getigerte Katze mit großen grünen Augen.
Ein tolles Tier.
Welches die beiden Eindringlinge jetzt zunehmend weniger skeptisch beäugte.
„Du willst wohl das hier?“
Sabina war im Kühlschrank sofort fündig geworden. Kein Wunder, war ja auch fast völlig leer. Eine große, angebrochene Dose „Felix“ Wildhäppchen.
Kaum erblickte Maunzi die Dose, strich sie schnurrend am Türrahmen vorbei und kam in die Küche herein. Nach den ersten Happen und ein paar von Tonjas Streicheleinheiten war das Eis gebrochen.
Im Krankenhaus
Es klopfte und die Türe öffnete sich. Er war überrascht, als er die Verkäuferin erblickte. Sie trug eine schwarze Jeans, einen grünen Pullover und eine schwarze Strickjacke — ein schöner Kontrast zu ihrem Haar. Sie war nicht im eigentlichen Sinn attraktiv und dennoch hatte sie etwas sehr angenehmes an sich, das ihm vorher kaum aufgefallen war.
Apropos angenehmes Aussehen — er war ja selbst auf den Spitzenplätzen in jeder Freakshow.
Sie lächelte ihn an.
„Hallo.“
„Hallo Herr Kleinmanns.“
Sie kam herein, setzte sich und stellte seine kleine Reisetasche ab.
„Wie geht es Ihnen? Ah, sie haben ja die Sachen an.“
„Danke noch einmal für die Kleidung. Sagen Sie mir bitte, was ich Ihnen schuldig bin?“
„Nichts. Sie sind bereits abgeschrieben. Ich denke so etwas sollte doch selbstverständlich sein. Aber nochmals — wie geht es Ihnen?“
„Ganz gut. Ich habe im Moment keine Schmerzen. Aber nächste Woche werde ich wohl unters Messer dürfen — gleich zwei Mal. Da ist ein Riss in der Bauchdecke und in einem Knie ist so ziemlich alles kaputt. Die sind gerade am Überlegen, ob sie bei den Vorschäden vielleicht gleich ein neues Knie einbauen sollen. Aber es hätte schlimmer kommen können.“
Er lächelte, bis ihm wieder einfiel, dass sein Lächeln eher was von Teufelsfratze hatte. Er schämte sich irgendwie vor dieser Frau.
Sein Aussehen — er wusste das — war mehr als nur gewöhnungsbedürftig.
Scheiße!
Er wünschte sich…
„Vorsicht!“
Da war es wieder das Wispern in seinem Kopf…
„Auch nicht dran denken — manche Dinge gehen zu schnell und unbedacht in Erfüllung.“
„Das tut mir sehr leid für Sie.
Ich habe noch einmal nachgedacht und mit meiner Tochter gesprochen. Wenn Sie diese Kerle anzeigen möchten, werde ich eine Aussage machen.
Gerade jemanden wie Sie anzugreifen — was kommt dann als Nächstes?“
„Ich danke Ihnen. Wirklich!“
Er holte tief Luft und schloss unwillkürlich die Augen.
„Ich möchte keine Anzeige machen. Die Polizei war schon da. Sie wissen bereits das meiste. Aber ich möchte nicht, dass Sie wegen mir Schwierigkeiten bekommen. Ich denke an Ihre Tochter und ich sollte auch daran denken — Hamids Eltern wohnen bei mir im Haus. Hamid ist zwar irgendwann mal bei seinen Eltern ausgezogen, aber er besucht sie noch täglich.
Er ist nicht der Typ, der vergessen wird — speziell wenn ihm jemand Ärger bereiten will.“
„Oh, das wusste ich nicht. Aber was Hamid anbelangt — ich schätze ihn auch so ein. Aber irgendwann muss dem doch jemand mal wirkliche Grenzen aufzeigen.“
„Das sollten aber nicht wir sein. Er kennt unsere Schwachpunkte. Im Moment habe ich ehrlicherweise andere Probleme und Sorgen…“
„Welche?“
„Was wird aus meiner Katze? Ich werde ein paar Wochen weg sein… Operation, Reha — ich kenne das alles bereits zur Genüge.“
„Machen Sie sich um die Katze mal keinen Kopf. Um die kümmern wir uns. Wir könnten sie für die Zeit bei uns einquartieren. Und Ihre Blumen gieße ich zwei, drei Mal die Woche — wenn Sie möchten. Das sollte auch kein Thema sein.“
Marius war gerührt.
„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Das macht sehr vieles deutlich leichter. Maunzi ist das Einzige, was ich noch habe und was mir wirklich etwas bedeutet.“
„Keine Freunde?
Keine Verwandte?“
Die Fragen kamen wie im Reflex, aber schon während sie sie stellte, wusste sie bereits seine Antwort. Und diese wollte sie ihm eigentlich ersparen.
„Nein, leider keine Verwandten mehr. Und Freunde — es soll jetzt nicht zu sarkastisch klingen, aber sehen Sie mich mal an.
Ich bin ein Monster.
Keiner will etwas mit einem Monster zu tun haben.
Nur Maunzi ist bei mir.“
Sie hasste es, wenn Menschen in Selbstmitleid aufgingen, auch wenn sie ihn sehr gut verstehen konnte. Sie hatte zugegebenermaßen auch etwas Probleme mit seinem Anblick.
Aber sie konnte ihm in die Augen sehen. Und sie hielt seinem Blick stand.
„Nun, bin ich nicht auch hier?!“
Sie legte ihre Hand auf die kleine Reisetasche.
„Und ich habe ein paar Sachen für Sie zusammengesucht. Ich hoffe Sie haben nichts dagegen.
Handy, Toilettensachen, ein paar Waschlappen und Handtücher, einen frischen Jogginganzug, einen Schlafanzug und Ihre Hausschuhe.
Ich wusste leider nicht, wie lange sie bleiben.
Außerdem habe ich noch zwei Flaschen Saft, etwas Obst und ein wenig „Nervennahrung“ mit dabei. Ich weiß leider nicht, was Sie gern mögen — süß, salzig, würzig… In der Wohnung habe ich leider kaum etwas gefunden. Deswegen habe ich jetzt einfach mal von allem etwas mitgebracht.“
„Vielen lieben Dank.
Entschuldigen Sie meinen Ausbruch eben.
Aber wo haben Sie das alles her?“
„Hey, Sie vergessen anscheinend, wo ich arbeite.“
Da war es wieder. Das strahlende Lächeln.
Er lächelte unwillkürlich zurück.
Wie in einem Horrorfilm. Nur tragisch. Sie wusste, er lächelte und fühlte sich befreit. Nur veränderte sich sein Gesicht dabei nicht zum Besseren. Sie musste sich wirklich beherrschen. Hoffentlich merkte er es nicht.
„Ein Unfall?“
„Ja, vor über fünf Jahren. Eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Als wir alle standen, rauschte noch ein schwerer LKW in uns alle rein. Mein Wagen hatte Feuer gefangen und den Rest sehen Sie ja…“
„Scheiße!“
„Genau.“
„Ich habe morgen frei. Die Katze ist für heute versorgt. Morgen holen wir sie. Ich glaube, meine Kleine wird ganz happy sein.
Brauchen Sie noch etwas?
Kann ich Ihnen noch etwas mitbringen?“
„Im Schlafzimmer in meinem rechten Kleiderschrank finden Sie hinten unten eine große Transportbox für die Katze. Die ist stabil und hat oben und an der Seite Griffe.
Brauchen… Im Moment fällt mir nichts ein.“
Sie nickte. Transportbox — das machte alles etwas einfacher.
„Gut. Hier ist meine Nummer. Klingeln Sie morgen mal bei mir durch. Dann habe ich auch Ihre Nummer für den Fall der Fälle. Sagen Sie mir, was Sie brauchen… Ihre Wäsche können Sie mir gern mitgeben — wobei die Wäsche von heute…“
„Ist bereits entsorgt. Die hätte niemand mehr wieder sauber bekommen. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich kann das gar nicht alles wiedergutmachen. Ich kann sie auch kaum entschädigen. Ehrlicherweise habe ich als Invalide und Frührentner kaum etwas.“
„Müssen Sie auch nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich das alles tue. Vielleicht Karma.“
„Dann laden Sie jetzt gerade eine Menge gutes Karma auf“
Wenn das alles meine Chancen steigert, werde ich vielleicht im nächsten Leben keine Ameise.
„And I´m not Jesus.“
„Wer weiß?
Wer weiß?“
Beide lachten herzlich.
Einblicke und Ausblicke
Am nächsten Morgen waren sie wieder in der Wohnung. Tonja war natürlich auch wieder mitgekommen. Sie war gerade in der Küche und beschmuste gerade ausgiebig Maunzi, die Tonjas Streicheleinheiten mit lautem Schnurren quittierte.
Sabina sah sich etwas intensiver in der Wohnung um.
Reine Neugier.
Der Mann entsprach so keineswegs ihren Erwartungen, schon gar nicht ihren Klischees. Und es fiel ihr schwer zuzugeben, dass sie welche hatte.
Die Wohnung war geschmackvoll eingerichtet. Viele der Sachen waren älter oder antik. Aber richtig wertvoll war nichts.
Alles war sauber.
An der Wand im Wohnzimmer hingen ein paar Fotos. Der Typ sah vor seinem Unfall gar nicht mal schlecht aus.
Überall waren Bücherregale vollgestopft mit Büchern — Manche aktuell, andere offensichtlich älter und abgegriffen.
Vielleicht hatte er sie mehrfach gelesen?
Vielleicht gebraucht gekauft?
Er hatte es ja nicht so dicke.
Auf der Kommode standen mehrere Bilder — eines zeigte ihn und eine hübsche Brünette, wohl beim Italiener. Ein anderes die gleiche Brünette mit einem anderen Mann und zwei kleinen Kindern, einem Bub und einem Mädchen.
Und neben der Kommode war ein Ständer mit einer schönen Gitarre. Sie sah etwas ungewöhnlich aus… eher etwas rundbauchig und fast schon schwarz mit langem Hals.
Ihr blick fiel auf die Wand über der Gitarre. Dort hing gerahmt eine Kollage mit Bildern. Er stand auf einer Bühne, mittelalterlich gekleidet und machte Musik. Das war wohl auf einem größeren Festival in einer Burg. Die Gruppe sah cool aus. Aber auch diese Frau war wieder auf drei Bildern. Sie sang wohl in dieser Gruppe.
Ein alter, ziemlich abgegriffener Zettel steckte mehrfach gefaltet in der unteren rechten Ecke des Rahmens.
Ein Brief?
Sie konnte nicht umhin, ihn vorsichtig herauszunehmen und zu öffnen.
Sie setzte sich auf das Sofa und las…
Meine liebste Nadine
Bitte geh nicht fort
Was ich auch getan
Was ich auch gesagt
Glaube nicht ein Wort
Denk nicht mehr daran.
Oft sagt man im Streit Worte, die man dann später tief bereut.
Dabei wollt mein Herz ganz Dein eigen sein
Denn ich liebe Dich, lieb nur Dich allein
Bitte, geh nicht fort!
Bleibe nah bei mir gebe mir Deine Hand
Ich erzähle Dir von dem fernen Land
Wo man kein Zorn, keine Tränen kennt
keine Macht der Welt Liebende mehr trennt
Wo auf weiter Flur blüht kein Herzeleid
Wo ein Treueschwur hält für Ewigkeit
Bitte, geh nicht fort!
Lass mich nicht allein
Wenn Du mich verlässt stürzt der Himmel ein
Lass uns so wie einst stumm am Fenster stehen
traumverloren sehen, wie die Nebel drehen
Bis am Himmelszelt voll der Mond erscheint
Unsere beiden Schatten liebevoll vereint
Bitte, geh nicht fort!
Glaube mir, ich werde Deine Sehnsucht stillen
Werde Dir jeden Wunsch dieser Welt erfüllen
Werde alles tun, was ich hab versäumt
Um der Mann zu sein, den Du Dir erträumt
Du musst mir verzeihen ich beschwöre Dich
Lass mich nicht allein, denn ich Krüppel liebe Dich
Bitte, geh nicht fort!
Und so tauchte sie mehr und mehr in das tragische Schicksal dieses Mannes ein.
Tränen standen ihr in den Augen.
Das hätten auch ihre Zeilen sein können. Dieses Lied drückte genau das aus, was sie während ihrer Scheidung fühlte.
Doch nicht sie war schuld!
Manfred hatte sie betrogen und nicht nur einmal.
Sie hatte für ihn alles aufgegeben und war nach Deutschland gezogen. In ein fremdes Land.
Sie hatte diese fremde Sprache gelernt – nur um bei Aldi zu arbeiten???
Sie hatte zwei Studienabschlüsse und einen Doktortitel — auch wenn das hier nicht anerkannt wurde.
Sie konnte förmlich den Schmerz und die Zerrissenheit fühlen, die Marius beim Schreiben dieses Liedes gespürt haben musste.
Doch suchte er die Schuld für das Scheitern offensichtlich noch bei sich selbst.
Deswegen konnte sie auch verstehen, warum er so verbittert war und sich aus der Sicherheit seiner vier Wände so selten hinausbegab.
Nur war das richtig?
Richtig, was sie hier tat?
Blumen gießen!
Katze!
Wäsche und was Marius sonst noch so brauchte…
Das war es, wofür sie den Schlüssel bekommen hatte.
Und sie wäre bestimmt auch nicht glücklich, wenn jemand im umgekehrten Fall so in ihr Leben eintauchen würde.
Energisch nickte sie, faltete den Zettel wieder zusammen, steckte ihn zurück in den Rahmen und ging zu ihrer Tochter.
Eine unerwartete Begegnung
„Hältst Du mir mal kurz die Tür auf Tonja?“
Die massive Treppenhaustür war mit dem Katzenkorb zusammen etwas zu viel für sie. Maunzi war riesig und somit alles andere als ein Leichtgewicht.
„Mach ich Mama!“
Tonja tanzte um Sabina aufgeregt herum, stellte kurz die Taschen mit dem sauberen Katzenklo und den anderen Utensilien ab und öffnete für ihre Mutter die Tür.
Eine Katze!
Tonja freute sich wirklich.
Schade, dass es nicht auf Dauer war. Aber irgendwann würde Marius aus der Rehaklinik wieder zurück nach Hause kommen und dann sollte natürlich auch wieder seine Katze auf ihn warten.
Nun, vor dem Abschied nehmen, standen erst einmal einige Wochen mit einer neuen Mitbewohnerin auf dem Plan.
Sie gingen die Treppen herunter.
„Und? Freust Du Dich Tonja?“
„Riesig! Kann Maunzi in meinem Bett schlafen?“
„Wenn sie möchte. Katzen sind da ganz eigen.“
„Oh ja bitte Maunzi?“
Die Katze miaute vernehmlich — aber weniger aus Zustimmung sondern vielmehr voller Missbilligung, in diesem schwankenden „Etwas“ durch die Gegend getragen zu werden.
Sie traten ins Freie.
Auf der Straße vor dem Hauseingang hielt ein dunkler älterer Mercedes und eine ältere Frau mit zwei Töchtern in Tonjas Alter stiegen aus. Kurdisch? Türkisch? Arabisch?
Tonja nickte ihnen zu. Sie kannte die beiden von der Schule.
Offensichtlich war die Familie einkaufen gewesen. Jede war mit mehreren Tüten beladen. Der Mann fuhr weiter, wahrscheinlich um einen Parkplatz suchen…
„Ist das nicht Maunzi?“
Die ältere Frau sprach Sabina verwundert an.
„Ja. Das ist sie. Wir nehmen sie ein paar Tage in Pflege…“
„Dann ist Marius also nicht zu Hause?“
„Nein. Er ist im Krankenhaus.“
„Im Krankenhaus?
So schlimm?
Ich wollte es nicht glauben, als ich es gehört habe.