Wer schnellen Sex will, ist hier falsch.

Wer in 100 Sätzen 20 sexuelle Spielarten will, ist hier falsch.

Wer auf Schmerzen, Pinkeln, Fetisch, Inzest steht, ebenso.

Ich hoffe, die Geschichte gefällt trotzdem.

Diese Geschichte darf frei weitergegeben, verändert, umgeschrieben werden, etc..

*

Auch nach dem zehnten mal noch ungläubig schaute Anne Beskowki auf das Display ihres Handys. „Ich hab heut Abend doch keine Zeit. Wünsch trotzdem ein schönes Fest!“ hatte Matthias geschrieben und damit auf so unwürdige, feige Art ihre sechsjährige Beziehung beendet.

Im Grunde war sie nicht überrascht. Irgendwie hatte sie es schon gespürt, dass sie in eine Sackgasse geraten waren, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Deswegen hatte sie auch geglaubt, es wäre eine gute Idee, wenn sie beide Heiligabend zusammen verbringen würden. Die ersten Weihnachten zu zweit, nicht zu Hause bei ihren Eltern, sondern in ihrem kleinen Studentinnen-Appartement. Sie hatten sich zusammen einen Weihnachtsbaum gekauft – ihren ersten eigenen Weihnachtsbaum. Er stand in einem Eimer mit Wasser im Innenhof des Altbaus, in dem Anne im ersten Stock wohnte. Matthias wollte Christbaumschmuck besorgen, Anne hatte sich um das Essen gekümmert.

Und nun kam er nicht. Einfach so. Ohne Begründung. Ohne Entschuldigung. Sie spürte, dass sie weniger enttäuscht war, weil ihre Beziehung nun zu Ende war, sondern deshalb, dass er nicht einmal den Mut hatte, es ihr zu sagen. Und sie fürchtete sich vor Weihnachten. Ihre Eltern waren, nachdem sie ihnen eröffnet hatte, dass sie heuer nicht kommen würde, zu ihrem großen Michael und seiner nach Eisenstadt im Burgenland gereist. Sicherlich wäre sie willkommen dort, aber es war eine weite Reise und sie würde den Heiligabend in einem Zug verbringen. Da blieb sie lieber hier.

Das Haus war ausgestorben. Alle anderen Studenten waren bei ihren Lieben. Nur sie allein würde als einzige einsam in ihrem Zimmer hocken und warten, wie die Zeit langsam verging.

Sie schaltete das Display ihres Handys aus und schaute durch das Fenster auf die Straße. Dicke Wolkenschichten verhängten den Himmel. Böen trieben den feinen Nieselregen durch die Straßen. Einige Menschen in dunklen Mänteln versuchten ihre Last-minute-Weihnachtseinkäufe mit Schirmen vor dem Regen zu schützen und eilten über die Bürgersteige.

Es half alles nichts. Sie musste das beste draus machen und eben alleine Weihnachten feiern. Noch war auch Zeit, sich ein bisschen Baumschmuck zu kaufen. Und das Essen? Sie würde es in Ruhe zubereiten, gemütlich zu sich nehmen und sich mit viel Wein betrinken.

Aber als erstes würde sie den Baum hochholen und aufstellen.

Das stellte sich als schwieriger als erwartet heraus. Als Matthias den Baum getragen hatte, schien es ein Kinderspiel zu sein. Sie aber, eher klein und zierlich gebaut, konnte das unhandliche Ding kaum heben. Außerdem stieß sie ständig überall an: Am Türrahmen zum Innenhof, am Treppengeländer, an den Wänden und den Lampen des Treppenhauses, an ihrer Wohnungstür. Aber schließlich hatte sie das Ding in ihrer Wohnung.

Es stellte sich allerdings heraus, dass der Baum gar nicht in ihre Wohnung passte. Auf dem Markt hatte er gar nicht so groß ausgesehen, jetzt aber war er bestimmt 40 cm zu hoch: Keine Chance, ihn in ihrer Wohnung aufzustellen. Sie wusste nicht, was sie machen sollte, und fing an, ihn wieder runterzuschleppen.

Auf den obersten Absätzen der Treppe rutschte er ihr dann auch noch aus den Händen und kullerte unter lautem Gepolter die Holztreppe hinab, eine Spur aus Nadeln hinterlassend.

Im Erdgeschoss öffnete sich eine Tür und ein Mann, der vielleicht Ende Dreißig oder Anfang Vierzig sein mochte, mit kurzen, schon ergrauten Haaren, Geheimratsecken und einem Dreitagebart, erschien. „Hat man hier nicht mal zu Weihnachten seine Ruhe?“ knurrte er. „Können Sie mir mal verraten, was der Radau soll?“

Herr Groß war bei allen Studenten im Haus verhasst. Ständig hatte er was rumzumosern, sei es, dass die Treppe nicht richtig geputzt worden war, sei es, dass die Fahrräder den Fluchtweg versperrten. Letzten Sommer hatte er, als Timo vom 3. seinen Geburtstag feierte, die Polizei verständigt, und das, obwohl Timo die Feier per Zettel angekündigt hatte und sich schon vorab für den Lärm entschuldigt hatte.

„Entschuldigen Sie,“ sagte Anne kleinlaut. „Ich wollte den Baum runtertragen, und da ist er mir ausgerutscht.“ Ihre Stimme klang ganz piepsig. Das passierte ihr immer ganz automatisch, wenn sie in eine unangenehme Situation geriet. Sie hasste das, auch wenn es bei Männern manchmal geholfen hatte, gewisse Beschützer-Instinkte auszulösen und die Situation zu entspannen.

Ein normaler Mensch hätte vielleicht gefragt, wieso sie zu Heiligabend den Baum nicht in die Wohnung trug, sondern hinaus, und vielleicht auch angeboten, ihr zu helfen. Aber Groß brummte nur etwas und machte Anstalten, wieder in seine Wohnung zu gehen.

„Herr Groß?“ rief sie. „Warten Sie!“

Er blieb auf der Schwelle stehen und sah sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen an.

„Hätten Sie vielleicht eine Säge?“ Sie setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. Das hatte bei Männern eigentlich immer geholfen.

„Eine Säge? Haben Sie keine eigene?“

„Ähh. Nein,“ stotterte Anne und kam sich ein bisschen wie ein kleines, unbeholfenes Mädchen vor. „Der Baum ist zu groß. Ich muss ihn kürzen.“

„Ich habe eine Säge. Warten Sie!“ Er wollte in seine Wohnung gehen, drehte sich dann aber nochmal zu ihr um. „Anschließend machen sie bitte den Dreck hier weg!“ Mit einer fahrigen Bewegung deutete er auf die mit Nadeln bedeckten Treppenstufen.

„Ja, mache ich,“ sagte Anne. „Danke für die Säge!“.

Groß verschwand in seiner Wohnung. Anne war inzwischen in die Diele des Erdgeschosses gekommen und wartete vor seiner offenen Wohnungstür. Sie hörte, wie drinnen ein Stuhl herumgeschoben wurde. Es dauerte einen Moment, dann gab ein lautes Poltern und einen dumpfen Rumms. Danach war es still. Anne wartete.

Nichts.

„Herr Groß?“ rief sie.

Keine Antwort.

„Herr Gro-oß!“

Keine Antwort.

Vorsichtig lugte sie durch die Wohnungstür in seine Wohnung. Sie war etwas altmodisch eingerichtet, mit vollgepfropften Wandregalen, die bis unter die Decke reichten. Überall in den Regalen lagen Steine. Ganz normale Steine. Von Groß keine Spur.

Sie betrat seinen Vorraum. Der Schnitt der Wohnung schien ganz der ihren zu entsprechen, wenn man mal davon absah, dass die Zimmer hier in Parterre bestimmt einen Meter höher waren. Sie schlich nach links und schaute ins Wohnzimmer. Da lag Groß auf dem Boden, reglos. Neben ihm lag ein umgekippter Stuhl. Ganz oben war ein Fach des Wandschranks geöffnet. Darin waren Steine, und einige fein säuberlich beschriftete Kartons zu sehen. „Werkzeug“ stand auf einem, „Stoffe“ auf einem anderen, „Farben und Pinsel“ usw..

Im ersten Augenblick überkam sie Panik. War er tot? Was sollte sie jetzt tun?

Aber dieses Gefühl verging schnell. ‚Ruhe bewahren!‘ sagte sie sich selbst, obwohl ihr Herz wie wild pochte. ‚Erste Hilfe leisten!‘ Sie hatte keine Ahnung wie. Sie hatte für ihre Führerscheinprüfung mal einen Erste-Hilfe-Kurs mitgemacht, aber das war Ewigkeiten her. Unsicher trat sie an ihn heran. Er lag auf dem Rücken. Dunkel hatte sie im Kopf, dass sie ihn in die stabile Seitenlage bringen musste, Puls und Atmung kontrollieren musste.

Sie betrachtete seinen Brustkorb, konnte aber kein Heben oder Senken erkennen. Sie senkte ihren Kopf über seinen Mund. Da spürte sie einen leichten Zug. Er atmete. Dann versuchte sie seinen Puls zu fühlen, aber sie fand nichts. Abermals in Panik zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die 112. Wie in Trance redete sie mit der Frau vom Notruf. Dann, als der Rettungswagen unterwegs war, versuchte sie, Groß in die Seitenlage zu bringen. Sie wusste nicht mehr genau, wie es ging, und seine Extremitäten kamen ihr so schwer und so schlaff vor. Aber schließlich lag er einigermaßen so, wie sie es im Kopf hatte.

Das hatte gedauert, und gerade, als sie abermals die 112 wählen wollte, hörte sie von der Straße das Martinshorn und sah blaues Licht beruhigend durch die Fenster in Groß Wohnzimmer flackern. Am Ende war es doch sehr schnell gegangen.

Sie öffneten den beiden Sanitätern, einer jungen Frau und einem jungen Mann, die Haustür und führte sie herein. Nachdem sie ihnen erzählt hatte, was passiert war, und was sie gemacht hatte, musste sie die Wohnung verlassen. Sie wartete im Hausflur, wo sie sich auf eine Treppenstufe über dem immer noch dort liegenden Weihnachtsbaum setzte.

Es dauerte lange. Sie begann zu frieren, denn es war kühl im Hausflur, aber sie wagte nicht, in ihre Wohnung zu gehen.

Nach einer halben Stunde kam der Mann hinaus zu ihr.

„Es ist alles in Ordnung, es geht ihm es gut,“ sagte er. Irgendwie fiel ihr, obwohl sie Groß nicht leiden konnte, ein Stein vom Herzen. „Er ist nicht verletzt, nur ohnmächtig geworden. Jetzt ist er wieder wach. Sind Sie eine Verwandte?“

„Nein. Ich wohne da oben.“ Sie deutete die dreckige Treppe hinauf in den ersten Stock.

„Hat er Angehörige?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.“

„Er braucht noch ein Stunden jemanden, der sich um ihn kümmert.“

„Können Sie ihn nicht mitnehmen?“

„Hmm. Doch, das könnten wir. Aber erstens ist er völlig gesund. Und zweitens…“ Der Sanitäter zögerte.

„Und zweitens?“

„Kommen Sie am besten mal mit rein.“

Leise betrat Anne hinter ihm Groß Wohnung. „Auf keinen Fall!“ hörte sie ihn zetern. „Sie bringen mich nicht weg! Ich werde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren.“

„Beruhigen Sie sich!“ sagte eine weibliche Stimme. „Keiner wird Sie gegen Ihren Willen irgendwo hin bringen.“

„Dann weiß ich gar nicht, was sie noch in meiner Wohnung wollen! Verlassen Sie sie auf der Stelle, oder ich rufe die Polizei!“

Anne, die das Gespräch von der Diele aus gehört hatte, musste ein wenig lächeln. „Tja. Das ist Herr Groß, wie wir ihn kennen.“ flüsterte sie.

„Verstehen Sie unser Problem? Wir könnten ihn natürlich auch gegen seinen Willen mitnehmen. Aber es ist eigentlich nicht nötig, und die Frage ist auch, ob wir dadurch nicht noch einen viel größeren Schaden anrichten. Sie müssten nicht viel machen. Nur dafür sorgen, dass er noch ein Weilchen liegen bleibt, und ihm vielleicht was Warmes zu trinken machen.“

„Ich weiß nicht… Also gut, meinetwegen. Ich hab‘ sowieso nichts anderes vor.“

„Danke! Wenn irgendwas ist, zögern sie nicht, anzurufen.“

Der Sanitäter ging zu seiner ins Wohnzimmer. Anne betrat es hinter ihm. „So Herr Groß, wir haben beschlossen, dass Sie hierbleiben dürfen.

„Na also!“

„Aber… Sie bleiben noch mindestens drei Stunden dort liegen. Und sie machen, was Frau Beskowki sagt.“

Anne trat hinter dem Mann hervor.

„Na meinetwegen. Wenn’s denn sein muss,“ murmelte Groß.

Es dauerte dann doch noch eine Viertelstunde, bis diverse Formalia geregelt waren. Dann verließen die beiden Sanitäter die Wohnung. Anne hörte die Haustür mit lautem Krachen ins Schloss fallen.

„Sind sie endlich weg?“ sagte Groß, der auf einem zum Bett ausgezogenen Sofa in seinem Wohnzimmer lag. „Wurde aber auch langsam Zeit. Diese Quacksalber!“ Er machte sich daran, aufzustehen.

„Ähm, Sie sollen noch ein paar Stunden liegenbleiben,“ meinte Anne ihn ermahnen zu müssen.

„Papperlapapp. Jetzt fangen Sie nicht auch noch davon an. Ich war nur kurz weggetreten. Mir geht’s großartig.“ Mit einem kräftigen Schwung stand er auf. Aber kaum, dass er aufrecht stand, schwankte er. Seine Augen gingen zu, als würde er gleich wieder ohnmächtig werden wollen. Gerade noch rechtzeitig ließ er sich wieder auf sein Schlafsofa fallen.

„Oh…“ sagte er nur.

„Sehen Sie?“ sagte Anne. „Wissen Sie was? Ich mache Ihnen jetzt erst mal einen heißen Tee. Das wird Ihren Kreislauf ankurbeln, und dann geht es Ihnen gleich wieder besser.“

Groß lag schlaff auf seinem Sofa und hatte die Augen geschlossen. Er atmete schwer. „Ich vergaß, Ihnen…“ sagte er schließlich, „… ich muss mich wohl… nein, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Die Sanitäter sagten, dass sie Erste Hilfe geleistet haben und den Notruf gewählt haben.“

„Nicht der Rede wert. Das hätte jeder gemacht.“

„Wohl kaum. Aber bitte bringen Sie mir keinen Tee!“

„Wie bitte?“

„Keinen Tee bitte! Das Koffein vergiftet meinen Körper.“

„Dann trinken Sie keinen Kaffee und keinen Tee? Nie?“

„Niemals!“

„Aber gegen einen guten Kräutertee haben Sie nichts einzuwenden, oder?“

Groß schwieg einen Moment, als würde er einen Einwand suchen.

„Nein,“ sagte er schließlich.

Eine Viertel Stunde später war der Tee fertig. Groß saß mit aufrechtem Oberkörper auf seinem Schlafsofa und nippte an dem dampfenden Getränk. Anne hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und trank ebenfalls. Auf dem Schreibtisch stand ein Binokular und Kästen mit Steinen.

Anne wusste nicht so richtig, was sie sagen sollte.

„Sie sammeln Steine?“ brachte sie schließlich hervor.

„Das ist meine Arbeit,“ erwiderte er. „Ich bin Mineraloge.“

„Das ist bestimmt sehr interessant!“ sagte sie. Sogleich hätte sie sich ohrfeigen können. Sie hatte es ehrlich gemeint, aber es hörte sich eher nach Sarkasmus an. „Nein, ich meine es ernst,“ fügte sie deshalb schnell hinzu. „Es gibt ja so viele verschiedene Steine.“ ‚Oh je,‘ dachte sie, ‚was ist nur los mit mir? Ich höre mich ja an wie ein Vollidiot.‘

Aber er hatte nichts gemerkt, sondern lächelte sie an. Es war das erste mal, dass sie ihn lächeln sah. Vermutlich war es auch das erste mal, dass jemand Interesse zeigte. „Ja,“ sagte er, „jeder Stein ist ein wenig anders. Eigentlich ist es wie bei den Menschen. Nur, dass Steine eine viel angenehmere Gesellschaft sind.“ Er schwieg einen Moment, dann aber merkte er offenbar, dass er sie gerade beleidigt hatte. „Also ich meine das ganz allgemein. Ich meine, es…“ Er schluckte. „es…“ Fast hatte Anne den Eindruck, als ob er würgen musste, um die Worte herauszubekommen. „es… ist schön, dass Sie hier sind. Sie sind… auch eine angenehme Gesellschaft.“

Anne musste ob des unbeholfenen Kompliments lächeln. Wie anders war da ihr stets eloquenter Matthias gewesen. „Sie meinen, wie ein Stein.“ sagte sie.

„Ja, wie ein Stein,“ bestätigte er, ohne die Ironie ihrer Worte zu bemerken.

Anne war noch nie mit einem Stein verglichen worden, aber in dieser Situation hier fand sie, dass es ein schöner Vergleich war, denn das Kompliment war aufrechter als viele andere, die sie schon bekommen hatte.

„Der hier ist schön.“ sagte sie und zeigte auf einen weißlich durchscheinenden Kristall, der auf dem Tisch lag.

„Das ist Kalzit. Den können Sie in den Alpen vom Wegrand auflesen. Wissen Sie, den Wert eines Steins kann man oft nicht auf den ersten Blick erkennen. Man muss ihn schon genau untersuchen.“

Anne fand ihn trotzdem schön. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Hören Sie,“ sagte Groß. „Ich wollte Ihnen nicht Ihr Weihnachtsfest verderben. Sicherlich kommt bald ihr , und Sie müssen noch den Baum schmücken. Ich verspreche auch, dass ich ganz brav hier im Bett liegen bleiben werde.“

„Ehrlich gesagt…“ Anne setzte sich steif auf und nahm ihre Teetasse in beide Hände, „hatte ich vor, Weihnachten alleine zu verbringen. Mein Freund hat Schluss mit mir gemacht. Der Baum ist zu groß für meine Wohnung. Schmuck habe ich auch nicht. Und jetzt ist es auch zu spät, welchen zu besorgen. Ich muss nämlich auch noch kochen.“

„Dann… dann bleiben Sie doch… Meine Wohnung ist groß genug für Ihren Baum, wenn ich das vorhin richtig gesehen habe. Und Schmuck habe ich auch. Also nur ganz wenig. Aber immerhin…“

„Hatten Sie zu Weihnachten denn nichts vor?“ fragte Anne.

„Nein. Ich verbringe Weihnachten seit zwanzig Jahren alleine. Ich hasse Weihnachten!“

„Wieso?“

„Diese ganze aufgezwungene Fröhlichkeit! Der Kommerz, das Gedudel. Das ist einfach nur widerlich.“

„Es ist der Geburtstag von Jesus Christus,“ sagte Anne und kam sich wieder ziemlich naiv vor. Die Retourkutsche kam auch umgehend.

„Ach kommen Sie! Glauben Sie wirklich an diesen Unsinn? Die Hoffnung der Menschen und so weiter? Hat das kleine Jesus-Baby jemals ihr Leben verändert? Oder das Licht eines Sterns, der Hunderte Lichtjahre entfernt ist?“ Er schaute sie fragend an.

„Ich weiß nicht.“

„Na sehen Sie! Und soll ich Ihnen mal sagen, was ich über die unbefleckte Empfängnis, und dass Jesus der Gottes ist, denke?“

Anne zuckte mit den Schultern. „Aber Sie haben doch gerade gefragt, ob wir nicht zusammen Weihnachten verbringen sollen. Also, wenn es nur ein ganz normaler Abend wäre, wie jeder andere auch, dann wäre es doch egal.“

„Ich…“ für einen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, und insgeheim genoss es Anne, ihn bei einer kleinen Lüge ertappt zu haben. In Wirklichkeit, auch wenn er dies sich selber vermutlich nie eingestanden hätte, musste er sich einsam fühlen. Wie schrecklich musste es sein, Weihnachten seit zwanzig Jahren alleine zu verbringen. „Ich wollte Ihnen nur nicht Ihr Fest verderben,“ sagte er fast entschuldigend.

Zuerst hatte Anne nicht gewusst, ob sie diese Einladung annehmen sollte. Weihnachten zusammen mit dem grießgrämigen Groß? Aber andererseits schien er doch nicht so schrecklich zu sein. Außerdem war es vermutlich besser, als sich alleine ohne Baum und ohne Schmuck in einer vereinsamten Wohnung zu betrinken. Auf jeden Fall würde es interessant werden. ‚Also dann haben wir ein Date,‘ wollte sie schon sagen, besann sich aber eines Besseren.

„Also gut,“ sagte sie. „Dann bringe ich mal den Baum rein und werde ihn schmücken. Aber Sie müssen mir versprechen, auf ihrem Sofa liegen zu bleiben.“

Tatsächlich half er ihr dann aber beim Aufstellen des Baums in seinem Wohnzimmer, musste sich danach aber sofort hinlegen, da ihm wieder schwindelig geworden war. Sein Weihnachtsbaumschmuck, so stellte sich heraus, bestand aus einem einzelnen goldglitzernden Stern, einer zwei Meter langen Lichterkette, und zwei Packungen zwanzig Jahre alter Lametta, welche sich in einer verstaubten Schuhschachtel mit der Aufschrift „Weihnachten“ irgendwo ganz hinten in seinem Schrank fanden. Die Lichterkette reichte nicht einmal vom Boden bis zur Spitze des Baums. Einen magereren Weihnachtsbaum hatte sie noch nie gehabt.

Der Nachmittag verging langsam. Sie unterhielten sich über dies und das, über die Universität, über Bücher, darüber, in welchen Geschäften in der Nähe man am besten einkaufen konnte, und anderes. Sie machte ihm nochmal einen Kräutertee, und langsam fing Groß – mit Vornamen hieß er Manfred – an, sie wie einen richtigen Menschen zu behandeln. Ja, es schien ihr, als ob er ihre Gesellschaft genoss, auch wenn er dies nie zugegeben hätte. Seine Laune besserte sich zunehmend und er war sehr freundlich zu ihr, wenn auch eine gewisse Reserviertheit und Fremdheit blieb. Seine Art gefiel ihr, und langsam begann sie sich zu fragen, woher die Abneigung aller Studenten im Haus ihm gegenüber stammte. Hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, ihn kennenzulernen, oder sich auch nur einmal mit ihm zu unterhalten? Eigentlich hatte er alles, was man sich bei einem Mann wünschen konnte, war gebildet, ohne arrogant zu wirken, humorvoll, ohne zotig zu werden, freundlich, ohne verlogen zu sein. Und schlecht sah er für sein Alter eigentlich auch nicht aus. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn der Altersunterschied zwischen ihnen nicht so groß gewesen wäre. Er war wohl etwas über 40, und der Unterschied dürfte mehr als 15 Jahre betragen.

Nachdem sie ihm schließlich das Versprechen abgenommen hatte, auf dem Sofa liegenzubleiben, ging sie in ihre Wohnung, um das Weihnachtsessen zuzubereiten. Sie hatte sich in Unkosten gestürzt und 700 g Entenfilet gekauft, sowie diverse andere teure Zutaten für die Beilagen und die Soße, außerdem einen Rotwein für 17,99 Euro. Das Kochen machte ihr Spaß, und am meisten freute es sie, dass Matthias nichts davon abbekommen würde.

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