Dem Leser hilft es, meine Geschichte ‚Das Geheimnis von Thomas — Teil 1′ vorher zu lesen, da diese Hintergrundinformationen über Huberta enthält. Für das Verständnis der aktuellen Geschichte ist es allerdings nicht unbedingt nötig.
Ich habe oft darüber gerätselt, was aus Huberta geworden ist — und wieso sie so plötzlich aus Deutschland verschwand. Sowohl Mara als auch Ilka kannten nur ihre unvollständige Sicht der Dinge — und Heinrich bewahrte Stillschweigen, bis ich durch einen Zufall Huberta sehr viele Jahre später auf einer Kreuzfahrt wiedergetroffen habe. Erst dann habe ich meine Neugier zu einem großen Teil befriedigen können. Das was ich von den Huberta und danach von Heinrich gehört habe, hat aber meine Neugier in manchen Aspekten nur noch gesteigert. Meine Einbildungskraft hat es jedenfalls verstärkt und findet sich als fiktive Erzählung der beiden Protagonisten Huberta und Pierre im nachfolgenden Text :
1 Huberta
Es hatte gedauert, aber ich hatte Heinrich doch überreden können. Er würde mir erst einmal Zeit lassen, bevor er mich vor die endgültige Entscheidung stellte. Bis Weihnachten wollte er mir eine Frist für meine Abwägung gönnen. Danach sollte ich ihn nach seiner Ansicht heiraten und am besten sofort ganz Hausfrau und Mutter werden – oder zumindest nur eine Teilzeittätigkeit als Lehrerin annehmen. Das mit der Teilzeit war schon ein Zugeständnis. Mehr und mehr wurde mein Verlobter immer starrköpfiger und von sich selbst überzeugt.
Die Selbstsicherheit und die Überzeugungskraft, die mir damals so imponiert hatten, als er mir zum Pädagogikstudium geraten hatte, waren noch immer seine wesensbestimmenden Charakterzüge, aber sie waren inzwischen unschön dominant ausgeprägt. Ich hatte ihm damals nicht zu widersprechen vermocht. Ein charmanter, gebildeter und vermögender Unternehmer im besten Mannesalter, dazu noch ein veritabler Baron mit einem Landsitz und Reitpferden – welches Mädchenherz hätte der Kombination widerstehen können, zumal er heiratswillig war? Jetzt war er häufig in tyrannischer Laune und seltener charmant. Mitunter fragte ich mich, ob diese nunmehr bald zehnjährige Beziehung noch von der Verliebtheit geprägt war, die mich damals mit neunzehn Jahren so überzeugt hatte, dass ich mich mit knapp einundzwanzig Jahren mit ihm verlobt hatte. Inzwischen war ich erwachsener geworden, und der Reiz der Reitpferde hatten ihre Attraktivität zu einem guten Teil verloren. Ich ging jetzt auf die magischen Dreißig zu – da stellte man sich schon die Frage, ob er echt der Richtige war.
Ich war mir sicher, dass er sich solche Fragen nicht stellte. Für ihn hatte ich einfach da zu sein, für ihn zu sorgen und ihm zu Willen zu sein. Was ich dachte und fühlte, interessierte ihn schon lange nicht mehr wirklich. Es hatte auch keinen Zweck mit ihm darüber reden zu wollen, denn sowohl seine Mutter als auch meine Mutter bestätigten ihn in seiner Meinung, dass seine zukünftige Frau dankbar dafür sein sollte, dass sie so gut versorgt werden würde und ein Luxusleben hätte.
Und in materieller Hinsicht hatten sie ja auch Recht – ich bekam jetzt schon schönen Schmuck und elegante Kleidung zu jedem Geburtstag, zu Weihnachten und zum Namenstag. Viele beneideten mich, da war ich mir sicher. Die andere Seite der Medaille kannten sie ja nicht. Inzwischen war ich für ihn an den Wochenenden, an denen er nicht auf Dienstreise war, mehr eine Art Haushälterin als eine Verlobte. Und wenn ich nicht spurte, dann konnte es sogar dazu kommen, dass er mich schlug. Oh, er war kein primitiver Schläger, der im Affekt zuschlug oder mich gar so misshandelte, dass es sichtbar wurde — so war es nicht. Er war eher so etwas wie ein autoritärer Lehrer, der jeden Fehler konsequent bestrafte. Ich konnte ihm noch nicht einmal vorwerfen, dass er ohne Anlass handelte. Er hatte genaue Regeln aufgestellt — und ich wurde nur bestraft, wenn ich gegen diese Regeln verstieß.
Es gab viele dieser Regeln und sie waren sehr detailliert. Wenn die Weingläser im Schrank nicht sauber und penibel ausgerichtet waren, so konnte das schon Ärger bedeuten. Das galt auch für das Einräumen von Geschirr und Besteck, das genau an dem vorgesehenen Platz zu stehen hatte. Wenn Gäste am Abend vorher in seinem luxuriösen Anwesen gewesen waren, war es leicht mal möglich, dass trotz meiner Bemühungen irgendein Glas oder Messer am nächsten Abend nicht da war, wo es seiner Meinung nach sein sollte. Aber es war nicht nur die Haushaltsführung — auch meine persönliche Erscheinung musste seinen Regeln entsprechen. Mein Idealgewicht sollte nach ihm im Bereich von 89 bis 91 kg liegen. Jedes Kilogramm darüber oder darunter wurde als Fehler gezählt. Jeder Einzelfehler ergab einen Punkt. Am Sonntagmorgen nach dem Frühstück zählte er alles genau zusammen — und er verrechnete sich nie, weder zu meinen Gunsten noch zu meinen Ungunsten.
Jeder Punktstand über sechs bedeutete eine Bestrafung, wobei Punkte über zwölf den Rohrstock bedeuteten, was mich in Schrecken versetzte. Übers Knie gelegt zu werden, daran hatte ich mich gewöhnt, aber der Rohrstock versaute einfach den Rest des Wochenendes, weil ich die schmerzlichen Effekte davon auch am Montag noch spürte. Das war im letzten Jahr meines Referendariats mitunter zu einem echten Problem geworden, wenn es am Montag Lehrerkonferenz gab, weil längeres Sitzen dann heikel war.
Ein Punktestand unter sechs war auch nicht schön, weil seit gut einem Jahr nur eine Bestrafung von mir ihn in die ‚Laune‘ versetzte, Sex zu wollen. Es war irgendwie pervers, aber mitunter machte ich absichtlich am Freitag oder Samstag Fehler, um nach zwei oder drei fehlerarmen Wochen mich wieder einmal am Sonntagvormittag als Frau fühlen zu können. Natürlich verunsicherte mich das auch, weil Heinrich all die Jahre vorher ausgesprochen viril gewesen war, und es vor dem Referendariat auch mehrmals unter der Woche ‚gefunkt‘ hatte.
Das alles hatte es noch nicht gegeben, als ich mit dem Studium in Hamburg begonnen hatte — und ich damals nur sporadisch bei ihm in Hannover war. Ich hatte aus einem Bauchgefühl heraus weder heiraten noch ganz zu ihm ziehen wollen, bevor mein Studium abgeschlossen war. Auf diese Weise war ich zu seiner Dauerverlobten geworden. Jetzt war mein Studium ganz beendet und ich hatte nach dem Referendariat das Angebot einer ersten richtigen Stelle bekommen. Das war auch die Ursache seines ‚Ultimatums‘. Die Stelle gab es in Hamburg, während sein Wunsch war, mich nach ihm zu Hannover zu holen. Dort gäbe es doch auch ein Kolleg.
Warum ich mit der Entscheidung zögerte, konnte ich mir auch nicht richtig erklären. Er gab mir immer noch eine beruhigende Sicherheit, die mir besonders am Anfang des Studiums viel gegeben hatte. Ich glaube, ich hätte die ersten Semester nicht ohne ihn überstanden. Andererseits war unsere Beziehung inzwischen in eine eintönige Routine abgerutscht. Mir fehlte das Kribbeln im Bauch, das mich am Anfang so fasziniert hatte, als Heinrich mir so viel erwachsener und reifer vorkam, als die unbesonnenen Jungs in meinem Alter.
Mara, meine beste Freundin, sah das etwas anders. Für sie war es schwer verständlich, dass mein erster ‚echter‘ Freund auch gleichzeitig mein Ehemann werden sollte. Ich hätte ihrer Meinung nach doch auch Erfahrungen mit anderen Männern sammeln sollen. Nach dem Ultimatum von Heinrich hatte ich auch zum ersten Mal echte Zweifel, ob Heinrich der ‚Richtige‘ war. Mara jedenfalls hielt gar nichts von der Meinung meiner Mutter, dass Heinrich ein Geschenk Gottes an mich sei — und mein Leben nun materiell gesichert sei. Nach Mara wäre ich jetzt als Beamtin schon materiell abgesichert — und ob der zusätzliche Luxus es wert sei, mich durch ‚einen alternden Hengst besteigen zu lassen‘, würde sie sich schon fragen. Mara drückt sich mitunter drastisch aus, aber da war mehr als ein Körnchen Wahrheit in ihren Worten.
Sie jedenfalls ließ in der Hinsicht nichts anbrennen und ihre kleine Halbschwester Ilka schien ihr nachzueifern, wenn ich Mara glauben sollte. Mara hatte mir beim Umzug in die Wohnung am Wochenende geholfen – ebenso wie Tom, der wegen der Verhinderung von Heinrich mehr machte, als ursprünglich vorgesehen. Ilka hatte mir erst am Montag und Dienstag beim Einräumen gut geholfen, weil sie am Wochenende keine Zeit gehabt hatte. Ich hatte schon von Mara viel über sie gehört, aber sie jetzt zum ersten Mal gesehen. Sie wollte ihr Abitur nachholen und war auch an meiner Schule, aber sie war noch nicht auf alle Klassen aufgeteilt worden, da sie sich verspätet angemeldet hatte. Sie war gerade eben 20 Jahre alt, aber alles andere als schüchtern.
2 Pierre
Es war der siebte Tag in meinem neuen Leben. Es war eine gute Woche, die dazu noch mit einer geilen Party ausklingen sollte. Wie war es dazu gekommen?
Ich konnte endlich das Abitur nachholen. Vor vier Jahren hatte ich eine Ausbildung als Koch beginnen müssen, da meine Pflegeeltern ein Gymnasium für mich trotz meiner sehr guten Schulnoten damals als Verschwendung ansahen und die Realschule ihnen als völlig ausreichend vorkam. Jetzt mit knapp neunzehn war ich volljährig und hatte einen Aushilfsjob, der mir ein Leben in einem billigen Zimmer in Hamburg ermöglichte. Ich konnte meine eigenen Entscheidungen treffen.
Damals mit noch nicht einmal fünfzehn Jahren hatte es mich hart getroffen, von meinen Freunden und der vertrauten Stadt wegziehen zu müssen, um in dem Hotel weit außerhalb der Stadt meine Ausbildung zu beginnen. Es hatte mehr als ein Jahr gedauert, bis ich die Situation akzeptiert hatte. Meine Pflegemutter — meine ursprünglichen Eltern waren bei einem Verkehrsunfall gestorben, als ich nur acht Jahre alt war und es gab keine bekannten Verwandten — hatte versucht, meinen Pflegevater noch zu überreden, ob es nicht auch zu einem Wechsel auf eine Fachoberschule reichen würde, aber es hatte nichts gefruchtet. Danach war ich nur in den Weihnachtsferien zu Hause gewesen. Jetzt war ich achtzehn und würde bald neunzehn Jahre alt sein. Ich war wild entschlossen, mir keine Vorschriften mehr machen zu lassen, weder von meinen Pflegeeltern noch von meinem amtlichen Vormund, der ein griesgrämiger Sozialarbeiter war, der meinen Pflegeeltern noch nicht einmal dann einen einzigen Stein in den Weg gelegt hatte, als diese mich ganz allein zur Ausbildung in dieses gottverlassene kleine Dorf geschickt hatten. Und dann war dieses Hotel, das hauptsächlich von Jägern und Rentnern frequentiert wurde, auch noch weit außerhalb des Dorfes gelegen.
Auf keinen Fall würde ich mir es antun, weiterhin der Außenseiter im Hotel zu sein. Ich wurde zuerst immer als der Dumme angesehen, der kein richtiges Deutsch kann und mit dem man laut und deutlich sprechen muss, da ich meinen leichten französischen Akzent nicht hatte ablegen können. Es dauerte oft lange, bis auch Dauergäste realisierten, dass ich in grammatikalischer Hinsicht die deutsche Sprache genauso gut oder besser als sie selber beherrschte, auch wenn meine Aussprache leicht fremdländisch klang. Sie sahen einen jungen, kleinwüchsigen Hilfskoch, dem sie automatisch nicht viel zutrauten. Wenn ich aus dieser Falle herauskommen wollte, dann musste ich lernen, um eine besseren Beruf bekommen zu können. Ich hatte mich also entschlossen, das Abitur zu machen, und vielleicht sogar danach studieren zu können. Das BAföG für Kollegschüler war elternunabhängig — so brauchte ich nicht bei meinen Pflegeeltern oder bei dem ehemaligen Vormund vorstellig zu werden.
Der erste Tag in Hamburg an der Schule und bei der Behörde war nicht ereignisreich. Er bestand zum größten Teil aus Warten – warten auf die Ausgabe von Schülerausweis und warten auf die Ausgabe von Bücherlisten. Sich in die Schlange einreihen, um sich in Kurse eintragen zu können oder einen Termin für eine Beratung zu bekommen. Mit anderen Worten, es war scheisslangweilig!
Glücklicherweise hatte ich ein Zimmer in einer Art WG in Barmbek ergattern können. Es war kein großes Zimmer, aber es reichte. Zudem war der andere Mitbewohner auch nur am Wochenende anwesend, so dass ich während der Woche die Wohnung praktisch für mich allein hatte. Der Mitbewohner war ein freundlicher Mann um die 30 Jahre alt, der eine Reisetätigkeit hatte. Er war tolerant und er legte keinen Wert auf tieferen Kontakt.
3 Huberta
Der erste Tag am Kolleg war erstaunlich nett. Der Rektor der Schule empfing mich ganz herzlich und schien ein unkomplizierter Mensch zu sein. Er wies mir eine Anfängerklasse zu, damit ich schon gleich mal Erfahrung als Klassenlehrerin sammeln könnte. Auch das war eine erfreuliche Überraschung. So etwas war nicht selbstverständlich, das wusste ich schon von anderen Absolventen. Manche angehenden Lehrer wurden trotz des absolvierten Referendariats erst einmal am kurzen Band gehalten und regelrecht gegängelt. Ich war so schon gespannt auf den Dienstag, wo ich die Schüler meiner Klasse kennen lernen sollte.
Der Dienstag brachte dann die nächste freudige Überraschung — meine Klasse umfasste nur 19 Schüler. Das würde meine Aufgabe schon einmal gewaltig erleichtern, wenn ich mehr Zeit für die einzelnen in der Klasse aufbringen konnte. Die Bandbreite im Alter der Schüler war beachtlich — vom geforderten Mindestalter von 18 vollendeten Lebensjahren bis hin zu knapp 30 war alles vorhanden. Es war schon eigenartig, dass die 29-jährige Schülerin genau in demselben Alter war wie ich selber. Es gab einen deutlichen Überschuss an männlichen Schülern in meiner Klasse, wobei mich bereits der Rektor drauf hingewiesen hatte, dass erfahrungsgemäß von den männlichen Schülern mehr abbrechen würden als von den weiblichen. Auch von der Herkunft her war die Klasse eine sehr heterogene. Schüler mit deutlich asiatisch geprägten Zügen saßen neben blonden, blauäugigen skandinavisch aussehenden und selbst arabisch und afrikanisch geprägte Gesichter erblickte ich. Die Mehrzahl war allerdings nach meiner Ansicht mit deutschen Vorfahren versehen. Sie alle würde ich im Laufe der Zeit besser kennenlernen — ich freute mich darauf.
Das Geraune und Getuschel in der Klasse, als ich eintrat, sagte mir, dass auch die Schüler aufgeregt waren. Vielleicht waren sie noch mehr aufgeregt als ich selber. Ich begrüßte alle laut und deutlich und bat sie Namenskärtchen auf ihren Tisch zu stellen, damit ich möglichst schnell mir alle Namen und Gesichter einprägen könnte. Danach gab ich ihnen eine Einführung in das Programm, das ich in den kommenden Monaten mit ihnen durchnehmen wollte. Die Reaktion war typisch gespalten nach Geschlecht. Die meisten männlichen Studenten zeigten wenig Begeisterung, als ich ein schnelles Vorgehen in Französisch ankündigte und viele Schülerinnen stöhnten auf, als ich die Inhalte für den Chemieunterricht nannte.
Die ersten beiden Stunden mit meiner Klasse waren schnell vorbei und ich musste mich zum Fachunterricht bei zwei anderen Klassen noch vorstellen. Beides war in Französisch als Fach. Auch dort waren die Klassenstärken angenehm klein und die Zusammensetzung heterogen. Eine war ebenfalls eine Anfängerklasse, die andere im Abschlussjahr.
Der dritte Tag am Kolleg war nicht mehr ganz so einfach. Ich hatte die Pausenaufsicht. Und da lungerten zwei junge Männer in Lederkluft mit Metallbesatz und Springerstiefeln in der ersten Pause auf dem Schulhof herum. Es waren keine Schüler, das ging aus dem Verhalten der Leute auf dem Hof hervor, da die meisten einen weiten Bogen um die beiden machten, während eine kleine Gruppe sich um die beiden scharte. Ich holte den Hausmeister und ließ den Rektor informieren. Dann ging ich mit dem Hausmeister im Schlepptau auf die beiden Neonazis zu, denn das waren sie allem Anschein nach. Das bestätigte sich auch gleich, als ich beim Näherkommen die typischen Sprüche über die Überlegenheit der deutschen Rasse hörte und hetzende Worte über die nicht-deutschen Schüler vernahm. Ich hatte im Referendariat gelernt, das direkte und klare Ansprache das beste Mittel war, wenn man solche Typen antraf.
„Wollen Sie sich beide hier auf der Schule anmelden oder was führt Sie sonst hierher?“
Der ältere von den beiden setzte ein lässiges Grinsen auf und antwortete gelangweilt:
„Willst’e mir etwa sagen, dass ich deine Erlaubnis brauche, wenn ich hier mit Kumpels rede?“
„Sie bringen politische Parolen auf den Schulhof und werben offensichtlich für Parteien. Das ist nach der Hausordnung untersagt. Hiermit mache ich von dem Hausrecht als Vertreterin der Schule Gebrauch und ersuche Sie beide, diesen Versuch einer politischen Werbung sofort einzustellen. Der Hausmeister wird Sie begleiten, damit Sie das Schulgelände verlassen.“
Er wollte zunächst aufbegehren, aber er sah schon den Rektor kommen und machte nur eine abfällige Handbewegung. Wortlos gingen die beiden mit dem Hausmeister zum Ausgang. Der Leiter der Schule war mit meiner raschen Aktion sehr einverstanden.
In der Gruppe, die um die beiden Neonazis herumgestanden hatte, befand sich Max, ein Schüler aus einer meiner Französischklassen. Das würde ich nach der Pause zum Anlass nehmen, in dieser Klasse darüber zu reden, ohne diesen Schüler direkt anzusprechen.
In einer kurzen Ansprache machte ich klar, dass Rassismus in der Schule nicht toleriert werden würde. Hier würde das Grundgesetz einen ganz klaren Maßstab setzen: ‚Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden‘.
Danach herrschte für einen Moment Stille, als keiner zu kommentieren wagte. Natürlich war die Klasse noch zu neu, um eine Diskussion zu wagen. Erst wenn sich alle kannten, konnte man mit einer sinnvollen Diskussion über solch ein Thema rechnen. Selbst Max, der Schüler, der den Neonazis so aufmerksam zugehört hatte, sah nur auf seinen Tisch und nirgendwo anders hin. Ich hatte jedoch vorher beobachtet, wie er diejenigen mit anderem ethnischen Hintergrund unverblümt betrachtet hatte – insbesondere Li, die mit ihren ausgeprägten Schlitzaugen und dem runden Gesicht der Archetyp einer Chinesin war, und Pierre, dem einzigen mit offensichtlich afrikanischer Abstammung.
4 Pierre
Der zweite Tag in der Schule war schon viel spannender. Ich lernte einige der Lehrer kennen und natürlich eine ganze Reihe von Mitschülern. Es waren so viele Eindrücke, dass ich nur wenig davon behielt. Das wichtigste war für mich, dass ich an dieser Schule nicht der einzige war, der einen ausländischen Akzent hatte. Das war schon mal eine unglaubliche Erleichterung — ich war zuversichtlich, dass ich die Außenseiterrolle loswerden würde. Im Dorf war ich der einzige mit ausländischen Wurzeln gewesen.
Meine zukünftige Klassenlehrerin würde mich auch in Deutsch und Englisch unterrichten. Englisch war nicht so einfach für mich, wie ich jetzt schon merkte. Der Unterricht auf der Realschule in Englisch hatte kein gutes Niveau gehabt. Die zweite Fremdsprache war Französisch. Letzteres war natürlich eine leichte Übung für mich, denn ich hatte bis zu meinem achten Lebensjahr immer Französisch gesprochen und auch danach immer noch Französisch gelesen und fleißig Radio gehört. Das war zumindest schon einmal ein Fach, in dem ich garantiert gute Noten bekommen würde. Ich hatte so meine Zweifel, ob das mit den guten Noten auch für das Fach Chemie gelten würde. Meine Kenntnisse aus der Realschule in dem Bereich waren ziemlich mager, während meine Mathekenntnisse durchaus passabel waren. Das kam vielleicht auch daher, dass die Mathelehrerin an der Realschule nett und motiviert gewesen war, während der Lehrer für Naturwissenschaften ein Stinkstiefel gewesen war. Also das war so, andere hatten ihn auch als blödes Arschloch bezeichnet.
Der Mathe-Lehrer schien ganz o. k. zu sein, während die Biolehrerin nach verkniffener alter Jungfer aussah und sich auch so anhörte. Der Mathe-Lehrer und auch meine Klassenlehrerin waren im Alter wohl so um die 40, während die Französischlehrerin, die ich an diesem Tag auch noch kennen lernte, wohl eher um die 30 war und die Biolehrerin weit jenseits von 50 war. Na ja, ich würde ja sehen, wie ich mit diesen Paukern in der Zukunft zurechtkam. Und ich wollte mit ihnen gut zurechtkommen, denn mein Ziel war das Abitur und das wollte ich unbedingt erreichen.
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