Es ist nicht leicht, diese Geschichte fortzuführen. Aber wir haben uns entschlossen, es zu tun. In erster Linie für uns, aber auch für euch, geneigte Leserinnen und Leser, denen gegenüber wir unser Leben und unsere Gefühle ausbreiten.
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Das Seminar überstand er leidlich, seine Unkonzentriertheit konnte er durch die Routine, die er sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte, überspielen und war völlig überzeugt, dass niemand seine zeitweise geistige Abwesenheit bemerkt hatte.
Nach Abschluss des offiziellen Teils – das wusste er aus Erfahrung – waren normalerweise mindestens noch zwei Stunden für die Themenaufarbeitung und zur Reflexion mit den Teilnehmern anzusetzen. Er schaffte es jedoch irgendwie, alles auf eine Stunde zu reduzieren. Nachdem er sich, vielleicht ein wenig überhastet, von allen verabschiedet und ihnen eine gute Heimreise gewünscht hatte, hetzte er in seinem Auto zurück nach Haarde. Er konnte es kaum erwarten, Cora wiederzusehen.
Nachdem er sich zu Erikas Adresse durchgefragt hatte und vor ihrem Haus parkte, drückte er voller freudiger Erwartung die Klingel und spurtete, nachdem der Türöffner betätigt worden war, zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend, hoch zur Wohnung. Die Tür stand schon offen und Erika erschien mit Cora im Schlepptau hinter sich. Der Hund bellte im Hintergrund.
„Hier, nimm sie bloß mit. Und, sie braucht auch besser nicht mehr herzukommen. Es reicht jetzt endgültig. Es tut mir leid, Josh. Aber was sie sich, seitdem du weg warst, hier geleistet hat, ist selbst für mich als ihre gute Freundin nicht mehr zu akzeptieren.“
Ohne Josh noch eines Blickes zu würdigen, schob Erika Cora in den Flur, trat zurück in die Wohnung und schloss die Tür. Er war einen Moment lang zu keiner Regung fähig. So hatte er sich das Wiedersehen nicht gerade vorgestellt. Seine gute Laune war wie weggeblasen. So etwas war ihm sein ganzes Leben lang noch nicht vorgekommen und er schämte sich komischerweise, ohne den eigentlichen Grund dafür zu kennen.
Erika und Paul sollte Josh erst ein Jahr später wiedersehen.
Cora stand leicht schwankend und mit gesenktem Kopf vor Josh. Sie war schon wieder – oder noch immer – betrunken. Auch schien sie übermüdet zu sein und geweint zu haben. Wortlos fasste er sie beim Arm und führte sie vorsichtig die Treppen hinunter und aus dem Haus. Sie sagte kein Wort. Als er die Beifahrertür des Wagens öffnen wollte, musste er Cora vorher an die Hauswand anlehnen, sonst wäre sie ihm möglicherweise umgefallen. Er bekam sie danach kaum ohne Blessuren auf den Sitz und musste sie umständlich anschnallen. Mit einem Seufzer ließ er sich danach in den Fahrersitz fallen.
Bevor er noch starten konnte, sagte Cora. „Ich habe Hunger.“ Mehr wollte sie wohl nicht von sich geben, sank danach in sich zusammen und war anscheinend fest eingeschlummert. Auf dem ganzen Weg nach Hause schlief sie, erst als er mit dem Wagen in die Tiefgarage fuhr, wachte sie auf und er hatte das Gefühl, dass sie ziemlich orientierungslos war.
„Wo hast du mich denn hingebracht“, wollte sie wissen. Josh antwortete ihr nicht. Erst als er mit dem Wagen rückwärts vor dem Garagentor stand, sagte er, heftiger als eigentlich beabsichtigt: „Jetzt steig schon aus, wenn ich den Wagen in der Garage habe, kommst du nicht mehr raus. Also bitte.“
Sie schien einige Zeit zu brauchen, um seine Worte zu verstehen, öffnete aber schließlich langsam die Beifahrertür und stieg, nachdem er ihren Sicherheitsgurt gelöst hatte – sie hätte nicht bemerkt, dass sie angeschnallt war, dessen war er sich ganz sicher -, langsam und vorsichtig aus. Die Wagentür schlug sie danach sehr heftig zu. Kopfschüttelnd fuhr er den Wagen in die Garage und schloss das Tor.
Cora am Arm stützend verließen sie die Tiefgarage über eines der vier Treppenhäuser. An der frischen Luft angekommen, atmete sie tief durch und stolperte einen kleinen Schritt nach vorn. Gott sei Dank war es dunkel und kalt, sodass Josh nicht befürchten brauchte, dass die Nachbarn etwas von Coras Zustand mitbekamen.
„Lass mich los, ich kann allein laufen.“ Mit einer ruckartigen Bewegung sich von ihm losreißend wollte sie in die falsche Richtung laufen. Josh machte einen großen Schritt auf sie zu und fing sie ein.
„Mach jetzt kein Theater“, sagte er zwischen zusammengepressten Zähnen heraus. „Meinst du, ich habe Interesse daran, dass uns die Nachbarn so sehen? Reiß dich zusammen und versuche gerade und aufrecht zu laufen. Man muss sich ja für dich schämen.“
„Mir hat noch niemand angesehen, wenn ich was getrunken hatte“, stieß sie hervor. „Wenn du es nicht glaubst, bitte“, entriss sich ihm erneut und ging, krampfhaft bemüht, Haltung zu bewahren, diesmal in die richtige Richtung.
Josh betete darum, dass sie den Aufzug für sich allein hatten und sein Flehen wurde erhört. In der Wohnung angekommen, führte er Cora direkt ins Schlafzimmer und setzte sie auf dem Bett ab.
„So, meine Liebe“, schnarrte Josh sie an. „Du ziehst dich jetzt aus und legst dich hin. Ich schaue Mal, ob ich inzwischen was zu Essen für dich habe“, und überließ sie sich selbst.
„Ich will gar nichts essen, ich bin einfach nur müde und will schlafen. Bitte komm auch ins Bett. Sei in meiner Nähe. Ich brauche dich jetzt, ja?“ Unterdessen hatte sie sich ihrer Kleidung bis auf Unterwäsche und Socken entledigt. Sie hatte sie einfach vor dem Bett auf den Boden fallen lassen. Cora entschwand, einen erleichtert klingenden Seufzer ausstoßend, unter die Decke.
Spät genug war’s ja, also zog Josh sich ebenfalls aus und sein Pyjamaoberteil über. Danach legte er sich neben ihr hin. Cora lag von ihm abgewandt auf der Seite, er ebenfalls, sodass sie Rücken an Rücken lagen, wie ein altes Ehepaar, das sich im Streit zur Nachtruhe begeben hatte und gegenseitig anschmollte.
„Kannst du dich nicht zu mir umdrehen und bei mir einkuscheln?“ Ihre Frage kam sehr leise, er erahnte sie mehr, als er sie verstand. „Bitte, ja? Du hast mir gefehlt.“
Josh atmete einmal tief durch und stieß die Luft durch die Nase aus, blieb aber weiterhin regungslos liegen, wie er gerade lag.
„Bitte!“, hörte er noch einmal. „Tu mir den Gefallen. Sonst kann ich nicht einschlafen.“
Leise: „Cora, Cora, Cora“, vor sich hinmurmelnd drehte er sich schließlich zu ihr um, er vermisste die Wärme und den Körperkontakt mit ihr ja ebenfalls und schmiegte sich an ihren Rücken, den linken Arm über ihre Taille legend. Sie griff nach seiner Hand, legte sie an ihre Brust, drückte sich mit ihrem Po ganz eng an seinen Leib und seufzte zufrieden.
„Gut so“, sagte sie. „Jetzt fühle ich mich wohl.“ So lagen sie eine ganze Weile beieinander, wortlos, er hing seinen Gedanken nach und nahm an, dass Cora schlief. Ihre gleichmäßigen Atemzüge ließen diesen Schluss zu.
Ihre Wärme übertrug sich auf ihn und er sog den Duft ihrer Haut in sich auf. Er schmiegte sein Gesicht in ihre Halsbeuge, der Geruch ihres Parfüms stieg in seine Nase. Die Kombination der Wohlgerüche erregte ihn, er beherrschte sich aber mannhaft, um Coras Schlaf nicht zu stören. Er fühlte sich, trotz der Differenzen, die sie zurzeit miteinander hatten, ausgesprochen wohl in ihrer Nähe. Nach einer Weile war er tief und fest eingeschlafen.
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Als er am Nächsten morgen aufstand, schlief Cora noch und schnarchte leise vor sich hin. Anscheinend musste sie aber zwischenzeitlich aufgestanden sein, vielleicht, weil sie zur Toilette musste – sie hatte jedenfalls ihr Unterhemd nicht mehr an. Josh ging leise in die Küche, um einen Kaffee aufzubrühen und sah, dass Cora in der Nacht, irgendwann, Kaffee gekocht hatte. Der Kaffee war stark und heiß, also war es noch nicht lange her, dass sie ihn aufgebrüht hatte. Noch bevor er ins Bad ging, öffnete er, einer inneren Eingebung folgend, den Kühlschrank, um nachzusehen, ob Cora noch Alkohol getrunken hatte. Dies schien aber nicht der Fall gewesen zu sein. Auch seine kleine Bar im Wohnzimmerschrank war unberührt. Beruhigt begab er sich ins Bad.
Nachdem er sich leise angezogen und sein Frühstück eingenommen hatte, setzte er sich an den Arbeitstisch im Wohnzimmer und schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt:
Hallo Cora,
wenn Du glaubst, dass Du so weitermachen kannst, dann nicht mit mir. Wenn Du die Trinkerei nicht sein lassen kannst, sehe ich für uns keine Zukunft. Es ist deshalb wohl besser, dass Du, wenn ich heute Nachmittag nach Hause komme, nicht mehr da bist. Mir ist ein Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne Ende. Also überlege Dir Deine nächsten Schritte sehr gut.
Josh
Den Zettel stellte er, gut sichtbar, vor dem Telefon auf und verließ das Haus, nicht ohne Cora vorher einen Kuss auf die mit feinen Schweißperlen überzogene Stirn gegeben zu haben.
Im Büro angekommen, wartete er den ganzen Morgen unruhig darauf, dass Cora sich telefonisch bei ihm melden würde. Kurz vor Mittag rief sie ihn dann an. Ihre Stimme klang wütend und aufgebracht:
„Sag mal, spinnst du eigentlich? Was soll denn der Brief. Wen, glaubst du, hast du vor dir? Hältst du mich etwa für eine Säuferin? Ich beweise dir das Gegenteil. Tschüs“, und hatte aufgelegt, bevor er überhaupt irgendetwas erwidern konnte.
Ihm klopfte plötzlich das Herz bis zum Halse hinauf. Hatte er ihr vielleicht Unrecht getan und sie, wegen seiner bisher unbewiesenen Vermutung, dass sie dem Alkohol zu sehr zusprach, unrechtmäßig verletzt?
Einigermaßen konsterniert wegen Coras Ausbruch, legte auch er den Hörer auf die Gabel und ihm kam kurz der Gedanke, sie gleich wieder zurückzurufen, überlegte es sich dann aber doch anders. Sollte sie doch, unbeeinflusst von ihm, ganz für sich selbst ihre Entscheidung treffen. Hätte er zurückgerufen, wäre möglicherweise bei ihr der Eindruck entstanden, dass ihm mehr an ihr liegen könnte, als er ihr gegenüber im Moment zugeben wollte. Er war jedenfalls fest entschlossen, Coras Wahl zu akzeptieren, egal, wie sie ausfallen sollte. Bisher war er mit dem Alleinsein sehr gut zurechtgekommen, seine Arbeit nahm ihn ganz in Anspruch und die nebenberuflichen Tätigkeiten ließen auch nur wenig Freiräume für private Dinge. Wenn Cora am Abend nicht mehr da war, würde alles so weitergehen, wie es im vergangenen Jahr auch gelaufen war. Für ihn würde sich nichts verändern und er sähe die Tage und Nächte mit Cora als Intermezzo, als Zwischenspiel in seinem Leben an, dass ohne sie auch weiterlaufen würde.
Trotzdem konnte er sich den Rest des Tages nicht mehr sonderlich gut auf die Arbeit konzentrieren, seine Gedanken kreisten um das nach Hause kommen. Glücklicherweise verlief der Tag überraschend zügig, er verließ, fast pünktlich, das Büro und fuhr, eine innerliche Aufgewühltheit kaum unterdrücken könnend, so schnell er konnte, nach Hause.
Cora erwartete ihn schon. Er war irgendwie erleichtert und froh, dass sie noch da war. Als er ins Wohnzimmer eintrat, den Mantel noch an und den Aktenkoffer noch in der Hand, saß sie mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Couch und blickte ihn mit ernstem Gesicht an.
„Sag mal, wen, glaubst du, eigentlich vor dir zu haben?“ fragte sie laut, ohne eine Begrüßung. „Meinst du nicht, dass ich im Augenblick fix und fertig bin und nicht weiß, was in Zukunft werden soll? Ich denke nur an meine Kinder und daran, ob es ihnen im Moment gut geht oder nicht. Langsam werde ich wahnsinnig bei dem Gedanken, dass sie ohne mich und allein zu Hause sind. Mein Noch-Mann arbeitet auch hart und hat einen langen Tag. Wer macht mit den Kindern die Schularbeiten, wer bereitet ihnen das Essen zu und wäscht die Wäsche? Ich glaube, ich werde verrückt.“
Sie stand auf und kam auf Josh zu. Schweigend umarmte sie ihn, legte den Kopf an seine Brust und begann, leise zu weinen. Er stand immer noch im Mantel und die Tasche haltend, unbewegt mitten im Zimmer. Mit der freien Hand strich er ihr, erst zögerlich, beruhigend über das Haar. Im Moment fühlte er sich ziemlich hilflos und wusste nicht, ob und was er darauf sagen sollte. Cora erwartete wohl auch keine Antwort, denn sie löste sich unvermittelt von ihm, ging in die Küche und fragte ihn im Gehen, ob er einen Kaffee trinken wolle. Er beeilte sich, die Tasche abzustellen und Mantel und Jacke an der Garderobe aufzuhängen und folgte ihr in die Küche. Sie hatte bereits einen Kaffee eingeschenkt.
„Milch? Zucker?“ fragte sie.
„Beides.“ Seine Antwort fiel kurz und knapp aus. Er wollte, dass die weitere Konversation von ihr ausging.
Schweigend tranken sie in kleinen Schlucken. Cora saß auf dem einzigen Hocker, den er in der Küche stehen hatte, ihre beiden Hände umfingen den Kaffeepott, er stand angelehnt an die Arbeitsplatte, ihr gegenüber. Sie schien völlig nüchtern zu sein und er war deshalb sehr erleichtert. Sie hatte einen klaren Blick und ihre Bewegungen hatten nichts mehr von der Fahrigkeit der letzten Tage an sich. Ihr Haar hatte sie, so ordentlich es ging, am Hinterkopf zusammengesteckt. Seiner Meinung nach brauchte sie nur einen guten Friseur, der ihr einmal Grund ins Haar bringen musste. Sie hatte sich zwischenzeitlich verhalten und sparsam geschminkt und sah einfach sehr gut aus.
„Du sag mal, welches Sternzeichen hast du eigentlich?“
„Wassermann“, sagte er. „Ich bin am 28. Januar geboren.“
Sie stieß einen Laut der Überraschung aus: „Ha, genau wie mein Mann – am selben Tag. Jetzt sag bloß noch, im selben Jahr.“
Es stellte sich heraus, dass Josh genau ein Jahr jünger war als ihr Noch-Mann.
„Obwohl ihr unter demselben Sternzeichen, am gleichen Tag, geboren seid, könntet ihr unterschiedlicher nicht sein. Ist schon komisch. Oder?“
Damit wandte sie sich wieder ihrer Kaffeetasse zu. Für sie schien das Thema damit erledigt zu sein – obwohl, Josh sah ihr an, dass sie über irgendetwas intensiv nachdachte. Sie leckte mit ihrer Zungenspitze einen Kaffeetropfen, der außen an der Tasse herabrinnen wollte ab und sah ihn an.
„Tust du mir den Gefallen und fährst mich gleich rüber, zu mir nach Hause? Ich muss da dringend ein paar Sachen herausholen. Ich habe das Gefühl, als stinke ich in den Klamotten, die ich am Leib habe“, fragte sie, ohne auf ihren vorausgegangenen Ausbruch Bezug zu nehmen. Demonstrativ zupfte sie an ihrer Kleidung herum und verzog angewidert das Gesicht.
„Na, denn aber mal los“, antwortete Josh. „Lass uns gleich fahren. Es wird sonst zu spät. Ich habe keine große Lust, heute Abend wieder nach Mitternacht ins Bett zu kommen.“
Sie ließen die halb leeren Kaffeetassen stehen und zogen sich Mantel und Jacke an und brachen auf um zu ihr, wo immer das auch war, zu fahren. Sie lotste ihn sicher in ein in der Nähe befindliches Gewerbegebiet. Je näher sie ihrem Ziel zu kommen schienen, desto nervöser wurde Cora. Sie konnte zuletzt ihre Hände kaum unter Kontrolle halten und ihre Stimme wurde zitterig.
Ziemlich am Ende einer Sackgasse hielten sie vor einem mehrgeschossigen Haus, errichtet in den siebziger oder achtziger Jahren, indem sich im gesamten Erdgeschoss eine Autoreparaturwerkstatt befand.
„Hier?“ Josh wies auf das Haus.
„Ja, dort oben“, antwortete sie, wies auf den zweiten Stock und atmete einmal tief durch. „Na, dann wollen wir mal“, sagte sie so, als wolle sie sich selbst Mut machen, öffnete die Tür und stieg aus. Sie beugte sich noch einmal zu ihm in das Wageninnere: „Es dauert nicht lange. Ich beeile mich. Fahr hier um die Ecke“, sie wies in der einsetzenden Dämmerung auf eine kleine Stichstraße, die neben dem Haus einmündete, „und warte bitte dort.“
Sie schlug die Wagentür – wieder viel zu heftig – zu und ging mit unsicher wirkenden Schritten auf die Haustür zu.
Josh fuhr, ihrem Wunsch entsprechend, den Wagen um die Ecke, parkte dort, ließ die Fahrer- und Beifahrerfenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Hier, wo Cora – bisher, musste er feststellen – gewohnt hatte, war es, zumindest am Abend ruhig, absolut ruhig. Außer den Geräuschen der Natur klang kein Laut an mein Ohr. Es musste paradiesisch sein, hier zu wohnen.
Er hing seinen Gedanken nach: Was hatte er sich da bloß eingebrockt. Konnte das gut gehen? Zwei absolut unterschiedliche Charaktere, wie Cora und er? Sie erschien ihm flippig, hektisch und unausgeglichen, spontan und unberechenbar. Er hingegen hielt sich für bodenständig, verhalten, ja, vielleicht auch konservativ, auf Sicherheit und Regelmäßigkeit bedacht – eben für einen ganz normalen Bürger, der keine Experimente liebte. Möglicherweise machte er sich zu viele Gedanken. Wir werden sehen . . .
Unvermittelt stand Cora neben ihm, er hatte sie nicht kommen hören, so vertieft war er in seine Überlegungen. Er stieg aus, ging um den Wagen herum, nahm ihr die zwei Reisetaschen, an denen sie sicherlich schwer zu tragen gehabt hatte, ab und wuchtete sie auf die Rückbank.
„Na?“ fragte er. „Gab es Stress mit der Familie?“
„Nein, es war niemand zu Hause. Die Kinder sind wahrscheinlich bei Opa. Ich hätte sie gerne gesehen und ihnen versucht, einiges zu erklären. Schade!“ Sie schien resigniert.
„Komm, lass uns fahren. Ich bin schon ganz durchgefroren.“ Josh hatte bis jetzt nicht bemerkt, das ihm die feuchte Abendkälte während des Wartens in die Glieder gekrochen war. Mit dem Aussteigen zeigte ihm sein Körper aber durch die einsetzende Steifheit, dass Mann mit Anfang fünfzig eben nicht mehr ganz taufrisch war.
Sie stiegen in den Wagen, er drehte die Heizung auf Maximum und fuhr sie Heim.
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„Dein Bart muss ab“, war das Erste, was Cora von sich gab, als sie in seiner Wohnung ankamen, die Taschen abgestellt und die Jacken ausgezogen hatten. Die ganze Heimfahrt über hatte sie kein Wort von sich gegeben.
Erschreckt griff er mit einer reflexartigen Bewegung an seinen Kinnbart, den er seit über zehn Jahren trug. „Wie bitte?“ fragte er sie erstaunt. „Wie kommst du denn gerade jetzt darauf?“
„Nur so. Ich finde, er steht dir nicht besonders gut. Würdest du ihn für mich abrasieren?“ Sie sah ihn herausfordernd aus ein wenig zusammengekniffenen Augen an.
„Ich glaube nicht. Schließlich begleitet er mich schon eine ganze Weile. Eigentlich habe ich ihn mir damals nur wachsen lassen, weil ich einen relativ starken Bartwuchs habe und ich kurze Zeit nach der morgendlichen Rasur bereits wieder stoppelig aussah. Außerdem ist es recht bequem, sich nur die Wangen und den Hals rasieren zu müssen.“
Nachdenklich fuhr er mit der Hand über sein Kinn und fügte einlenkend hinzu: „Muss es mir überlegen, vielleicht.“
Sie schien mit der Antwort nicht besonders zufrieden zu sein und wandte sich, die beiden Reisetaschen aufnehmend, in Richtung Ankleidezimmer.