VORBEMERKUNGEN DER AUTOREN
Dies ist eine wahre, absolut wahre Geschichte und alles hat sich genauso zugetragen. Nichts ist weggelassen worden, nichts beschönigt, nichts überhöht worden, alles ist so passiert, ist absolute, wenn auch vergangene Realität — bedauerlicherweise, leider.
Sicherlich, manches, was sich zugetragen hat, findet sich an einem anderen als dem genannten Ort und in anderem, zeitlichen Zusammenhang wieder, als es sich tatsächlich ereignet hat. Zum einen sollte man dies der sogenannten dichterischen Freiheit der Autoren nachsehen, zum anderen tut es der Wahrheit keinen Abbruch, im Gegenteil, wie diese hoffen.
Natürlich haben die Verfasser alle Namen und Orte verfremdet, bis auf diejenigen Namen, die sie ganz bewusst nicht verändern wollten. Aus, wie sie bis heute meinen, gutem Grund.
Für den Fall, dass diejenigen, die sich in der Geschichte wiedererkennen sollten, dieses bescheidene Werk lesen, können und sollen, ja müssen sie sich ihren eigenen Reim darauf machen und möglicherweise Lehren daraus ziehen, ganz Persönliche. Die Verfasser fordern es sogar. Und wenn schon nicht Lehren abgeleitet werden, dann soll die hier niedergelegte Geschichte vielleicht ein wenig dazu beitragen, das zukünftig erst einmal intensiv über gewisse, lebensverändernde Einflüsse, Beurteilungen und Verhältnisse nachgedacht werden soll. Damit hätten die Autoren schon viel erreicht. Mehr, als sie sich je zu erhoffen gewagt hätten.
Die Autoren maßen es sich nicht an, Menschen zu verurteilen oder gar zu verdammen. Wir alle sind schwach, jeder ist auf seine Weise unzulänglich und nicht perfekt. Menschen sind nicht entweder nur gut oder nur schlecht. Ein jeder hat – mehr oder weniger – beides in sich.
Für den Fall, dass sich einige der geneigten Leserinnen und Leser an den, zum Teil sehr realistischen Schilderungen reiben, oder sogar Anstoß daran nehmen, bitten die Verfasser im Voraus um Nachsicht. Sollten ihr oder ihm die Wahrheit zu nahe gehen oder sogar abstoßen, steht es ihr/ihm frei, das Gelesene zur Seite zu legen oder es gar zu verbannen.
Darüber hinaus haben sich die Autoren bemüht, die Personen — insbesondere Kinder — aus der Geschichte herauszuhalten, da sie unseren besonderen Schutzes bedürfen.
Die Hauptbeteiligte in dem folgenden Beziehungsdrama ist seinerzeit überraschend (oder vielleicht doch nicht ganz so überraschend?) verstorben. Woran, und vor allem, warum sie gestorben ist, bleibt für die Autoren bis heute im Dunklen.
Es bleibt noch zu sagen, dass die männliche Hauptperson, Josh, in der nachstehenden Geschichte derzeit glücklich und zufrieden in einer neuen, besseren Beziehung lebt. Er hat den Tod seiner zeitweiligen Partnerin bis heute aber nicht ganz überwunden.
*
PROLOG
Das Leben schreibt manchmal außergewöhnliche Geschichten. Es sind Geschichten, die das Sein kaum, oder – wie in dieser nachfolgenden, wahren Begebenheit – extrem beeinflussen können. Josh haben die nachfolgenden Ereignisse, von denen ich berichten werde, nachhaltig verändert und seinem Leben eine Richtung gegeben, von der er bis heute nicht weiß, ob, wären sie so oder so ähnlich nicht in sein Leben getreten, eine andere Wendung für ihn bereitgehalten hätte.
Nach fast 28-jähriger, überwiegend glücklicher Ehe, die letztlich daran scheiterte, dass seine Frau und er nicht in der Lage waren, dennoch einmal auftretende Konflikte lösen zu können, in der sämtliche Klischees, wie einen Sohn (und eine Tochter) zu zeugen, ein Haus zu bauen und einen Baum zu pflanzen erfüllt worden waren, versuchte er seit etwa einem Jahr nach der Trennung, wieder auf die Beine zu kommen und seine Selbstständigkeit, die durch die Ehe etwas vernachlässigt worden war, erneut zu finden.
Das soll nicht heißen, dass er unselbstständig war. Die Annehmlichkeiten seiner Ehe brachten es jedoch mit sich, dass er sich um sehr viele Dinge nicht zu kümmern brauchte und seine Energie für die berufliche Karriere reservieren konnte. Er gab zu, dass sich über die Jahre auch eine gewisse Bequemlichkeit seinerseits eingeschlichen hatte, welche dazu führte, dass er – wie seine Frau sich dann gern auszudrücken pflegte – bei aufgefülltem Kühlschrank in dem gemeinsamen Heim verhungert wäre.
Der Wechsel von einem Haus am Rande von Hamburg mit schönem Garten in eine 3 ½ Zimmerwohnung, gelegen in einer Kleinstadt (besser gesagt: Es war ein größeres Dorf), angesiedelt in einem mit mehr als 60 Parteien unterschiedlichster Nationalitäten gefüllten Wohnsilo fiel ihm sichtlich schwer. Sich neu zu orientieren, all die Dinge tun zu müssen, die zu einem „normalen“ Haushalt gehörten, wie: Waschen, putzen, bügeln, etc. forderten seine Leistungsfähigkeit über Gebühr. Dies alles beanspruchte, bis sich nach einer geraumen Weile alles eingespielt hatte, einen großen Teil seiner Energie und Zeit.
Bis heute, glaubte er, war er in der Lage, sein Dasein in geordneten und der Gesellschaft dienlichen Bahnen zu lenken und auszufüllen; wäre da nicht etwas in sein, für ihn selbst als inzwischen „heile Welt“ definiertes Leben getreten, das alles bisher Gewesene auf den Kopf stellen sollte . . .
ÜBERRASCHUNG
-1-
Als es am Abend des 30. Oktober, einem trüben Herbsttag, einem Tag, an dem schon die ersten Herbstwinde begannen, an dem Haus, in dem er wohnte, zu nagen, an seiner Wohnungstür klingelte, dachte er noch: „Wer will denn da so spät noch etwas von mir? Ich kenne doch hier keine Seele!“
Er stand, ärgerlich, bei seiner Arbeit als nebenberuflich tätiger Programmierer gestört worden zu sein, auf, um die Tür zu öffnen und nachzusehen, wer denn da wohl so spät noch was von ihm wolle.
Ein unbekannter junger Mann stand ihm in leicht vornüber gebeugter Haltung gegenüber, der, wie Josh missfallend erkannte, ziemlich stark alkoholisiert war. Aus der Wohnung schräg links gegenüber fiel durch die offenstehende Wohnungstür ein schwaches Licht in den Flurflügel, in dem insgesamt 4 Parteien lebten, sodass er annahm, dass er dort auch wohnte.
Wie er erst viel später erfahren sollte, hatte sich Tobias (so stellte er sich ihm vor) lediglich für ein paar Tage dort verkrochen; die Wohnung stand, bis auf eine Matratze, einen Stuhl, sein Mountainbike und eine 40-Watt-Glühbirne, die trübes Licht verbreitete, leer. Bis heute wusste Josh nicht, wie er an den Wohnungsschlüssel gekommen ist. Der junge Mann verschwand einige Tage später genauso lautlos, wie er gekommen war und die Wohnung ist inzwischen fest vermietet (an einen Inder, wie er inzwischen weiß); damit sind wohl endgültig alle Spuren von ihm getilgt.
„Ehm . . . entschuldigen Sie bitte die Störung. Keine Angst, ich will Ihnen auch nichts verkaufen . . .“, sprach er Josh in einem leicht singenden Tonfall an, der vermutlich durch seinen nicht unerheblichen Alkoholspiegel zustande kam; die Fahne, die ihm entgegenschlug, nahm er jedenfalls sehr deutlich wahr. Joshs Gegenüber kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Ich wohne da drüben“, und wies ungelenk auf die halb offenstehende Wohnungstür, „meine Bekannte will mit ihren Kindern telefonieren, und ihr Handy ist leer. Ein Telefon habe ich noch nicht, ist gerader erst beantragt. Also, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie bitten, meiner Bekannten zu erlauben, von Ihrem Apparat aus ein Telefonat führen zu können. Ich bezahle es Ihnen auch.“
Im gleichen Atemzug streckte er Josh seine Rechte hin, um ihm einen 20 €- Schein in die Hand zu drücken, woraufhin dieser, vielleicht etwas zu heftig, erwiderte: „Nun lassen Sie es mal Gut sein. Für ein dämliches Telefongespräch kann ich Ihnen doch keine 20 € abnehmen. Sagen Sie Ihrer Bekannten, dass sie selbstverständlich bei mir ihr Telefonat führen kann.“
Er hob den Kopf, sah Josh gerade, aber mit etwas verschwommenem Blick in die Augen, grinste zufrieden lächelnd und lief, auf Turnschuhen, bekleidet mit einem Unterhemd Marke: „Feinripp“ und einer Hose, die sonst nur Radrennfahrer tragen, zurück in den Lichtschein seiner Wohnung. Er rief etwas für Josh Unverständliches in seine Wohnung hinein, drehte sich kurz zu ihm um und rief über den ganzen Flur: „Dauert noch einen Moment, sie kommt gleich.“
Nun muss man wissen, dass die Flure in den Wohnblöcken meist sehr hellhörig sind und so gingen kurz darauf die beiden übrigen, sich auf diesem Seitenflügel befindlichen Wohnungstüren auf und es streckten sich neugierig Köpfe heraus. Zum einen handelte es sich um eine alte Dame, die Josh direkt gegenüber wohnte, ihn nur kurz ansah, lächelte, wieder verschwand und ihre Tür hinter sich schloss. Josh sollte sie bald etwas näher kennen lernen können und feststellen, dass sie eine ganz patente Person war. Zum anderen handelte es sich um einen Mann mittleren Alters, mit sehr dunkler Haut, auf der Nase eine große Hornbrille mit dickem Rand sowie Gläsern, die Flaschenböden ähnelten. Sein Kopf umgab dichtes, schwarzes Haar, sodass Josh das Gesicht kaum erkennen konnte. Er murmelte ihm mit einer Baritonstimme etwas Unverständliches entgegen, verschwand dann aber genau so schnell, wie die Alte gegenüber.
Etwas konsterniert wegen der Reaktionen seiner unmittelbaren Nachbarn, die er bei dieser Gelegenheit erstmals, nach immerhin fast einem Jahr (so lange wohnte er nun schon dort), zu Gesicht bekam, zog er sich in seine Wohnung zurück und lehnte die Eingangstür nur leicht an, um so zu vermeiden, dass erneut geklingelt wurde. Das Läutwerk neben der Tür ist ziemlich schrill und er selbst zuckte jedes Mal zusammen, wenn es ausgelöst wurde, egal, in welchem Raum er sich gerade befand.
Eine kurze Weile verging und es läutete erneut (na ja, er hatte damit fast gerechnet, erschrak aber trotzdem), er bewegte sich zurück zur Wohnungstür, öffnete sie entschlossen, um seinem Gegenüber zu sagen, dass er nicht hätte schellen brauchen, denn ein Klopfen hätte er auch vernommen . . . und verstummte, bevor ihm überhaupt ein einziges Wort über die Lippen kam.
Was er erblickte, verschlug ihm fast den Atem und er hatte urplötzlich das Gefühl, einen ganzen Sack voller Kieselsteine im Magen zu haben. Sein Mund wurde urplötzlich trocken, er begann unvermittelt zu schwitzen und die Hände zitterten leicht.
Man könnte jetzt auf den Gedanken kommen, er hätte eine überirdische Erscheinung, eine märchenhafte Fee oder ein Wesen vor sich gehabt, die den Titelseiten bekannter Frauen- oder Modemagazine entsprungen wäre; dem war aber ganz und gar nicht so.
Josh gegenüber stand eine Frau mittleren Alters, vielleicht Mitte bis Ende dreißig, sehr groß und sehr schlank. Es fielen ihm sofort ihre endlos lange Beine auf, ihre Füße steckten, für ihn überraschend, in dicken Wollsocken. Ihr Gesicht, das von großen, ausdrucksstarken und mit traurigem Ausdruck dreinblickenden, dunklen Augen über ausgeprägten Jochbeinen beherrscht wurde, blickte ihm fast ein wenig frech entgegen.
Das Beeindruckendste war für ihn jedoch ihr scheinbar etwas zu breit ausgefallener, sinnlicher Mund, dessen Winkel leicht herabgezogen waren und so zwei überaus reizvolle Fältchen von den Nasenflügeln hinab zu den Mundwinkeln bildeten. Die Nase erschien auch ein wenig zu groß, eine Kummerfalte hatte sich zwischen ihren schmalen Augenbrauen eingenistet, alles passte aber so gut zu ihrem Gesicht, dass es gar nicht anders hätte sein dürfen. Im Übrigen erinnerten ihre Gesichtszüge ein wenig an die der leider viel zu früh verstorbenen Prinzessin Diana.
Sie hatte ihr blondiertes, langes Haar, welches schon deutliche Anzeichen der ursprünglichen Haarfarbe (sie bezeichnete den Farbton später selbst einmal als „straßenköterblond“) mit einer Klammer hinter ihrem Hinterkopf zusammengefasst, man bemerkte aber sofort, dass es sich davon unbeeindruckt zeigte und nicht beherrschen ließ. Es sah ein wenig zerzaust aus und Josh sollte sich daran schnell gewöhnen. Ein langer Pony versuchte vergeblich, die steile Kummerfalte auf ihrer Stirn zu verbergen.
Ihr langer und schlanker Hals ging in ein wenig zu breite Schultern über, da sie jedoch über ebenfalls lange und feingliederige Arme verfügte, die in ebensolche Hände übergingen, waren die Proportionen wieder perfekt hergestellt.
Ein flacher Busen, der, wie Josh noch an diesem für ihn schicksalhaften Abend selbst erfahren sollte, noch ein wenig flacher war, als es den Anschein machte und sich auf ihrem Brustkorb oberhalb einer sehr schlanken Taille kaum abzeichnete, vervollständigte ihre Figur auf eindrucksvolle Weise.
Bekleidet war sie recht unspektakulär mit einem weiten Pulli über einem Sweatshirt, welches ihr ebenfalls zu groß schien. Die Röhrenjeans unterstrichen jedoch ihre, dem Eindruck einer Gazelle nicht unähnlichen Figur in ganz ausgezeichneter Manier.
Josh bemerkte sofort, dass auch sie leicht angetrunken war, bei weitem aber nicht so stark wie ihr Bekannter und bat sie wortlos, mit einer einladenden Bewegung herein. Ihr Bekannter, Tobias, der hinter ihr stand und sie zu ihm begleitet hatte, wollte sich unaufgefordert anschließen, Josh hielt ihn jedoch auf mit der Bemerkung: „Lassen sie ihre Bekannte doch für diesen kurzen Moment allein, sie braucht für dieses Gespräch sicherlich nicht so viele Menschen um sich herum.“ Damit schlug er ihm die Tür vor der Nase zu und ließ ihn allein im Flur zurück.
In Wirklichkeit hatte sich bei Josh inzwischen ein gewisses Gefühl der Besorgnis eingenistet, mit zwei fremden Personen, die sich, angetrunken oder betrunken, in seiner Wohnung aufhielten und unter Umständen seiner Kontrolle entziehen könnten und damit für ihn unkalkulierbar gewesen wären. Man wusste ja nie . . .
Heilfroh, dass keine lautstarken Proteste des jungen Mannes draußen im Flur ihn dazu genötigt gesehen hätten, die Tür erneut öffnen zu müssen, um ihn schließlich doch noch hereinzubitten (er wollte ja schließlich kein unnötiges Aufsehen erregen), wandte Josh sich seinem Gast zu und bedeutete ihm mit einer Handbewegung und den Worten: „Bitte, kommen Sie herein. Das Telefon befindet sich im Wohnzimmer“, näher zu treten.
Der Raum, in den Josh sie hineinbat war sowohl Wohn- als auch Arbeitsstätte für ihn, hier hielt er sich den überwiegenden Teil seiner Freizeit auf. An sich war er ein sehr ordentlicher Mensch, was sein persönliches Umfeld anging. Die Wohnung hielt er immer sauber, die Küche war immer aufgeräumt, seine Schuhe putzte er regelmäßig, die Kleidung befand sich immer diszipliniert gefaltet oder auf Bügeln hängend an den ihnen zugewiesenen Plätzen und das Bett war auch immer gemacht, zumindest ordentlich aufgedeckt, wenn ihm morgens aus irgendeinem Grund die Zeit fehlte, es komplett zu machen.
Im Bereich seines Arbeitsplatzes herrscht jedoch immer eine bestimmte Unordnung, ja fast ein Chaos. Das mochten andere nicht verstanden haben, gehörte bei ihm aber zum Leben dazu und er kam immer gut damit zurecht. Computer, Messinstrumente, Oszillografen, Platinen und diverse Werkzeuge wie Halte- und Klemmvorrichtungen für Bauteile, Zangen unterschiedlichster Ausführung und Lötkolben und -pistolen diverser Größen lagen immer, für Dritte ungeordnet anmutend, herum. Baupläne und Programmierhandbücher vervollständigen das scheinbare Chaos.
„Nett hast du es hier“ waren die ersten Worte, die er von ihr hörte.
Klang das etwa ironisch? Sie hatte eine für ihn wohlklingende Stimme, etwas heiser, fast hauchend, jedoch mit einem Unterton, der ihm sofort tief in das Bewusstsein drang. Ihr Blick wanderte, scheinbar alles in sich aufnehmen wollend, einmal durch das gesamte Zimmer und blieb, nachdem sie ihren Rundblick abgeschlossen hatte, an ihm hängen.
Sie musterte ihn mit leicht verschleiertem Blick, den er auf ihren Alkoholkonsum zurückführte, abschätzend von oben bis unten, so, als würde sie erstmals einem Wesen von einem anderen Stern gegenüberstehen. Josh bot in seiner abgewetzten und mit Lötresten bespritzten Jeans und dem verwaschenen Oberteil seines Jogginganzuges, das auch die Spuren seiner Arbeit trug und farblich nicht einmal zu der Jeans passte, mit einiger Sicherheit nicht dazu bei, einen positiven und einnehmenden Eindruck auf sie zu machen. Es schien sie aber auch nicht besonders zu stören.
„Danke, dass du mich bei dir telefonieren lässt. Die Mickey Maus da drüben“ – damit meinte sie wohl ihren Bekannten, Tobias – „hat leider keins. Hast du vielleicht ein kaltes Bier für mich?“
„Ich denke, Sie wollen doch wohl erst einmal telefonieren. Währenddessen hole ich Ihnen ein Bier“, erwiderte er und zeigte ihr, wo auf seinem Arbeitstisch das Telefon stand.
Sie setzte sich auf seinen Bürostuhl, beugte sich sehr nah zu der Tastatur herunter, blinzelte, sagte: „Ich sehe nicht so besonders gut, hab außerdem meine Kontaktlinsen nicht drin,“ und fing an, langsam und bedächtig eine Nummer einzutippen, die wohl in Hamburg ihr Ziel haben musste, wie er aus den Bewegungen ihrer schlanken Finger über den Tastaturblock entnahm.
Da wandte er sich ab, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte umständlich zwei Dosen Bier heraus, ließ sich also Zeit, damit sie in Ruhe und von ihm unbeobachtet telefonieren konnte. Nichts desto Trotz war es Josh unmöglich, das nachfolgende Gespräch nicht doch akustisch mitzubekommen — zumindest das, was sie mit ihren Kindern besprach – da die Küche und das Wohnzimmer dem amerikanischen Stil, also ohne Trennung und damit übergangslos ineinander übergehend und nur durch eine Stufe vom Wohnraum abgehoben, nachempfunden ausgeführt war.
„Hallo, mein Schatz, wie geht es dir?“ hörte er, ohne feststellen zu können, ob sie mit einem Mädchen oder einem Jungen sprach.
„Nein, ich bin nicht in einer Telefonzelle“, sagte sie, nachdem eine kurze Weile verstrichen war.
„Ich bin in einer mir fremden Wohnung und will nur wissen, ob es euch gut geht.“
Wieder eine Pause, diesmal länger.
„Mache dir keine Sorgen, mein Schatz, mir geht es gut. Hat euer Vater euch was erzählt?“
Diesmal folgte eine noch längere Pause, während derer sie unvermittelt in Tränen ausbrach und sich, wie ihm schien, sehr stark beherrschen musste, um nicht laut aufzuschluchzen. Sie stützte ihren Kopf mit der freien Hand an der Stirn und mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab, sah plötzlich sehr grüblerisch aus und sagte schließlich: „Nicht weinen, versprochen? Bitte sei lieb, ich melde mich gleich noch einmal, wenn dein Bruder auch da ist. Ich will euch beiden noch etwas sehr Wichtiges sagen, ja? Bis gleich, ja? Und, ihr sollt euch keine Sorgen machen, ja? Bis nachher also, tschüss, mein Schatz.“
Sie hauchte einen Kuss in Richtung Sprechmuschel, legte mit einer langsamen Bewegung den Hörer auf und schlug danach beide Hände vor ihr Gesicht um verhalten, aber vernehmlich zu weinen.
Nachdem sie nach geraumer Zeit ihre Fassung wiedererlangt hatte, drehte sie sich zu Josh um, schien ihn mit ihren Augen erst suchen zu müssen und fragte dann, als sie ihn in ihrem Blick hatte: „Hast du ein Taschentuch und eine Zigarette für mich; ich habe meine Handtasche und meine Stiefel bei der Mickey Maus da drüben gelassen.“
In Ermangelung eines Papiertaschentuches riss Josh von der Küchenrolle ein Blatt ab und ging, zwei Dosen Bier in der einen, das „Taschentuch“ in der anderen Hand, langsam zurück in das Wohnzimmer und auf sie zu.
Sie drehte sich nun vollends zu ihm um, schaute zu ihm hoch, streckte die Hände aus und nahm gleichzeitig das Stück Küchentuch und die Dose Bier entgegen. Bevor sie sich schnäuzte, versuchte sie die Bierdose zu öffnen, reichte sie ihm aber schnell zurück und bat ihn, sie doch für sie zu öffnen. Während er den Deckelring aufhebelte, schnäuzte sie sich ausgiebig und wischte sich dann die Tränen aus dem Gesicht, wobei sie sich ihr Make-up verschmierte, was sie aber nicht im Geringsten zu stören schien.
Josh bot ihr aus der Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag, eine Zigarette an, und, nachdem sie diese mit ihren langen Fingernägeln umständlich aus der Schachtel gefischt hatte, gab er ihr Feuer.
Sie beugte sich ihm entgegen und berührte ihn erstmals, indem sie ihre rechte Hand federleicht um die Seine, die das Feuerzeug hielt, schloss. Ihre Berührung war elektrisierend und Josh spürte erstmals eine lang vermisste Erregung in sich, die auch nicht nachließ, nachdem sie ihre Hand zurückgezogen, und er das Feuerzeug in seiner Hosentasche verschwinden lassen hatte.