Ich hatte es von Anfang an für einen Fehler gehalten, Quirin an die Adria mitzunehmen. Quirin, die Sportskanone, Quirin, der Angeber. Aber ich wurde überstimmt. „Der Quirin ist nett, der Quirin, mit dem kann man Spaß haben“, wurde mir gesagt. Ich habe mich einlullen lassen, das war mein Fehler. Überhaupt die Adria. Die Adria ist kein Geheimnis mehr, kein waghalsiges Abenteuer. Erkundet von Triest bis Venedig. Ausgekundschaftet von Rimini bis Pescara, die Adria bietet kein Geheimnis mehr, die Adria läuft mit — sozusagen, die Adria ist kartografiert, gebändigt, seltsam tot. Und dann noch Quirin. Der Oberflächliche. Der Außenmensch. „Leute wie Quirin leben, um einen Eindruck zu machen“, dachte ich. „Leute wie Quirin sind die Beigabe, sie schmücken so einen Urlaub mit ihrer Erscheinung, aber sie ruinieren ihn letzterdings durch ihre Einschichtigkeit.“, sagte ich zu mir.
Wir fuhren nach Rimini, wir reisten nach einem Klischee, nach einer festgemauerten, apartmentschwangeren Manifestation großdeutscher Urlaubsträume, nach einer Exklave des Deutschtums, und ich machte gute Miene zum bösen Spiel. Um mich herum kindische Aufgeregtheit, meine Freundin Lili, Sigrid und Martin, das befreundete Pärchen und Quirin, ich ahnte alles und wusste letzten Endes nichts. Schon auf dem Brenner war es mir suspekt geworden, wie nahe sich Lili und Quirin waren, sie kannten sich kaum und fanden doch sofort einen Umgang miteinander, eine fast vertraut wirkende Nähe war sofort zwischen ihnen und ich war plötzlich außen vor. Sterzing, Brixen und Klausen, es kamen die Weinberge und der Verkehr ging sich mehr und mehr zäh gegen Süden, ich war angeekelt, sukzessive war ich genervter und abgestoßen. Im Autoradio kam wie zum Hohn etwas von John Paul Young, Love is in the Air, wie bestellt von einer mir feindlichen Macht, etwas Pseudo-Romantisches, etwas sozusagen ideal zur Anbahnung, ich versuchte unbeeindruckt zu wirken, während sich die Dinge in eine gewisse Richtung entwickelten.
Die Po-Ebene war ereignislos. Irgendwer spielte Element of Crime über den Autoradio ab und es erhob sich dieses Wir-sind-fast-da-Gefühl. Nun noch schnell die Eindrücke mitnehmen, links und rechts der Autostrada. Wir glitten an Bologna vorbei, neuerdings nicht ohne Wanda-Anspielung möglich. „Bologna, die Stadt der 180 Türme, Mutterleib der Tortellini und aller Hackfleisch-Soßen, verkommen zum Drive-In des modernen auf kantig gebürsteten Austro-Pop-Rock“, dachte ich und dachte noch Düstereres über die Zukunft. Überhaupt Reisen, auf zu neuen Ufern, sagen die Naiven, hinein in die Ungewissheit, sagen die Realisten, du kommst nicht wieder, sagen die Pessimisten, ich sitze zwischen den Stühlen, schon für zu lange. Das Klima des Durchschnittsautos ist zu heiß, feucht und immer dieser leichte Geruch nach Staub und Benzin, schrecklich. Dann nach Bologna auf dem mehrspurigen Weg zum Meer Stau. Verbeulte Fiats und staubige BMWS vor uns, der Hummer mit Berliner Kennzeichen drohend hinter uns; „Die Deutschen sind schon eine Plage“, dachte ich.
Lili und Quirin saßen nebeneinander, Sigrid vorne, Martin am Steuer. Wir hatten uns bis auf das nötigste Ausgezogen. Es war nun drückend. Legeres Schweigen, ehrfürchtiges Erstarren in einer im Grunde genommen schon auserzählten Situation. Die Autokolonne hatte sich etwas gelöst, es war flach, vertrocknete Landschaften. Die Autobahnausfahrt bot ein einsames Kassahaus, hinter der verkrusteten Plexi-Glas-Scheibe ein verträumter Italiener. Ignorierte unser passend hergerichtetes Wechselgeld, fragte blöde nach, hielt auf. Ein Narr innerhalb unserer Autogemeinschaft hatte jetzt Claudia Jung aufgelegt, wie ein Höllen-Dj, Amore Amore und Quirin legte wie zufällig seine Hand auf den Oberschenkel meiner Freundin. Ich fragte mich, ob ich eingreifen sollte, aber dann fuhren plötzlich von der Hauptstraße ab und strebten einen hellbraunen Hügel hinauf, durch abgeerntete Sonnenblumenfelder und dürre Olivenbäume in eine Wohnanlage.
Pittoresk aber fad analysierte ich unser Domizil. Unten zwischen den Häusern der Swimming-Pool. Eine selten türkise Chlorbrühe. „Alljährlich ersaufen unzählige Urlauber in diesen so harmlos, fast kindisch aussehenden, in die Wiese hinein gestanzten Wasserbecken, was nicht verhindert, dass diese Todesfallen in jeden Prospekt scheinheilig angepreisselt werden“, dachte ich. Droben, innerhalb der dünnen Mauern des Ferienbungalows stand die Luft schwer und abgestanden. Wir rissen alle verfügbaren Fenster und Türen auf, setzten uns auf die Terrasse und tranken das mitgebrachte Bier aus der Kühltruhe. „Gott sei Dank haben wir uns Bier mitgenommen“, sagte Martin und ich gab ihm Recht. Hier gab es vor allem Wein, mit Wein kann man sich nicht so ostentativ betrinken, beim Wein begleitet einem immer so ein nicht gewolltes Dandytum, man ist bei weitem nicht so ordinär und rauschorientiert unterwegs wie beim Bier. Unten spiegelte sich blau am Horizont das Meer und Lili, meine Lili, schlug vor nach dem Auspacken gleich hinunter zu fahren, in das Küstenörtchen, in das kleine Stadterl, dort unten im Dunst des fliehenden Nachmittags.
Vieles ist Fassade, Potemkinsche Dörfer am Ufer des Touristenstroms, schiefe Prekariatsarchitektur, zu hoch, zu groß, wie ein Golgatha aus gestorbenem Beton kolossierte unser dunkel und abweisend Urlaubsort das Meer entlang. Über dem grauen Boden flimmerte die Luft in der Hitze, der Sand, zwischen Siedlung und Wasser künstlich aufgeschüttet, war glühend heiß und dreckig. Wir legten unsere Badesachen an und ich dachte in einem Anfall von mediterraner Tollheit an Gustav von Aschenbach, dem Tod auf dem Liegestuhl am Strand an der Adria, als ich es schon hörte, Quirin tunkte Lili und er lachte und sie kreischte und er entschuldigte sich kokett und sie kicherte dieses alberne Mädchenkichern, das geradewegs in ihren Schoß führt. Ich wusste doch, wie so etwas funktionierte, es war ganz klar, ganz abgründig ersichtlich. Aber ich war seltsam gehemmt. Ich lag wie betäubt auf meinem Handtuch und dachte an Francesca und Paolo und an so viele andere Dinge, die aus dem trüben Himmel auf mich hinab regneten. Die Sonne sank nun immer tiefer und der Wind vom Meer frischte jäh auf. „Gehn wir“, sagte Martin, „mir müssen noch in den Supermarkt.“ Wir waren schnell angezogen. Sie waren fröhlich. Lili neben mir. Ich hatte dennoch ein ungutes Gefühl.
Üppige Reihen in Neonlicht, sterile Kühle zwischen den Regalen, erwartete uns in der Mall-artigen Einkaufsbastion, die wir enterten, um unseres leibliches Wohl für die nächste Woche zu sichern. „Schaut’s amol, die Fischtheke!“, rief uns Sigrid zu, ihre blonden Locken erregt schüttelnd. Und in der Tat, es gab eine reichhaltige Auswahl an Meeresgetier labbrig auf Eis geschlagen hinter dem angelaufenen Vitrinenglas. Wir kauften Kalamare, wir kauften Garnelen und beschlossen diese mit Spaghetti zu bereiten. Martin und Quirin kauften dazu Wein, einen weißen Landwein. Ein leichtes Tröpferl, ideal zum Fisch. Ich wollte schon fast dazwischen grätschen, darauf hinweisen, ob wir jetzt unsere Eltern zu parodieren gedachten, ob wir es so nötig hätten, uns wie präpotente Arschlöcher aufzuführen, halbwissende Italien-Kenner, aber ich verkniff es mir. Auf dem Weg nach droben lief laut Andreas Gabalier, Wer ist so stoark, wer ist so superstoark: Mountain Man — es waren nun alle Hemmungen gefallen, jedenfalls akustisch und begrifflich, ich ahnte böses.
Der Fisch schmeckte tranig. Alles war falsch zu Tisch, vorgeblich. Man meinte etwas anderes, die Worte prasselten zwischen uns her, waren aber zwecklos, weil nur einem Ziele zugedacht. Was war das Magisches zwischen Quirin und ihr? Eine moirische Anziehungskraft. Dann der jähre Vorschlag hinunter zum Pool zu gehen. Ich hatte verloren und es blieb mir nichts, außer gleich dem ruinierten Poker-Spieler würdig mit süßem desperatem Lächeln über die Kante in den Abgrund zu springen.. Sitzen bleiben, nein keine Lust mitzugehen, immer lächeln, obwohl die Tränen schon einschießen, alles liebe ertränken.
Sie waren nackt da unten zu Werke. Verschwommen, verzerrt drang ihr Lachen herauf, wie aus einem fernen Radio. Ich hatte nicht mal ein Drama gemacht, ein gfeides Trauerspiel aufgeführt, „geh nicht“ geblökt, wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen“, zitierte, lachte höhnisch, weinte ich, verzweifelte ich postwendend. Es ist nur Sex, aber warum? So plump, mich zu betrügen einerseits, so ehrlich andererseits, es so offensichtlich zu tun. „Bösartig sind die Menschen“, dachte ich, während Quirin unten auf einer Liege am Pool meine Freundin vögelte.
Der Quirin und die Lili fanden sich ja schon in der Grundschule ganz leiwand. Die waren ja schon mal in love in der achten Klasse. Des ist doch klar, dass jetzt … Wären wir im 18. Jahrhundert hätten wir jetzt den Ehrenhändel. Pistolenduell, eine Kugel in seinen blöden Schädel. Und dann heißt’s „Lili, du bleibst jetzt bei mir.“ Zerbröselnde Konstrukte, antik, überkommen, drunten am Pool zwei Körper, verschlugen, kopulierend, feucht-glänzend im Licht der mottenumschwirrten Laternen. „Duad ma so leid!“, von Sigrid. Teilnahmsloser Gesichtsausdruck von Martin.
Mir war speiübel und ich wusste nicht, wie ich die kommende Woche aushalten sollte. Ich schenkte mir puren Wodka in ein großes Longdrinkglas ein und dachte Unzusammenhängendes. Irgendwoher Gestöhne, es roch schnell nach saurem Schweiß in unserem Apartment. „Nächstes mal fahr ich mit anderen Leuten“, dachte ich und war, ohne es zu bemerken, bereits einen weiteren Schritt Richtung eines ausgeprägten Solipsismus gegangen.