Liebe Leserinnen und Leser!

In den letzten Tagen habe ich für euch eine kleine Weihnachtsgeschichte geschrieben. Geplant waren eigentlich nur vier oder fünf Seiten, am Ende sind es doch knapp siebzehn geworden.

Die Geschichte spielt nach den Ereignissen in Argonauta. Sie greift deshalb einige Dinge bereits vor und ich habe erst gezögert, ob ich durch eine vorzeitige Veröffentlichung nicht zu viel verrate. Aber als Handlung kann die Geschichte vollständig für sich gelesen werden und ich habe mich deshalb entschlossen, sie zu veröffentlichen und ich hoffe, dass ich euch damit eine kleine Weihnachtsfreude bereiten kann.

Im kommenden Jahr wird es dann auch mit Argonauta weiter gehen! Ich habe das ganze Jahr über, wann immer es mir möglich war, daran geschrieben. Die Geschichte wird auf jeden Fall fortgesetzt und abgeschlossen. In meinem Kopf spukt sogar schon eine Idee für eine Fortsetzung herum.

Euch allen wünsche ich ein trotz der widrigen Umstände fröhliches, besinnliches und schönes Weihnachtsfest. Bleibt gesund und wir sehen uns dann im neuen Jahr wieder!

Euer

Panthera tigris

Amba

Es hatte wieder zu schneien begonnen. Kunstvolle Schneeflocken, jede einzelne von ihnen ein Unikat, tänzelten scheinbar schwerelos in der eisigen Nachmittagsluft und fielen lautlos auf den gefrorenen Boden. Tief stand die schwache Nachmittagssonne am Himmel. Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, kämpften sich angestrengt durch den pulverigen Neuschnee. Sie hatten Mühe, ihre Spuren wieder zu finden, die sie heute am Morgen hinterlassen hatten, als sie den gleichen Weg schon einmal, nur in die entgegengesetzte Richtung, gegangen waren. Obwohl sie beide Schneeschuhe unter die Sohlen ihrer hohen Lederstiefel geschnallt hatten, kamen sie nur mühsam voran.

Beide trugen bauschige Anoraks aus weichem Rentierfell und wärmende Hosen. Die Hände steckten in dicken Fäustlingen und auf dem Kopf trugen sie Uschankas aus Kaninchenpelz, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten. An den ungeschützten Gesichtspartien brannte die eiskalte Luft auf der geröteten Haut wie tausende Nadelstiche. Der Atem der beiden kondensierte in der frostigen Luft zu winzigen Rauchwölkchen. Am Morgen hatte das Thermometer an der Tür der kleinen Holzhütte minus fünfundzwanzig Grad angezeigt. Für mitteleuropäische Verhältnisse eiskalt, hier aber war das nichts Ungewöhnliches. Zu dieser Jahreszeit konnte die Temperatur auch schon einmal auf vierzig Grad unter null sinken.

Im Wald herrschte gespenstisches Schweigen. Einzig das gedämpfte Knirschen ihrer Schritte durch den hohen Schnee durchbrach die Stille. Gelegentlich knackte es laut in den Bäumen, wie ein Schuss hallte der Knall dann durch den Wald und jedes Mal durchfuhr ein Schreck die junge Frau und ließ sie zusammenzucken.

Doch die Ruhe täuschte. In Wirklichkeit war der Wald beseelt von Leben. In den kahlen Zweigen einer Mongolen-Eiche zankte sich krakeelend ein Trupp Blauelstern. Vor ihnen kreuzten die frischen Spuren eines kleinen Rudels von Sikahirschen ihren Weg. Sie führten vom zugefrorenen Fluss, dem die beiden folgten, weg, tiefer in den Wald hinein. Vermutlich durchwühlten sie dort den Schnee nach den letzten Samen der Korea-Kiefern und nach Eicheln.

Die beiden setzten ihren Weg das Flüsschen entlang fort. Es war ein kleiner Nebenfluss des Bikin, mitten im Sichote-Alin-Gebirge in Russlands fernem Osten. Holzfäller hatten an seinem Ufer noch zu Sowjetzeiten, knapp drei Kilometer flussabwärts, eine kleine Holzhütte auf einer Anhöhe errichtet, in welcher der Mann und die Frau seit einigen Wochen vorübergehend lebten. Holzfäller hausten in der Hütte schon lange nicht mehr. Nicht, seit große Teile des Bikin-Tals von der Regierung unter Schutz gestellt worden waren. Nur wenige Kilometer außerhalb der Schutzzone jedoch rückten die Menschen mit ihren schweren Maschinen immer weiter vor, fällten Baum um Baum, um ihre blindwütige Gier nach Holz zu befriedigen. An manchen Tagen war das laute Klagen der Motorsägen bis hinauf zur Hütte zu hören. Selbst in der endlosen, weiten Taiga war eben nicht mehr alles endlos und weit.

„Ich bin schon ganz durchgefroren, Flo“, maulte die Frau.

„Es ist nicht mehr weit“, antwortete er, „wir sind bald da und zum Aufwärmen mache ich uns Tee im Samowar. Was meinst du dazu?“

„Klingt verlockend“, strahlte sie.

Dann blieb er urplötzlich stehen und die junge Frau prallte gegen seinen Rücken.

„Au, pass doch auf!“, schimpfte sie.

„Schau mal, dort“, sagte Florian, „die Spur im Schnee, wofür hältst du die, Julia?“

Sie schob sich an ihm vorbei und ging in die Hocke, um die Spur genauer zu begutachten.

Deutlich waren die Ballen von Pfoten zu erkennen und die Abdrücke der Zehenballen, an den Vorderpfoten je fünf und an den hinteren vier. Die Spur sah noch ziemlich frisch aus. Am Vormittag hatten die beiden sie jedenfalls noch nicht gesehen.

„Ein Amurleopard?“, fragte Florian hoffnungsvoll.

„Nein“, entgegnete Julia kopfschüttelnd. „Die hier sind größer. Das muss ein Tiger gewesen sein.“

„Die Spur führt zum Fluss“, sagte er.

„Ja. Bestimmt ist er übers zugefrorene Eis gelaufen. Das ist der bequemere Weg. Tiger meiden den hohen Schnee, wenn’s geht.“

Für das einheimische Volk der Udegen war der Amurtiger heilig. Amba, wie sie ihn nannten, war für sie der unangefochtene Herrscher des Waldes. Einen Tiger grundlos zu töten, galt als schlimmes Verbrechen. Nicht einmal an seinem Riss durfte ein Udege sich vergreifen.

Die Ausmaße der Abdrücke waren gewaltig. Der Tiger, der sie hinterlassen hatte, musste ein wahrer Riese seiner Art gewesen sein. Julia wusste, dass erwachsene Tiger es sogar mit Bären aufnehmen konnten. Gelegentlich, so hörte man, angelte ein Tiger einen Schwarzbären aus dessen Winterquartier und noch ehe der Bär so recht begriff, was los war, hatte der Tiger auch schon einen präzisen Kehlbiss angesetzt, der dem Bären die Luftröhre und die Halsarterien durchtrennte.

Julia lief es kalt den Rücken hinunter. Auf eine Konfrontation mit einem Tiger wollte sie lieber verzichten. Zum Glück waren die Tiger im fernen Osten Sibiriens nicht als Menschenfresser bekannt. Im Gegenteil, die Tiere waren noch bis in die 1950er hinein erbarmungslos gejagt worden und deshalb extrem scheu. Auch heute noch wurden immer wieder Tiger illegal gewildert und ihre Teile auf dem chinesischen Schwarzmarkt verkauft. Ein einzelner Tiger war so wertvoll, dass man sich davon ein nagelneues Auto kaufen konnte. Die Tiere mieden die Nähe zum Menschen also aus gutem Grund. Nur wenn ein Tiger extrem ausgehungert war, traute er sich in die Nähe der menschlichen Siedlungen und holte sich ab und an einmal einen Hund.

„Lass uns lieber weiter gehen“, sagte Julia besorgt. „Es wird ohnehin bald dunkel.“

Im Winter waren die sibirischen Tage nur kurz. Längst hatte es zu dämmern begonnen. In nicht ganz einer halben Stunde wäre der Wald in finsterste Nacht eingehüllt.

„Du hast recht“, sagte ihr Gefährte.

Schweigend setzten sie ihren Marsch fort. Sie beschleunigten ihre Schritte und schafften es tatsächlich noch, in den letzten Sonnenstrahlen des Tages ihre Hütte zu erreichen.

Drinnen empfing sie wohlig warme Luft. Im Kamin leuchtete noch etwas Glut, die bald schon zu einem behaglich knisternden Feuer entfacht worden war, als Florian ein Holzscheit aufgelegt hatte. Alsdann kümmerte er sich um den Tee.

Nachdem Julia sich ihrer schweren Stiefel entledigt und sich aus ihrer Jacke geschält hatte, ging sie an die winzige Arbeitsecke, die die beiden sich eingerichtet hatten.

Man mochte es kaum glauben, aber selbst hier, mitten im Nirgendwo, gab es Elektrizität, die ein in einem Schuppen neben dem Häuschen stehendes Dieselaggregat lieferte. In der Hütte gab es zwar nur eine einzige Steckdose. Zum Betrieb eines uralten Laptops reichte es aber allemal aus.

Florian kam mit dem Tee.

„Dann lass uns mal schauen, ob wir Glück hatten“, sagte er gespannt.

Julia öffnete ihren Rucksack und holte einige Speicherkarten daraus hervor. Sie startete den Laptop, der sich beim Hochfahren viel Zeit ließ.

„Schau mal“, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Datumsanzeige in der Taskleiste, „heute ist Heiligabend.“

Das hatte sie glatt vergessen. In der rauen Einsamkeit der Taiga verlor man schnell jegliches Zeitgefühl, weil Zeit hier keinerlei Bedeutung hatte.

„Das ist hoffentlich ein gutes Zeichen.“

„Bestimmt“, sagte Julia, während sie die erste Speicherkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz des Rechners einführte.

Die Speicherkarte stammte, genau wie die vierzehn anderen, aus einer Wildtierkamera, die die beiden vor Wochen im Wald an Bäumen angebracht hatten.

Julia und Florian hatten sie alle aufgestellt, weil sie einen Geist jagten. Den seltenen Amurleopard.

Der Amurleopard war die seltenste Großkatze der Welt. Im Tal des Bikin war der Leopard eigentlich längst verschwunden, ausgerottet durch den Menschen. Den erfolgreichen Schutzmaßnahmen war es aber zu verdanken, dass die Population der seltenen Tiere in den vergangenen Jahren leicht angewachsen war. Die Hoffnung war deshalb groß, dass ein oder zwei junge Leoparden auf der Suche nach einem neuen Revier wieder im Bikin-Tal heimisch geworden waren. Seit einigen Wochen mehrten sich Hinweise der Bevölkerung, die angeblich beim Holzsammeln oder beim Fallenaufstellen einen Leoparden gesehen haben wollten. Nur gab es für diese Gerüchte bislang keinen echten Beweis. Also hatten Julia und Florian Kamerafallen im Wald aufgestellt, die mit viel Glück eines der seltenen Tiere aufgenommen hatten. Falls es sie hier wirklich wieder gab. Wenn ihnen der Nachweis durch ein Foto gelänge, wäre es auf jeden Fall eine Riesensensation.

Die erste Kamera hatte eine ordentliche Menge an Bildern geschossen, vor allem von Sibirischen Rehen, Sikahirschen, Isubra-Wapitis, Sichelhühnern und Wildschweinen, hin und wieder auch einen Zobel oder ein Feuerwiesel. Nur ein Leopard war nicht dabei.

Julia steckte die nächste Karte in den Kartenslot und klickte sich durch die Bilder. Wieder hatte die Kamera keinen Leopard aufgenommen. Mit jeder weiteren Karte schwand die Hoffnung der beiden immer stärker, während im gleichen Maß die Enttäuschung zunahm.

„So, das war’s“, sagte Julia frustriert, nachdem sie sich erfolglos auch durch die Bilder der letzten Kamera geklickt hatten.

„Das waren also eins, zwei, drei, vier … „, sagte sie, während sie die einzelnen Speicherkarten durch ihre Hände gleiten ließ, „ … Moment mal … hier fehlt eine.“

„Was?“, fragte Florian.

„Hier sind nur vierzehn Speicherkarten. Es müssten aber fünfzehn sein. Eine fehlt.“

„Bist du sicher?“

„Natürlich bin ich sicher. Hier, zähl‘ selbst nach, wenn du mir nicht glaubst.“

Florian zählte die Karten ab. Tatsächlich, eine fehlte.

„Ist sie vielleicht noch in der Tasche?“, fragte er.

Julia öffnete den schweren Rucksack und schaute nach. „Nein, hier ist sie nicht“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Dann müssen wir eine Kamera ausgelassen haben. Die Karte muss noch in ihr stecken. Welche ist es denn?“, fragte Florian.

„Moment, ich schau mal nach“, antwortete Julia und überflog die Beschriftungen auf den Karten, „es fehlt die Karte von Kamera FW1/5.“

FW1/5 bedeutete, dass es die erste von fünf Kameras war, die sie an einem alten Forstweg aufgestellt hatten, der von der Hütte aus tiefer in den Wald hinein führte.

„Na, das ist doch super“, sagte Florian. „Die ist gleich in der Nähe. Ich geh‘ schnell und hole sie.“

„Bist du verrückt? Es ist schon dunkel“, mahnte Julia.

„Was soll schon groß passieren? Es ist nicht weit. Hin und wieder zurück nicht mal drei Kilometer. Wenn ich mich beeile, bin ich in einer halben Stunde wieder zurück.“

„Aber wenn du dich verirrst?“, warf Julia besorgt ein.

„Unsinn, den Weg kenne ich doch inzwischen in- und auswendig.“

Julia fiel die Tigerspur ein, die sie am Nachmittag gesehen hatten.

„Also mir wäre es wirklich lieber, wir gehen morgen früh gemeinsam noch einmal los“, sagte sie.

Doch Florian war schon aufgesprungen und in seine Jacke geschlüpft. Er griff sich eine Taschenlampe und sagte: „Ich pass schon auf mich auf, Schatz. Versprochen. Ich bin gleich wieder zurück. Du kannst ja bis dahin schon mal unser Bett herrichten.“ Er grinste breit und zweideutig.

Auch Julia musste plötzlich grinsen. Der Vorschlag klang eigentlich ziemlich verlockend.

„Also gut“, gab sie klein bei, „aber sei bitte vorsichtig.“

„Versprochen“, sagte er und gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Dann zog er die Tür auf, ließ Julia allein zurück und verschwand im Finster der Nacht.

*******

Ganz wohl war Julia immer noch nicht. Sie musste wieder an den Tiger denken und bekam dabei ein ganz und gar ungutes Ziehen in ihrem Bauch.

Unsinn, dachte sie bei sich selbst, Tiger sind doch keine Bestien! Das weißt du doch besser als jeder andere. Außerdem ist es extrem unwahrscheinlich, einem Tiger in der Wildnis zu begegnen.

Was stimmte. Es gab viele Udegen, die tagein, tagaus in den Wald gegangen waren, um zu jagen, Holz zu sammeln oder Fallen aufzustellen, und in ihrem ganzen Leben nicht einen einzigen Tiger zu Gesicht bekommen hatten.

Und dennoch, die nagende Ungewissheit blieb. Nervös schaute sie immer und immer wieder auf die monoton tickende Wanduhr. Quälend langsam verstrichen die Minuten. Sie musste sich unbedingt ablenken.

Also sprang sie von ihrem Platz am Schreibtisch auf und tat genau das, was Florian vorgeschlagen hatte, sie bezog die Betten frisch. Sie fand sogar zur Jahreszeit passende Bettwäsche mit Schneeflockenmotiv. Feinbiber, weich und wärmend. In den Laptop legte sie eine CD mit Weihnachtsklassikern ein, um für die richtige Stimmung zu sorgen und für den Augenblick vergaß sie sogar die Sorge um Florian, der irgendwo da draußen allein durch die Nacht stapfte und diese bescheuerte SD-Speicherkarte holen wollte.

Einen festlich geschmückten Baum hatten sie leider nicht, in der Hütte war dafür einfach nicht genug Platz. Aber sie fand immerhin noch vier mehr oder weniger stark abgebrannte Kerzenstumpen, die sie auf einen Teller stellte, mit etwas Tannengrün, Nüssen und Kiefernzapfen dekorierte und auf dem Esstisch platzierte, um wenigstens einen Hauch Weihnachten in die Hütte zu zaubern. Auf der anderen Seite — konnte es etwas Romantischeres geben, als Weihnachten in einer eingeschneiten, winzigen Holzhütte mitten im Wald zu verbringen? Solange sie einander hatten, würde es auch ohne Weihnachtsbaum, Gänsebraten, Butterstollen und fernab ihrer Familien ein schönes Fest werden.

Bestimmt war ihre daheim in Lauscha, jener winzigen Glasbläserstadt im fränkischen Teil Thüringens, in der Julia ihre gesamte Kinderzeit verbracht hatte, gerade damit beschäftigt, den Kartoffelsalat zuzubereiten. Und würde derweil den Baum mit den fragilen Glaskugeln schmücken, die er als alter Glasbläsermeister selbst als Gesellenstück angefertigt hatte. Danach würde er rüber zu den Nachbarn gehen und die bestellten frisch geräucherten Forellen abholen.

Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass die halbe Stunde vorüber war. Florian war noch nicht zurückgekehrt. Dafür aber das unangenehme Gefühl. War Florian etwas zugestoßen?

Ungeduldig ging sie im Zimmer auf und ab. Wie früher die Panther und Bären im Zoo, als man sie noch in viel zu kleinen Gehegen mit Gitterstäben gehalten hatte, tigerte sie durch die Hütte. Sie würde ihm noch fünf Minuten geben. Vielleicht war er langsamer vorangekommen als gedacht oder er hatte die Kamera nicht gleich gefunden. Bei Tag die Kamera zu suchen, war eine Sache. Es nachts zu tun eine völlig andere, denn der Wald konnte in der Dunkelheit ganz anders aussehen als am Tag.

Die Minuten verstrichen. Aus fünf Minuten wurden zehn und schließlich fünfzehn. Und noch immer war er nicht zurückgekehrt.

Verdammt, was, wenn wirklich etwas passiert war? Ob sie ihn suchen gehen sollte?

Nein, das war doch lächerlich. Florian war erwachsen, konnte gut auf sich selbst aufpassen. Es dauerte einfach nur ein bisschen länger, das war alles.

Julia beschloss, noch zu warten. Doch als die Weihnachts-CD wieder von vorne startete, war von Florian immer noch keine Spur zu sehen. Er war nun fast eine Stunde überfällig. Es war unmöglich, dass er so lange brauchte, um die Kamera zu finden.

Irgendetwas ist passiert, dachte sie und es schnürte ihr den Magen zu.

„Ich muss ihn suchen!“, sagte sie laut zu sich selbst.

Sie schlüpfte in ihre Stiefel, warf den Anorak über und zog die restliche Winterkleidung an. Sie schnappte sich eine Taschenlampe, überprüfte, ob sie funktionierte und nahm zur Sicherheit Ersatzbatterien mit und warf alles in den Rucksack mit ihrer Ausrüstung. Den würde sie auf jeden Fall mitnehmen.

Dann trat sie hinaus ins Freie und pechschwarze Dunkelheit umhüllte sie. Die Kälte biss sofort auf ihrer Haut und sie spürte, wie sie an ihren Wangen aufriss. Die Temperatur war noch weiter gefallen. Das Schneetreiben war schlimmer geworden. Sie schaltete die Lampe ein, aber sie konnte trotzdem kaum etwas sehen. Dicke Schneeflocken versperrten ihr die Sicht.

Julia stapfte um die Hütte herum zum Schuppen. Der Dieselgenerator brummte und vibrierte geisterhaft. Direkt daneben stand ein großer Holzschlitten, mit dem sie einmal pro Woche ins nächstgelegene Dörfchen gingen, um ihre Vorräte aufzufüllen. Wenn Florian verletzt war, würde sie ihn brauchen, also beschloss sie, ihn mitzunehmen.

Der Schlitten war massiv und schwer. Ihn zu ziehen kostete viel Kraft. Sie würde damit definitiv viel langsamer vorankommen. Vielleicht würde sie aber unterwegs etwas Zeit aufholen können, wenn der Weg leicht abschüssig wurde und sie das letzte Stück rodelnd zurücklegen konnte.

Sie zerrte den Schlitten mit all ihrer Kraft aus dem Schuppen. Das Metall der Kufen kreischte über den Schuppenboden, dass es in den Ohren schmerzte. Ihre Arme spürten schon jetzt den Muskelkater. Das gespannte Seil schnitt in ihre Hände ein, die schon ganz taub gefroren waren. In der Hektik hatte sie die Fäustlinge vergessen. Sie überlegte, ob sie noch einmal zurücklaufen und sie holen sollte, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr.

Den Schlitten hinter sich her ziehend, marschierte sie wieder um die Hütte herum. Dann folgte sie dem Forstweg mitten hinein in den Wald.

Florians Spuren waren vom Neuschnee schon zugeschneit worden. Nur mit Mühe konnte sie ihnen folgen. Zumindest erkannte sie aber zwei Dinge. Erstens, dass sie auf dem richtigen Weg war. Und zweitens, dass seine Fußstapfen nur in den Wald hinein führten, aber nicht wieder hinaus. Das bedeutete, dass er auf jeden Fall irgendwo dort sein musste.

Bei Nacht wirkte der Wald, der noch bei Tage so friedlich still gelegen hatte, bedrohlich und angsteinflößend. Der Wind heulte jammernd auf. Julia konnte keine fünf Meter weit sehen. Der Wind kam von vorn und peitschte ihr den Schnee mitten ins Gesicht. Vor sich erhellte das Licht der Lampe eine weiße Wand aus Schneeflocken, ansonsten war ringsum nur Schwärze.

Sie kam nur im Schneckentempo voran. Das Seil des Schlittens hatte sie sich um die Brust gelegt. So konnte sie wenigstens eine Hand in die warme Jackentasche stecken. In der anderen hielt sie die Taschenlampe fest umklammert.

„Flo!“, rief sie laut in die Nacht hinein. „Wo bist du?“

Doch der Wind trug ihre Stimme aus dem Wald zurück. Selbst wenn er ganz in der Nähe war, Florian würde sie nicht hören können.

Der Pfad machte eine scharfe Linkskurve. Gerade noch rechtzeitig wechselte sie die Richtung und konnte im letzten Moment verhindern, gegen einen Baum zu laufen, der wie aus dem Nichts aus der Dunkelheit aufgetaucht war. Ihr Herz machte erschrocken einen Stolperer.

„Flo, wo bist du?“, rief sie noch einmal, aber sie erhielt keine Antwort.

Julia wurde immer unheimlicher. Sie meinte, überall in den Bäumen geisterhafte Fratzen erkennen zu können, die Mäuler furchterregend weit aufgerissen. Ihr war, als würden tausende glühende Augen sie anstarren.

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