Ingrid Bender war aus reiner Gewohnheit erst zur Mittagszeit aufgewacht. Nach einem kurzen Abstecher durchs Bad machte sie sich einen Tee, um dann zu überlegen, was sie noch vor ihrer Abreise erledigen musste. Sie ging ja jetzt erst mal von der Tatsache aus, nie wieder hierher zurückzukommen. Sie holte den Rollkoffer aus der Ecke und legte ihn aufs Bett. Einige von ihren alten Sachen und die neuen Sachen, die sie gestern erstanden hatte, wanderten in den Koffer. Nur die Kleidung von ihren Neuerwerbungen ließ sie draußen, die sie für die Fahrt tragen wollte. Als nächstes entfernte sie an der Kleidung für Holger alle Hersteller-Embleme und packte die Männerkleidung auch in den Koffer. Ihr kleines Kuscheltier, das ihr damals der als kleines Mädchen geschenkt hatte, musste auch unbedingt mit.

Sie hatte es immer die ganzen Jahre gehütet wie ihren Augapfel. Es erinnerte sie an ihre unbeschwerte Kindheit, als ihre noch gelebt hatte. Mit ihrem Tod, da war sie grade mal 17, mussten sich die Geschwister alleine durchschlagen. Holger hatte ihr dann schnell begreiflich gemacht, dass ihr Körper ihr gemeinsames Kapital sei. Als sie 18 wurde, zogen sie aus dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen waren, nach Frankfurt.

Schnell hatte sie sich im Rotlichtviertel von Frankfurt zurechtgefunden und gemeinsam Karriere gemacht. Sie hatte schnell den Ruf, ein guter Fick zu sein und Holger machte als Zuhälter unter den Bossen sich einen Namen als knallharter Kerl. Aber Holger wollte mehr. Darum machte er sich auf, knüpfte Kontakte nach Osteuropa und schleppte von dort Mädchen an.

Gemeinsam brachte sie die Mädchen zum Anschaffen, und Holger verkaufte sie dann an Andere weiter. Die Geschäfte liefen so gut, dass sie nur noch gelegentlich selber arbeiten musste. Sie hatte gut zahlende Stammkunden oder zeigte den neuen Mädchen ihre Methode, wie sie auf der Straße arbeiten sollten.

Als sie Holger schnappten, stellte sie ihr Anwalt als ein von Holger dar und keines der Mädels sagte gegen sie aus.

Als sie auch noch einige Fotos aus vergangenen besseren Tagen in den Koffer gepackt hatte, schloss sie ihn.

Als nächstes kramte sie die große Umhängetasche aus ihrem Versteck. Holger hatte sie ihr vor Jahren anfertigen lassen. Am Boden der Tasche hatte das Futter einen Klettverschluss, mit dem man es öffnen konnte. Dadurch konnte man das Futter nach außen umschlagen. An der Innenseite der Tasche waren Gummibänder eingearbeitet, in die man dünne Geldbündel befestigen konnte. Auf beiden Seiten der Tasche war soviel Platz, dass man gut circa 100.000 Euro in 500-ter Noten unterbringen konnte. Der Rest passte auf den Boden der Tasche, da der genau in der richtigen Breite gearbeitet war. Wenn man jetzt das Futter wieder verschloss, hatte man eine modische, große Tasche, die sie jetzt mit allem Grimmskram füllte, was man als Frau so brauchte.

Probeweise legte sie die Tasche über ihre Schulter und musste feststellen, dass das Gewicht ganz schön drückte, es aber doch erträglich war. Damit hatte sie ihre Reisevorbereitungen abgeschlossen.

***

Andrea hatte sich noch kurz im Bad das Gesicht gewaschen und kam mit einem breiten Grinsen wieder ins Wohnzimmer.

Sicher hatten Alle mitbekommen, dass sie nicht nur Händchen gehalten hatten. Keiner konnte hören, was sich Dieter und sie an Sprüchen sich zugeworfen hatten, aber dass sie eine Nummer geschoben hatten, hatten sie sicher mitbekommen.

Aber ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr nicht eben unangenehm gewesen sein musste.

Herbert erkannte seine Frau kaum wieder, weil sie mit einem Mal strahlte wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

Brigitte wunderte sich auch über ihre Mutter, da sie es sich bis heute nicht vorstellen konnte, dass ihre Mutter Sex hatte und auch noch Spaß daran finden würde.

Achim machte sich wie immer keinen Kopf, sondern nahm es halt, wie es kam. Holger fühlte sich mal wieder darin bestätigt, dass in der Frau mehr steckte, als sie selber bis heute von sich geglaubt hatte. Er schaute Andrea fragend an, und die antwortete: „Kommt gleich, er musste nur erst etwas Druck ablassen.“

Sie ging an ihm vorbei in die Küche, um sich selber was zum Trinken zu holen und ließ ihn einfach dumm stehen. Holger schüttelte den Kopf und wunderte sich über ihr Verhalten. Andrea kam zurück und gab im Vorbeigehen Holger einen Kuss auf die Wange. „Ist was?“, fragte sie, beugte sich zu ihrem Mann runter, gab ihm auch einen kurzen Kuss und setzte sich neben ihre Tochter.

Innerlich freute sie sich, dass sie es geschafft hatte, alle Anwesenden zu verwirren.

Auch Dieter kam gut gelaunt ins Zimmer zurück. In den Sachen von Herbert sah er aus, als wenn sie für ihn gemacht worden wären. Man könnte ihn glatt für einen Geschäftsmann halten. Damit hatte Holger nun auch nicht gerechnet.

Was ging in diesem Haus nur vor sich, alle benahmen sich ungewöhnlich, als wenn sie schon seit langer Zeit befreundet seien und sich sogar die Frauen teilten. Holger konnte sich einfach keinen Reim mehr darauf machen.

Dieter bekam den Auftrag, eine Kiste Bier und Cola zu besorgen. Herbert erklärte ihm den Weg zur Tankstelle und gab im 50 Euro aus seiner Geldbörse. Achim wollte noch eine Schachtel Zigaretten, die Dieter versprach, auch noch mitzubringen.

Andrea holte ihren Autoschlüssel und wollte mit ihm zu ihrem Wagen gehen, um ihm zu zeigen, wo die Fernbedienung für das Garagentor lag.

Sie gingen gemeinsam aus dem Haus, was Holger mit Unbehagen verfolgte. Er selber blieb hinter der Haustüre stehen, um Andreas Zurückkommen zu beobachten.

Als die Beiden vor der Garage standen und das Tor nach oben fuhr, erschien vor der Einfahrt ein . Sie winkten Andrea zu und die Frau fragte, „Hallo Andrea, habt ihr Gäste, ich habe dich heute Morgen in der Kirche vermisst.“

Holger rutschte das Herz in die Hose. Sollte jetzt sein ganzer Plan den Bach runter gehen? Auch Dieter stand der Schweiß plötzlich auf der Stirn.

„Wartet nur einen Moment. Ich komm gleich. Muss meinem Bekanten nur schnell was zeigen.“

Das Tor war soweit aufgefahren, dass sie an den Wagen gehen konnten. Andrea zeigte Dieter, hinter welcher Ablage die Bedienung für das Tor lag und ging dann auf das neugierige in der Einfahrt zu.

Dieter ließ den Wagen an und rollte langsam bis vor das Tor. Er hatte einen Spalt das Fenster geöffnet, wartete, dass sich das Tor wieder schloss und versuchte zu hören, was Andrea sagte: „Na ihr Beiden, mal wieder einen Spaziergang gemacht? Wir haben gestern Besuch bekommen, darum konnte ich heute Morgen nicht weg. Wir wollen grillen, aber uns sind leider die Getränke ausgegangen, darum holt unser Bekannter noch eben was.“

„Ach deshalb“, erwiderte die Frau, „dann wünschen wir euch noch viel Spaß und einen schönen Abend!“

Die Frauen umarmten sich kurz, und dem Mann gab Andrea nur die Hand. „Werden wir haben. Man sieht sich … bis die Tage!“

„Bis die Tage“, verabschiedete sich das Paar und ging einfach weiter.

Andrea machte auf dem Absatz kehrt, ging wieder ins Haus und Dieter fuhr los. Als er an dem Ehepaar vorbeifuhr, nickte er ihnen kurz zu, die seinen Gruß erwiderten. Da er der Unterhaltung zugehört hatte, fiel ihm ein Stein vom Herzen.

Holger erwartete Andrea an der Haustüre und schaute sie mal wieder fragend an.

„Waren nur Nachbarn, die drei Häuser weiter wohnen. Hätte ich mich anders verhalten, wäre ihnen womöglich was aufgefallen. War besser so.“ Wieder ließ sie Holger einfach stehen, der immer verwirrter durch ihr Verhalten wurde. War sie von einer Geisel zur Komplizin geworden?

Sie ging durchs Wohnzimmer Richtung Küche und bat Brigitte im Vorbeigehen, ihr bei den Vorbereitungen fürs Grillen zu helfen.

Herbert hatte in der Zwischenzeit schon mal Fleisch und Würstchen besorgt und fragte jetzt Achim, ob er ihm beim Anzünden des Grills helfen würde. So machten sich die Beiden auf den Weg auf die Terrasse.

Holger setzte sich wieder ins Wohnzimmer. Er musste erst mal in Ruhe nachdenken. Dabei beobachtete er die Anderen bei ihren Vorbereitungen. Irgendwas stimmte hier nicht, sie waren Ausbrecher, die in dieses Haus eingedrungen waren. Aber die behandelte sie nicht wie ungebetene Gäste, sondern half ihnen auf ihre Weise, die Situation so angenehm wie möglich zu gestalten. Andrea hatte gerade die allerbeste Möglichkeit gehabt, sie „in die Pfanne zu hauen“, aber genau das Gegenteil hatte sie gemacht.

Es hatte ihm Sorgen bereitet, als er mitbekommen hatte, dass Dieter sie vorhin gefickt hatte. Er hatte damit gerechnet, dass sie ausrastete, wenn Dieter sich an ihr vergreifen würde. Er kannte ja Dieters ordinäre Art, mit Frauen umzugehen. Doch ihr schien es gefallen zu haben.

Auch Herbert hatte mitbekommen, dass seine Frau wohl mal wieder die Beine breit gemacht hatte, aber er hatte es einfach ohne weiteren Kommentar hingenommen. Holger kam aus dem Staunen nicht heraus.

Was hatten diese Veränderungen nur zu bedeuten?

***

Dieter hätte lieber den großen SUV gefahren, aber Holger hatte wie immer Recht, dass er in dem kleinen LUPO nicht so auffallen würde.

Die Tankstelle war durch die gute Wegbeschreibung von Herbert schnell gefunden. Beim Einkaufen achtete keiner auf den Mann in der unauffälligen Kleidung. Dieter bekam mit, wie am Stehtisch sich zwei Gäste beim Kaffee mit dem Tankwart über die Ausbrecher unterhielten. Der eine vertrat die Meinung, dass die bestimmt schon über alle Berge seien. Die beiden Anderen stimmten zu, da die ja einen Fluchtwagen geklaut hätten.

Dieter musste grinsen, was aber sofort erfror, als ihn einer der Gäste ansprach und nach seiner Meinung fragte. Dieter konnte einer Antwort nicht ausweichen und sagte:„Ich glaube, die sind schon im Ausland.“

Alle Drei nickten mit den Köpfen bestätigend, und der andere Gast sagte, „das glaub ich auch.“

Dieter stand in der Zwischenzeit an der Kasse, um seine Einkäufe zu bezahlen und verlangte noch nach einer Schachtel Zigaretten.

„Heute noch was Größeres vor?“, sagte einer der Gäste und deutete auf die beiden Kisten Getränke.

„Wollen grillen, aber die Getränke sind uns ausgegangen“, war die kurze Antwort von Dieter.

„Ja, bei dem Wetter lohnt sich das ja auch“, kam genauso kurz die Bestätigung von dem Mann.

Dieter war froh, aus der Situation herauszukommen. Aber freute sich darüber, dass ihn keiner mit den Ausbrechern in Verbindung brachte. Es stimmt schon, ‚Kleider machen Leute‘, dachte er.

Auf der Rückfahrt hielt er Ausschau nach einer Telefonzelle, aber die schienen in Deutschland ausgestorben zu sein. Er hätte gerne seine Mutter angerufen, aber er konnte keine finden. Dass die Polizei ihren Anschluss überwachen würde, kam dem Tölpel nicht in den Sinn.

So hatte die Bande Glück, dass Dieter nicht angerufen hatte. Er stellte den Wagen wieder in die Garage und trabte mit den Kisten in der Hand zum Eingang, um dort die Schelle zu betätigen.

***

Edgar Schäfer stieg in den gleichen Intercity, in den auch Ingrid Bender gestiegen war. Er hatte sich vorher noch von seinen Kollegen informieren lassen, die Ingrid bis zum Bahnhof beschattet hatten. Er hatte mit einem Kaffee in der Hand am Kiosk mit seinem Partner gewartet.

Der war gleich beim Auftauchen von Ingrid dieser gefolgt, um sich einen Platz im gleichen Abteil wie sie zu suchen. Sie konnte ihn von damals nicht kennen, da er erst seit Kurzem bei der Kripo in Frankfurt war. Er sollte sie im Auge behalten und Schäfer informieren, sollte sie an einem anderen als dem vermuteten Zielbahnhof aussteigen.

Schäfer selber war drei Wagen hinter ihr in den Zug gestiegen. Von den Kollegen wusste er, dass sie mit einem Taxi zum Bahnhof gefahren war, aber keinen weiteren Abstecher mehr gemacht hatte.

Irgendwie sah Ingrid heute anders aus, als wie er sie sonst gesehen hatte. War sonst nicht zu übersehen gewesen, dass sie eine Nutte war, erschien sie heute in einem Outfit, das eher nach einer Geschäftsfrau aussah. Ein elegantes Kostüm mit einem Rock, der bis übers Knie reichte. Zwar sehr körperbetont geschnitten, aber ausgesprochen züchtig. Die hohen Schuhe verstärkten den Eindruck ihrer langen Beine. Auch mit der Schminke hatte sie sich im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gewohnheit auffällig zurückhaltend verhalten.

Wenn sie ihm mal so auf der Straße begegnet wäre, hätte er mit Sicherheit versucht, bei der Frau zu landen.

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