Der Schatten
Es war kurz nach sieben. Er nickte kurz, schob seinen Teller beiseite und erhob sich. Rasch war er an das Fenster getreten und blickte durch das Okular seines Teleskopes.
Er betrachtete keine Himmelserscheinungen. Obwohl — das Zentrum seines Denkens und Handelns war für ihn ein himmelsgleiches Wesen. Ein Wesen, das er bewunderte und begehrte. Er durfte nie wagen, sie kennenzulernen. Er wusste, sie würde sich abgestoßen fühlen.
Und er hatte unbeschreibliche Angst vor dem Zurückgewiesen werden. Deswegen würde er ihr niemals zeigen, was sie für ihn bedeutete.
Auch hatte er Angst, dass sich seine grenzenlose Bewunderung und seine mehr als nur platonische Liebe für sie, bei einer Ablehnung in das Gegenteil verkehren würden.
Er kannte sich nur allzu gut und wusste um seine Fehler. „Krankheit“ hatte es vor kurzem eine Ärztin in der Psychiatrie genannt.
Gegen Krankheiten gab es Tabletten. Aber die halfen in seinem besonderen Fall nie. Sie hinterließen nur ein unbefriedigtes Gefühl der Leere oder zogen eine schwere, bleierne Müdigkeit nach sich.
Und sie stillten auch nicht seinen Trieb. Das wusste er.
Therapie und Gespräche waren ebenso wenig ein adäquates Mittel. Niemand verstand ihn wirklich oder wollte ihn verstehen. Wenn er in den Spiegel sah, erblickte er einen abstoßenden Dämon!
Offene Ablehnung ließ er nicht zu. Er hatte einmal die Kontrolle verloren. Niemals wieder! Das hatte er sich geschworen. Er blieb weiter im Hintergrund!
Er suchte keinen Kontakt. Aber er folgte jedem ihrer Schritte. Eine kleine Aufmerksamkeit, ein Zeichen seiner Gefühle… all das schickte er ihr nicht. Er wusste, dass sie das nur verstören würde. So war er stets unsichtbar. Wie ein Schatten im Sonnenlicht.
Das Licht ging in ihrem Flur an.
Viertel Sieben, pünktlich wie immer.
—
„Was ein Scheißtag!“
Halberschlagen pfefferte sie ihren durchnässten Anorak in die Ecke des Flurs und ärgerte sich nicht nur über den Regen.
Michael wollte einfach nicht einsehen, dass Schluss war. Er war heute im Kindergarten erschienen und hatte eine filmreife Szene hingelegt. Schimpfworte waren gefallen und sogar geschlagen hatte er sie. Die Kinder hatten angefangen zu weinen und die beiden anderen Betreuerinnen waren hilflos. Aber dann war der Vater von Susanne, einem Mädchen aus ihrer Gruppe, eingeschritten und hatte Michael ohne viel Aufhebens an die Luft gesetzt.
Michael war ein feiger, verschlagener Sack. Krankhaft eifersüchtig, doch das stellte sich leider erst nach den ersten Wochen ihrer kurzen und doch viel zu langen Beziehung heraus.
Immer noch innerlich aufgewühlt, entspannte sie sich, als ihr Kleiner an ihrem Bein hochsprang.
Mephisto, ihr anthrazitfarbener Mittelschnauzer, begrüßte sie überschwänglich und freute sich, dass sie wieder zu Hause war. Nach dem Abendessen würde sie wieder kurz mit ihm in das Sauwetter hinaus, einen kleinen Spaziergang absolvieren.
Mephisto war noch nicht ganz der Alte. Die Vergiftung vor drei Wochen hatte ihn verdammt hart mitgenommen. Beinahe hätte er es nicht überlebt. Aber sie hatte eine gute Tierärztin und alle hatten um sein Leben gekämpft.
Wärme und Freude durchströmte sie und sie kniete sich auf den Boden und herzte ihren Hund, der ihre Liebkosungen augenscheinlich zu genießen schien.
Während sie im Kindergarten arbeitete kümmerte sich ihre Mutter um den Hund. Sie konnte und wollte ihrer Mutter wegen der Vergiftung auch keinen Vorwurf machen. Diese hatte den Hund wie immer am Waldrand frei laufen lassen. Ein Mittelschnauzer muss mal toben. Und da muss er wohl auf den Giftköder gestoßen sein.
„Was ein Arschloch.“
Sie hatten kurz nach den Vorfall in den Zeitungen und dem Radio gewarnt. Mehrere Hunde waren nach dem Verschlucken der Köder jämmerlich eingegangen. Ein Schicksal, das Mephisto zum Glück erspart geblieben war.
Sie hoffte, dass die Polizei den Typen bald zu fassen bekam.
Sie stand auf und wandte sich von ihrem ungeduldigen Augenstern gefolgt der Küche zu. Mephisto hatte Hunger. Sie auch.
—
Lächelnd beobachtete er, wie in der Küche das Licht anging und der Pinscher um sie herumtollte und sich offensichtlich auf sein Fressen freute.
Es war schön zu sehen, dass es ihm augenscheinlich besser ging. Der Hund war ihr „Ein und Alles“ und er wusste, es wäre verdammt hart für sie geworden, ihn zu verlieren.
Jeden Morgen lief er seitdem die Stammstrecken der Beiden ab, auf der Suche nach weiteren Giftködern. Ein paar konnte er bereits unschädlich machen und er hatte bereits so eine Ahnung, wer der Hundehasser sein könnte.
Wahrscheinlich war es gar kein Hundehasser im eigentlichen Sinne. Wenn es der war, den er im Sinn hatte, wollte er nur einen bestimmten Hund treffen — Mephisto und mit Mephisto seinen Engel.
Das konnte und das würde er nicht zulassen.
Niemals!
„Was für ein krankes Arschloch!“
Krank, wie er es auch war … aber doch auch irgendwie anders.
Er verließ seinen Platz am Teleskop und wandte sich wieder seinem beiseitegeschobenen Essen zu. Sein Blick wanderte durch sein Wohnzimmer. Vielleicht ein wenig altbacken, aber gemütlich. Er fühlte sich hier wohl und er war vor Allem in der Nähe seiner Angebeteten … Sicher war da ein gewisser und durchaus beabsichtigter Abstand, aber sein kleines Spiegelteleskop überbrückte diese paar hundert Meter mühelos. So war er auch sicher, völlig unbemerkt zu bleiben.
Auf Wissen vor Acht, Wetter und Börse, folgte dann immer die Tagesschau. Während dieser halben Stunde ging sie immer mit Mephisto Gassi, um dann pünktlich zur Spielfilmzeit zurückzukehren.
Er machte es sich bequem. Beim Essen leistete er ihr nur selten „Gesellschaft“. Ebenso mied er die Zeiten, in denen sie sich umzog oder sie im Bad war. Das war für ihn etwas Privates und Persönliches, das er respektierte.
Aber beinahe unbewusst kopierte er nach und nach ihre Abläufe für sich selbst.
„Beinahe!?“
Er musste lächeln, als er sich zum erneuten Male dabei ertappte… Fehlte nur noch der Hund. Er lachte leise. Er liebte Hunde. Aber ein eigener Hund — er würde unter Menschen gehen müssen?! Nein!!!
—
Die Gulaschsuppe aus der Dose war schnell erwärmt und mit einigen Spritzern Tabasco nachgewürzt worden. Eine angenehme Wärme erfüllte sie. Auch Mephisto wirkte zufrieden. Dem allabendlichen Ritual folgend, apportierte er seine Leine aus dem Flur. Stolz tätschelte sie ihm den Kopf und lobte ihn ausgiebig. Sie war unglaublich froh. Er hatte erst vorgestern wieder angefangen, die allabendlichen Spaziergänge einzufordern. Sie wertete dies als Zeichen, dass es ihm zunehmend besser ging.
Sie zog sich wieder an, nahm den begeisterten Mephisto an die Leine und verließ das Haus. Erleichtert stellte sie fest, dass es inzwischen aufgehört hatte zu regnen. Gemeinsam trotteten sie ihren gewohnten Weg.
—
Endlich verließ sie das Haus. Genau darauf hatte er gewartet. Aus dem Dunkeln kommend, begab er sich zur Tür des Mehrfamilienhauses. Beinahe alle Mieter waren über Weihnachten weggefahren und ihre Mutter, die in der unteren Wohnung lebte, war bei ihren Freundinnen zum Bridge.
Niemand war da.
Die passenden beiden Schlüssel hatte er bereits in der Hand. Zweitschlüssel natürlich. Für wie dämlich hielt ihn die Schlampe wohl. Von wegen Schlüssel abgeben.
Sie war eine verfickte Hure. Nicht mehr. Er hatte gedacht, dass sie ihn liebe. Dass er ihr ein und alles sei. Pustekuchen! Sie traf sich weiterhin mit Freunden und sie liebte ihre verhätschelte Tölle mehr als ihn.
Wahrscheinlich besorgte es ihr der Köter auch noch ordentlich.
Hatte sie doch die Stirn, mit ihm Schluss zu machen.
Er würde sie zu sehr einengen?!?
Er!
Windelweich hatte er sie geprügelt. Dann hatte sie einen Anwalt auf ihn gehetzt.
Er war heute zum Kindergarten gefahren um ihr noch einmal eine Chance zu geben. Sie musste doch einsehen, dass sie sich irrte. Und sie musste sich ändern. Stattdessen wollte sie seinen Schlüssel. Um die Ohren gehauen hatte er ihr den verdammten Schlüssel. Dann kam dieser Bär. Hatte ihn einfach an die Luft gesetzt. Dem hatte sie wahrscheinlich auch schon einen gelutscht.
Er war in ihrer Wohnung angekommen.
Typische billig- biedere Flittchenwohnung. Er achtete darauf, kein Licht anzumachen. Sie sollte völlig überrascht werden!
Er stolperte über den Hundekorb und fluchte. Verdammte Tölle. Hat überlebt! Aber heute würde der Drecksköter dran glauben müssen.
Er klappte sein Messer auseinander. Oh, wie würde er sich gleich freuen. Er würde sie ein letztes Mal ficken und dann würde er sie so zurichten, dass kein Mann je mehr etwas von ihr wollen würde.
Nein!
Nicht er!
Sein Messer!
Sein Messer würde sie dann auch ficken. Ob sie dann wieder so ekstatisch schreien würde?
Wahrscheinlich.
Die Tür – sie stand davor. Jetzt schon? Egal. Er war bereit!
—
Er wusste nicht warum, aber sah zwischendurch mal wieder durch sein Teleskop. Die Neuigkeiten aus Afghanistan wollte er keinesfalls hören. Das Licht war noch aus. Gut, dann war der Mephisto wieder auf dem Damm. Er bemerkte einen Schatten im Halbdunkel des Wohnzimmers, der Weihnachtsbaum brannte und er stellte scharf.
—
In der Nähe der Eingangstür lauerte er. Wahrscheinlich würde ihn die Tölle gleich bemerken. Ein gut gezielter Tritt…
Krachend flog die Tür aus dem Rahmen und knallte direkt vor ihm auf den Boden. Erschrocken zuckte er zusammen. Ein riesiger dunkler Schatten flog auf ihn zu und riss ihn von den Beinen. Sein Messer schlitterte quer durch den Flur. Vom Weihnachtsbaum beleuchtet, blickte er in eine zornig verzerrte Teufelsfratze.
Angst.
Todesangst.
Eine Pranke krallte sich um seinen Hals er spürte, wie er hochgehoben wurde, als ob es gar nichts wäre. Dann klirrte eine Scheibe. Er spürte einen scharfen Schmerz im Rücken. Dann fiel er. Sein Blick hing auf dem Fenster und der Teufelsfratze, die es ausfüllte. Es war das Letzte, das er sah.
—
Jeden Tag blickte er mehrfach durch sein Teleskop. Nichts tat sich. Die Polizei hatte umfangreiche Untersuchungen nach dem Todesfall eingeleitet. Aber er wohnte zu weit weg und deswegen hatten sie nicht bei ihm geklingelt. Handwerker waren gekommen und er hatte fast befürchtet, sein Engel würde nie wieder in dieses Haus zurückkehren.
Umso mehr jubelte er, als an nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Licht in der Wohnung anging. Sie war es und sie kam mit ihrem Hund nach Hause. Sie schaute gut aus. Er sah, wie sie nachdenklich das neue Fenster betrachtete.
—
Sie hatte eine Weile nachgedacht. Michael war tot. Er wollte ihr offensichtlich in ihrer Wohnung auflauern und sie umbringen. Die Polizei hatte in Michaels Wohnung Giftköder gefunden und sie hatten Michael auf Grund seiner DNA mit dem Mord an einer Studentin im letzten Jahr in Verbindung gebracht.
Irgendjemand hatte ihn in ihrer Wohnung getötet und sie selbst damit vor dem sicheren Tod bewahrt.
Sie hatte eine Vermutung. Ihre Mutter hatte ihr vor Monaten erzählt, dass ein paar hundert Meter ihrem Haus gegenüberliegend ein junger Bundeswehrveteran eingezogen sei. Völlig entstellt soll der aus Afghanistan zurückgekommen sein. Und außerdem war er wohl auch ein Spanner. So was blieb auf dem Land niemals unbemerkt.
Damals hatte ihr das nichts ausgemacht. Sie bedauerte den armen Kerl. Sollte er sie doch beobachten.
Sie traf spontan eine Entscheidung, umarmte ihren Hund, hob ihn hoch und drehte sich zum Fenster hin. Sie winkte auf Verdacht und lächelte dabei freundlich.
In dem bewussten Haus verlosch schlagartig das Licht.
Nun wusste sie, wem beide demnächst einen lieben Besuch abstatten würden – mit selbstgebackenem Kuchen.