1.
Die Tür zu unserem Abteil öffnet sich für den ersten Schaffner, dem wir auf dieser Fahrt unsere Tickets zeigen. Niedersachsen ist am Ende, nächster Halt Amsterdam. Kaum ist die Tür wieder zu, grinst mich Nicole an.
»Ich glaub das ja immer noch nicht, dass wir tatsächlich unterwegs sind«, sagt sie aufgeregt. Sie sitzt so aufrecht in ihrem Sitz, als hätte sie ein Brett im Rücken. Ihre kurzen dunkelblonden Haare hat sie hinter die Ohren gestrichen. Wenn sie grinst, bekommt sie ganz schmale Augen und einen breiten Mund, die Lippen fest zusammengepresst. Ich denke dabei immer an Meg Ryan.
Unter ihrer dunkelgrünen Windjacke blitzt weiße Schrift auf einem grauen T-Shirt. who killed Laura lese ich. Links fehlt I know und rechts Palmer. Das Bekenntnis des Spielverderbers auf ihrem T-Shirt wird besonders bei den Wörtern who und Laura in die Breite gezogen. T-Shirt. Habe ich genug dabei? Ein wenig zu spät, darüber nachzudenken. Sieben T-Shirts für vier Wochen. Wenn ich jedes T-Shirt zwei Tage anziehe, muss ich erst in Madrid waschen. Bei Unterhosen und Socken passt die gleiche Rechnung. Eine Jeans, zwei Shorts, Badelaken, Händehandtuch, und voll ist der Rucksack.
Im Gang vor den Abteilen trampeln sich die zugestiegenen Fahrgäste beinahe über den Haufen. Nicht wenige tragen große Rücksäcke, Schlafsack oben, Zelt unten, Trinkflasche in der Seitentasche, Schuhe mit den Schnürsenkeln an den Laschen festgebunden.
Vor dem halb heruntergezogen Fenster knattert der Wind. Unseren ersten Tag auf Achse habe ich mir anders vorgestellt, mit Sonne und blauem Himmel, Hitze und Alkohol. Sollten wir nicht ein paar Bier öffnen? Michael hatte versprochen, einen Sechserträger mitzubringen, für jeden ein Bier, um auf die große Fahrt anzustoßen. Doch es scheint, als habe uns der Regen auch die Lust auf Bier vermiest.
»Wir haben es uns auch unheimlich leicht gemacht«, sagt Michael. »So können wir immer die Sechserzimmer in den Jugendherbergen mieten.«
In seiner Stimme liegt unangebrachte Ironie. Er ist schließlich im Dezember als letzter zu unserer Gruppe gestoßen und hat unsere Gruppe erst so groß gemacht. Aber zu fünft hätten wir es auch nicht leichter.
Michael dreht selber, raucht Kette, hält einen Mercedes schlicht für ein Fortbewegungsmittel und schwärmt von der sozialistischen Revolution. Sein Vater ist Abteilungsleiter bei einem der größten Arbeitgeber in Schnedigheim, einem Zulieferer für die Automobilindustrie. Michael hat stets einen blöden Spruch auf den Lippen und lässt seine Hemden immer offen, damit man seine behaarte Brust unter dem tief ausgeschnittenen T-Shirt besser sehen kann.
Manchmal glaube ich, er fährt am Wochenende nach Hamburg in die Hafenstraße und schmeißt zusammen mit Hausbesetzern Steine auf die Polizei. Er hat trotz seines proletenhaften Verhaltens immer etwas Elitäres, Distanziertes.
Er redet nicht viel und in seinem Schweigen erahne ich abgrundtiefe Verachtung für die pubertären Spielchen in unserem Jahrgang. Ich bewundere ihn manchmal für seine Coolness, auch Bastian redet immer mit viel Respekt von Michael, der als einziger in meinem Freundeskreis einen so dichten Bartwuchs hat, dass er sich jeden Tag rasieren müsste.
In diesem Punkt tut er mir ein bisschen leid, aber ich versuche mir diese Abneigung gegen Körperbehaarung nicht anmerken zu lassen. Nur einmal ist mir ein ‚haariger Affe‘ herausgerutscht. Daraufhin habe ich mir von ihm anhören müssen, ich könne mich mit einem trockenen Brötchen rasieren.
Stört mich nicht.
Michael war nie ganz Teil unserer Clique, und es überrascht keinen, dass seine zahlreichen Freundinnen nicht auf unsere Schule gehen.
»Aber es gibt doch kaum Sechserzimmer«, sagt Sonja mit großen Augen. Wieder einmal hat sie ihre mittellangen, dunkelbraunen Haare mit einer silbernen Spange gescheitelt. Braves Mädchen.
Sie hat die Ironie in Michaels Stimme nicht erkannt, aber das ist nichts Neues. Ich halte sie insgeheim für eine naive, dumme Nuss, die sich in der katholischen Dorfjugend engagiert.
Vor einem Jahr wurde der Kontakt zwischen uns enger. Das lag an einem von meinem Biolehrer nur spöttisch Kuppelvirus genannten Phänomen.
Es infizierte kurz nach den Sommerferien unseren Jahrgang. Nicole und Bastian kamen zusammen, Nicoles beste Freundin Bettina und der Rüpel des Jahrganges wurden ein Paar. Und in der zweiten Clique meines Jahrgangs, bei den Strebern, fanden sich ebenfalls zweimal zwei Herzen, selbst ich wurde leider von diesem Virus angesteckt.
Sonja wiederum fand in Tim, einem Freund von Bastian und mir, ihre verlorene Hälfte. Ihr Traummann, unser Traumpärchen. Beide katholisch und aus Dabbergost, einem Kaff vor den Toren unserer Kleinstadt. Dabbergost — wer aus diesem Dorf kommt, kann nur einen Schuss haben. Klingt wie eine Krankheit. Entschuldigung, sagt der Arzt nach der Untersuchung, aber Sie haben Dabbergost.
Jeden Morgen kamen sie mit dem Schulbus, jeden Nachmittag fuhren sie wieder zusammen zurück. In der Folge wurden die Partys, die regelmäßig im Haus von Bastians Eltern stattfinden, um einige Personen erweitert.
Nicole brachte Bettina mit. Ihr Freund, der Rüpel, entpuppte sich nach dem Fall einiger Masken als handzahm. Er war mit dem langhaarigen Musiker unseres Jahrgangs befreundet. Der Musiker kannte Michael. Michael war schwer in Ordnung. Die Kontakte verschränkten, das Netz verdichtete sich.
Der Kuppelvirus grassierte ein Jahr, bis wir nacheinander immun wurden. Die ersten Anzeichen der Resistenz zeigte ich bereits nach einem Monat, anschließend brachen die Beziehungen Schritt für Schritt auseinander. Bettina und Rüpel — Geschichte. Streberherzen — gebrochen. Bastian und Nicole sind die letzten Infizierten, denn kurz vor unserem Interrailurlaub trennten sich auch Tim und Sonja.
Wochenlang erlebten wir eine griechische Tragödie auf dem Schulhof. Tränen, Flehen, Flüstern, die Kann-ich-dich-mal-sprechen-Frage, die Partys, auf denen Tim stundenlang mit Sonja im Garten stand und sich anhörte, was er nicht wissen wollte. Hoffnung in Sonjas Augen, Distanz in Tims Blick, und die ersten blöden Witze über sie. Wir waren dennoch in dieser Konstellation losgefahren.
Tim war schließlich unser Freund, ohne den wir nicht fahren wollten. Ohne Tim, der sich zwei Wochen vor der Fahrt den linken Arm gebrochen hat und auf der Reise einen leichten, unkomplizierten Gips um den Unterarm trägt, blättert in einem Buch von T.C Boyle, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Wir finden, dass er sich damit von seinem Vater abgrenzen will, dem Autoverkäufer, dem Proleten. Sein größtes Ziel ist ein Medizin- oder Jurastudium in Hannover mit dem Geld seines Vaters. Bastian betont gerne, dass Tims Unterhose mehr kostet als mein gesamtes Outfit.
»Das war ein Scherz, Sonja«, sagt Tim, schlägt sich mit der freien Hand an die Stirn und zieht eine Grimasse.
»Dafür gibt es Sechserabteile, vor allem in Schlafwagen. Ist doch super«, sagt Bastian. So kenne ich ihn. Loyal, nie auf Streit aus. Lange Jahre war Bastian mein einziger Verbündeter. Immer auf der Suche nach dem Mädchen, das ihm gefiel und dem er sich anvertrauen konnte. Genauso erfolglos wie ich, genauso wählerisch, genauso einsam.
Zusammen gehen wir jede Woche ins Kino oder gucken nächtelang Video. Anschließend reden wir nicht über die Filme, das brauchen wir nicht. Wir verstehen uns wortlos. Meine Mutter kam einmal sogar in mein Zimmer, um zu sehen, was wir so trieben. Nichts, natürlich, außer Video gucken. So ein Quatsch, als ob ich jemals mit Bastian irgendetwas treiben würde.
Ich mag Bastian wie einen Bruder.
Wir waren eines Abends bei Tim auf einer Party und hatten die Nacht durchgemacht. Morgens saßen wir im Arbeitszimmer von Tims Vater auf unseren Schlafsäcken und quatschten über Mädchen. Wir hatten beide Beulen in den Unterhosen. Nichts passierte. Was wir so treiben. So ein Quatsch. Wir waren Leidensgenossen. Mehr nicht.
Bis zu dem Sommer vor einem Jahr, als er Nicole fand. Sie wohnt bei ihm um die Ecke. Das ist sehr bequem. Manchmal glaube ich, diese Bequemlichkeit spielt eine größere Rolle als ihr Charakter, ihr Aussehen oder ihre Liebe. Aber das streitet Bastian ab. Nur einmal hat er mir nach einer dieser Fragen Neid vorgeworfen, weil er eine Freundin hat und ich nicht. Dabei gönne ich ihm sein Glück mit Nicole wirklich.
Der Zug rattert über eine Weiche, schwankt, lärmt. Jemand reißt die Tür zum Abteil auf. Ein verpeilt aussehender Typ mit langen Haaren und Grungebart lässt seinen Blick über die sechs belegten Plätze gleiten. Wie zugedröhnt musst du sein, um nicht schon vom Gang aus zu sehen, dass hier kein Platz mehr ist. Wortlos schließt er die Tür wieder, zu schwungvoll, denn sie springt wieder auf. Im Gang raucht jemand. Bastian beschwert sich und zieht die Abteiltür zu.
Ich habe nicht gedacht, dass wir mal zusammen in den Urlaub fahren. Doch es ist die einzige Rettung in diesem Sommer. 31 Tage lang muss ich nicht die Stufen zu unserer kleinen Wohnung in der vierten Etage in der hässlichsten Wohnsiedlung von Schnedigheim nehmen, mich nicht in mein schmales Bett legen, meiner Mutter nicht beim Heulen in der Küche zuhören.
Der letzte Urlaub mit meiner Mutter war ein Alptraum. Wir haben meine Großeltern besucht, letzten Sommer. Nur sie und ich, und zuhause wartete die Austauschschülerin von Nicole, eine niedliche Französin, die mich so sehr fasziniert hatte, wie kein fremder Mensch zuvor, der ich auf einer Party in den ersten Ferientagen die Frage stellte, was Cul hieße, Teil des Titels eines Film von Roman Polanski, und Sonja, die immer besser Französisch sprach und Francoise, die Austauschschülerin, kicherten verlegen.
Ich weiß, wie ich überrascht zurücklächelte. Ob ich keine Ahnung habe, was es bedeuten könne, und ich sagte, der Rest des Titels laute de Sac, Cul des Sac, und die beiden lachten, nicht verlegen sondern freundlich.
»Das heißt Sackgasse«, sagte Francoise. »Und Cul alleine heißt Hintern.«
Als ich rot wurde, lachten Sonja und Francoise wieder. Meine Mutter machte mit diesem blöden Trip zu meinen Großeltern nach München alles kaputt. Als ich zurück kam, war Francoise wieder in ihrer Heimat und ich um eine Chance ärmer. Nie wieder fahre ich mit meiner Mutter in den Urlaub, ich werde sie nicht einmal anrufen, ich werde ihr einen Brief schreiben und sie bitten, mich in Ruhe zu lassen.
Der Zug rattert unruhig über eine Weiche. Vor dem Fenster huscht eine Landschaft vorbei, regennass, dunkelgrün, satt und von Zäunen begrenzt. Ab und zu ein rotes Haus. Kulissen, ohne Tiefe, abgetrennt von einer dünnen Scheibe aus Glas, durch die du alles sehen und nichts anfassen kannst. Dir bleibt, zu staunen und dich von dem, was du siehst, erregen zu lassen.
»Was erwartet ihr von diesem Urlaub?«, fragt Nicole grinsend. Ich will irgendetwas Kluges antworten, aber mir fällt so schnell nichts ein. Ein Ticket und ein Rahmenplan: Fünf Länder in vier Wochen. Was erwarte ich? Was? Anzukommen?
»Ich erwarte, dass ihr euch benehmt«, sagt Michael ungerührt und holt ohne aufzusehen aus seiner Jackentasche einen Beutel Tabak. Tim prustet vor Lachen. Ach, ich wäre gerne so cool wie Michael.
»Nee, jetzt mal ehrlich, was erwartet ihr?«
Bastian kratzt sich am Kopf. »Kannst du nicht einmal versuchen, weniger gezwungen tiefsinnig zu sein?«
»Du bist so blöd.« Nicole wirft trotzig den Kopf nach hinten Sie hat ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, was sich besonders bei ihren großen Titten bemerkbar macht, aber Bastian scheint das zu mögen, jedenfalls hat er sich noch nie abfällig über ihr Gewicht geäußert. Für mich wäre das nichts. .»Also, ich will, dass wir uns bis zum Schluss gut verstehen.«
Sonja nestelt an ihrem Pullover. »Ich will neue Eindrücke gewinnen.«
»Ich erwarte, dass ihr mein Zelt nicht ruiniert…«
»…weil es deinem Nachbarn gehört, ich weiß«, sage ich. Das hat er mindestens drei Mal erzählt. Wer soll schon sein Zelt kaputt machen?
»Ich hab gehört, dass in italienischen Zügen das Gepäck aus dem Zug geworfen wird, nachdem es ausgeplündert wurde.«
Tim winkt ab. »Nicole, du liest zu viel Mumpitz. Mach dir keine Sorgen.«
Michael wickelt Tabak ein, leckt das Papier der Länge nach an und rollt es zu einer perfekten Röhre. »Außerdem fahren wir überhaupt nicht nach Italien.«
Wohin fahren wir? Haben wir überhaupt ein Ziel? Oder wollen wir nur unterwegs sein, ohne anzukommen. Wenn überhaupt jemand ein Ziel hat, bin ich das. Aber das muss ich ihnen nicht erzählen. Vielleicht weiß ich es auch selbst nicht.
»Wollen wir eigentlich ins Disneyland?«, fragt Nicole. Ich habe davon gelesen, es hat erst seit ein paar Wochen geöffnet. Die Feier war überall in den Medien. Kulturimperialismus, und das auch noch in Frankreich. Wieso eigentlich nicht Frankreich? In der Mitte Europas?
Sonja ist nicht begeistert. Ich hätte nichts dagegen. Ein großer Spielplatz voll mit Micky-Maus-Figuren. Das hört sich doch aufregend an. Vielleicht auf dem Rückweg, beschließen wir.
Was erwartest du? Ich erwarte eine Antwort, erwarte, dass ich Frieden finde, einen Ausweg aus meiner Sackgasse. Ich erwarte Freiheit. Und ein wenig freue ich mich auf das Unbekannte.
Ich freue mich darauf, meinen Big Mac bald in Gulden, Francs, Peseta und Escudo zu bezahlen und meine Unterschrift auf Rechnungen in Französisch, Spanisch und Portugiesisch zu setzen. Hoffentlich kann ich mit meiner brandneuen EC-Karte problemlos Geld aus den Automaten in Amsterdam, Paris, Madrid und Lissabon ziehen.
2.
Die Bremsen quietschen erst wieder in Amsterdam, gerade als die Wolkendecke aufbricht und Sonnenstrahlen durchlässt. Keine Zeit zum Nachdenken. Mein Rucksack ist so leicht wie eine Feder. Auf dem Vorplatz des Bahnhofes mache ich den ersten Schritt in die große, weite Interrail-Welt. Ich bin wacher als sonst, meine Augen gieren nach Licht. Nur in meinem Hinterkopf schwirrt plötzlich der Name eines Platzes herum wie eine hektische Stubenfliege an einer schmutzigen Fensterscheibe: Leidseplein.
Vor ein paar Jahren las ich auf dem Cover eines Pornos, dass sich auf dem Leidseplein die Schwulen treffen, um sich gegenseitig in den Arsch zu ficken. Leidseplein, der Ort für Schwule, käuflichen Sex, ausgelebte erotische Fantasien. Jetzt bin ich diesem Ort näher, als jemals gedacht. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Amsterdam mache ich einen großen Schritt in eine neue, nie gedachte Fantasiewelt.
Der erste Geldautomat spuckt holländische Gulden aus. Ich hebe Geld für Sonja ab, die ihre Urlaubskasse auf mein Konto eingezahlt hat. Ich hätte im Gegensatz zu ihr eine EC-Karte, zudem doch auch bestimmt nichts dagegen und keinen besseren Vorschlag. Dumme Nuss. Keine eigene EC-Karte.
Der Wind fegt unangenehm kühl über den Bahnhofsvorplatz, über den unablässig Straßenbahnen rumpeln. Ein Sommerurlaub fühlt sich anders an. Bastian schimpft auf seinen Schlafsack, der immer wieder von seinem Rucksack rutscht. Tim fragt, wer ihm den Ghettoblaster abnehmen kann. Wenn wir nicht nur Phillip Boa und New Model Army hören würden, täte ich es. Geht aber nicht, weil ich keine Kassetten dabei habe.
Michael will direkt zum ersten Coffeeshop, Tim auch, die anderen zur Jugendherberge. Michael und Tim haben das Nachsehen. Die zweite Entscheidung: Einzelfahrten? Tageskarte? Gruppenticket?
Nicole will ein Tagesticket für 10 Gulden kaufen, um nicht zu viel zu Fuß gehen zu müssen. Tim hält die Distanzen zwischen Museum, Kanälen und Herberge für zu kurz, um mit der Straßenbahn zu fahren. Mir ist es egal, Bastian auch, Michael denkt an die Urlaubskasse, Sonja sowieso. Tim setzt sich durch. Einfache Fahrt.
Eine Straßenbahn trägt uns zur Jugendherberge am Vondelpark. Kein Familienzimmer verfügbar, wir müssen mit Etagenbetten im Schlafsaal vorlieb nehmen. Kiffen ist auch im Bistro nicht gestattet. Pizza hat für Michael und Tim nur zweite Priorität.
»Erst ne Runde absoften«, sagt Tim. Fahrig wischt er sich mit der Gipshand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er wirkt gehetzt.
»Und dann langsam um die Ecke ditschen«, ergänzt Michael. Er raucht gelassen eine Selbstgedrehte.
Links Kanal, rechts Fahrradweg, Touristen queren, die Stadt ist voller Autos mit Parkkrallen, Brücken, Kontorhäuser, Verkehrsschilder auf Holländisch. Bastian und Nicole motzen sich an.
Sie sind seit fast einem Jahr zusammen, seine erste richtige Freundin für mehr als Händchenhalten, mehr als Rumknutschen, für den ersten Sex. Zu Beginn war ich mehr als eifersüchtig, denn Nicole ist auf eine merkwürdige unregelmäßige Weise hübsch. Manchmal gefällt mir ihr breites, augenloses Grinsen, sehe ich ihre bemerkenswert großen Titten, die bei jedem Schritt auf und ab wippen. Doch wenn ich wichsend vor meinem Bett knie, denke ich nie an Nicole.
Ihr leichtes Übergewicht, ihre spröde Art, ihre kurzgeschnittene, blondierten Haare und die vielen Leberflecke auf den Armen sind nicht Teil meines Traums. Ansonsten komme ich sehr gut mit Nicole aus und rede ich gerne mit ihr. Mich regt nur manchmal auf, dass sie nicht sofort versteht, wovon ich rede. Aber wer tut das schon. Vielleicht drücke ich mich auch immer zu undeutlich aus. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass ich nichts zu sagen habe.
Bastians ständiges Problem ist, wie er mir unter der Hand gerne erzählt, Nicole zu verstehen, doch besonders rätselhaft bleibt ihm, warum sich Nicole im Herbst den Spaß an Twin Peaks verdorben und zu Beginn der Serie auf der Teletext-Seite von SAT.1 den Namen des Mörders nachgelesen hat.
Nicht selten hat sie Bastian im letzten Herbst aus der Reserve gelockt, indem sie ihm immer wieder androhte, den Namen des Mörders laut auszusprechen. Und jeden Freitagabend um Viertel nach Neun hoffte ich, sie würde es wenigstens erst tun, wenn sie alleine waren. Zur Beginn der zweiten Staffel verriet sie es ihm schließlich, und weil Bastian nicht alleine leiden wollte, trompetete er den Namen gleich im Anschluss aus. Es war ein verdammt mieser Herbst.
Neben mir zupft Sonja Fäden aus ihrem Pulli. Zwischen jedem Faden ein Blick zu Tim. Seinem Vater gehört eine Reihe von gut laufenden Autohäusern in der Provinz. Volkswagen ist für ihn keine Marke wie die anderen, es ist eine Lebenseinstellung. Ein Automobil für den bodenständigen Mann.
Er pilgert nach Wolfsburg und betet jeden Sonntag in der Dorfkirche. Doch sein heimlicher Götze ist der Mammon. Ich mag seinen Vater nicht, einen lauten, ziemlich übergewichtigen Mann mit einem zu großen Selbstbewusstsein, eine Mischung aus Helmut Kohl und Dieter Thomas Heck. Zum 18. Geburtstag hat er Tim einen nagelneuen Golf III geschenkt. Für Tim eine Selbstverständlichkeit. Seitdem kommt er nicht mehr mit dem Bus zur Schule. Nicht mehr mit Sonja. Bastian und ich sehen da einen Zusammenhang.
Tim und Michael sind immer zwei schnelle Schritte voraus. Schwarzer Afghane oder Roter Libanese oder doch lieber Gras – sie werden aufgeregter, je näher wir einem Coffeeshop kommen. Die Tür zum Paradies, zwei Kinder im Spielzeugladen, das Schlaraffenland.
Vierzig Gulden später sitzen wir in einem Touristenrestaurant. Das erste Mal gehen wir in einem Restaurant essen. Und nachdem wir die Rechnung gesehen haben vermutlich auch das letzte Mal. Für Interrailer viel zu teuer. Allein die Getränke kosten das Doppelte dessen, was wir zuhause dafür bezahlen.
Im Vondelpark vor der Herberge dreht Michael den ersten Joint meines Lebens. Dazu klebt er drei Blättchen aus seinem Zigarettenpapier zusammen, rollt aus einem Stück Pappe einen Filter und legt feingeschnittenen Tabak in die Rinne. Mit dem Feuerzeug erhitzt er das Haschisch.
Ein würziger Duft breitet sich aus. Niemand im Park nimmt Notiz von uns, obwohl wir wissen, dass öffentliches Kiffen nicht erlaubt ist. Schließlich leckt er die Klebefläche des Blättchens an und rollt den Joint zusammen, zwirbelt sogar die Spitze zwischen den Fingern. Ein Bild von einem Joint. Mein Herz klopft aufgeregt. Michael und Tim erklären, wie es geht.
Rauch in die Mundhöhle saugen. Mund öffnen, dann erst einatmen. Ganz tief. Ich muss nicht husten. Stattdessen fliegen mir beinahe die Augen aus dem Schädel. Der Joint kreist. Nicole nimmt einen Zug, Bastian, Tim, Sonja nicht, dann Michael und wieder ich. Aus dem Ghettoblaster dröhnt Phillip Boa, live im Exil on Valletta Street. Was immer das auch heißt. Das Gras in meiner Hand ändert plötzlich seine Struktur. Die Vögel in den Bäumen werden laut. Ich spüre ein Kitzeln in meinem Bauch. Michael grinst unter seiner Kapuze.
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