(von Capitano Rigor)
„Ist der Platz dort noch frei?“
Wenn man am Freitagnachmittag mit dem Zug fahren muss, kann man froh sein, überhaupt einen Sitzplatz zu ergattern. Und da die meisten Leute heute Großraumwagen bevorzugen, hat man in den Abteilen noch eher eine Chance. Allerdings ist man dort längere Zeit eng mit Leuten zusammen, die man sich nicht aussuchen kann. Als einzige Frau mit fünf fremden Männern? Na ja, die werden ja wohl nicht über mich herfallen. Ehe ich bis Berlin stehen muss, ist dies die bessere Wahl.
„Ich denke, ja“, antwortet der seriöse Mann, der an der Abteiltür sitzt. Als ich ihn nur kurz ansehe, spüre ich sofort seine außergewöhnliche Ausstrahlung. Rein äußerlich wirkt er eher unauffällig. Er mag Mitte vierzig sein, sein kurzes Haar weist schon größere kahle Stellen auf. In seinem ebenfalls kurz geschnittenen Bart schimmert etwas Silbriges. Sein grauer Anzug deutet auf einen Job im mittleren Management hin. Aber er hat ein ausgeprägtes Charisma und strahlt Souveränität und Zuverlässigkeit aus. Ein Mensch, der allein durch seine Anwesenheit seine Umgebung beeinflussen kann. Jemand, der nicht um Vertrauen werben braucht, weil man es ihm gerne schenkt. Ein Mensch aber auch, der weiß, was er will und sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt.
Neben ihm sitzt ein junger Mann mit längeren Haaren, wahrscheinlich ein Student, während der am Fenster einen so typisch militärischen Haarschnitt hat, dass ich ihn sofort für einen Soldaten halte. Vielleicht auch, weil der ihm gegenüber den oliv-scheckigen Feldanzug des Heeres trägt. Zwischen diesen und einen zweiten offensichtlichen Studenten setze ich mich, nachdem ich meinen großen Trolly im Gang vor dem Abteil abgestellt habe.
„Wollen Sie den Koffer dort stehen lassen?“ fragt der Herr im grauen Anzug. „Hier oben ist noch genug Platz“, weist er auf die Gepäckablage. „Der ist zu schwer, den bekomme ich nicht dort hinauf“, erkläre ich. „Vielleicht ist einer der jungen Herren bereit, Ihnen zu helfen?“ entgegnet er.
Sein Charisma wirkt auch auf die jungen Männer. Der Student neben mir steht auf und holt den Koffer. Als er ihn in die Ablage heben will, merkt er, dass ich mit dem Gewicht nicht übertrieben habe. Der Soldat springt hinzu und hilft ihm.
„Es gibt ja doch noch Kavaliere“, bedanke ich mich. „Jetzt hoffe ich nur, dass ich in Berlin jemanden finde, der mir den Koffer wieder herunterholt.“
Der Herr schmunzelt: „Ich glaube, wir alle fahren nach Berlin. Wenn Sie auch nett zu uns sind, werden wir Sie mit dem Koffer nicht alleine lassen.“
„Warum sollte ich nicht nett zu ihnen sein?“
„Das denke ich auch.“
Mit dieser etwas seltsamen Bemerkung kommt das Gespräch zum Erliegen. Der Herr widmet sich seinen Unterlagen, die beiden Studenten blättern in dicken Büchern. Die Soldaten unterhalten sich über einen unangenehmen Vorgesetzten.
Es ist mir schon ein wenig unangenehm, als einzige Frau mit fünf fremden Männern hier im Abteil. Die Blicke auf meine Beine waren schon recht eindeutig. Die hohen Pumps und das kurze Kleid bringen sie ja auch gut zur Geltung. Auch der tiefe Ausschnitt des ärmellosen Sommerkleides scheint die Männer zu interessieren. Aber die Anwesenheit des Herrn schräg gegenüber gibt mir Sicherheit, ja sogar ein gewisses Gefühl von Geborgenheit. Es ist schon erstaunlich, dass es solche Menschen gibt. Ganz offensichtlich wirkt seine natürliche Autorität nicht nur auf mich, sondern auch auf die jungen Männer. Die Atmosphäre im Abteil ist entspannt, fast familiär. Selbst das Gespräch der Soldaten hat nicht die Lautstärke, die oft bei Leuten üblich ist, die die ganze Woche über nur den Kasernenhofton hören. Und auch ihre Ausdrucksweise ist für das Thema verhältnismäßig anständig.
Dieser Mann ist wirklich außergewöhnlich. Ich stelle ihn mir als Abteilungsleiter vor, als meinen Chef. Ein Chef, der die Ziele und Prioritäten nicht häufiger ändert als er die Hemden wechselt. Der nicht nur redet, sondern handelt. Der zuhört, wenn man mit ihm spricht und auch versteht, was man sagt. Der auch gegenüber der Geschäftsleitung eine konsequente Haltung vertritt. So sehe ich ihn, obwohl ich ihn eigentlich gar nicht kenne. Aber seine Haltung, sein Blick und die Klarheit der wenigen Worte, die er gesprochen hat, sagen viel über ihn aus. Schade, dass man solchen Menschen nicht häufiger begegnet.
Ich greife zu dem Liebesroman, den ich für die Reise eingepackt habe. Bald bin ich völlig darin vertieft und vergesse darüber, dass ich hier mit fünf fremden Männern in einem Zugabteil sitze, so sehr identifiziere ich mich mit Ramona, der Hauptfigur des Buches.
„Die Zugestiegenen bitte die Fahrausweise.“ Nachdem der Schaffner meine Fahrkarte kontrolliert hat, schließt der Herr mit dem Charisma die Abteiltür und die Vorhänge. „Dann sind wir ungestört“, erklärt er.
Ich versenke mich wieder in mein Buch und liebe und leide mit Ramona. Wie intensiv man bei ungestörter Lektüre eines Buches in eine imaginäre Welt eintauchen kann! Doch leider hat auch die schönste Story ein Ende. Als ich das Buch beiseite lege, merke ich, wie warm mir ist. Vielleicht liegt das an der heißen Geschichte, denke ich, als ich den Herrn in seinem grauen Anzug sehe. Oder den Soldaten im Feldanzug. Und ich sitze hier im kurzen, ärmellosen Sommerkleid, ohne Strümpfe, die nackten Füße in leichten Pumps.
„Kann man die Klimaanlage etwas kälter einstellen?“ Auf meine Frage ernte ich etwas erstaunte Blicke, bekomme aber keine Antwort. „Finden Sie, dass es hier zu warm ist?“ fragt der Herr nach einer kurzen Pause in die Runde. Allgemeines Kopfschütteln. „Natürlich kann man die Klimaanlage herunterregeln, aber warum sollten wir frieren?“
„Das muss nicht sein, wenn nur ich es als zu warm empfinde.“
„Vielleicht haben Sie zuviel innere Hitze“, schaltet sich einer der Studenten ein. „Oder zu heiße Gedanken?“ witzelt der Uniformierte.
„Das würde ich eher bei Ihnen vermuten, Herr Obergefreiter.“ Die direkte Ansprache durch den Herrn weist ihn sofort in die Schranken. Ich merke, dass alle Männer mich von oben bis unten mustern. Ich fühle mich fast nackt in meinem sommerlichen Aufzug.
„Dass einem bei der Kleidung noch zu warm sein kann“, wundert sich ein Student. „Vielleicht haben wir einen neuen Hauptsatz der Thermodynamik entdeckt!“ vermutet der andere, wohl ein Physiker.
„Wenn der Prophet nicht zum Berg geht, muss eben der Berg zum Propheten kommen“, philosophiert der Herr.
„Wie meinen Sie das?“
„Es gibt immer zwei Wege, die zwar genau entgegengesetzt sind, am Ende aber zum gleichen Ergebnis führen.“
„Und was heißt das konkret?“ will ich wissen.
„Nun, Ihnen ist zu warm. Wenn wir die Temperatur nicht herunter regeln wollen, haben Sie noch eine andere Möglichkeit, sich Abkühlung zu verschaffen.“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Und uneigentlich? Ich sehe eine.“
„Aber…“ Der Gedanke verschlägt mir fast die Sprache. Wieder mustern mich die Männer. Ich empfinde die Blicke der jüngeren als begehrend, fast lüstern. Der würdevolle Blick des Herrn dagegen scheint etwas verschmitzt, zeigt aber ein ehrliches Interesse. Wenn nur er es wäre, würde ich ja vielleicht…
Tausend Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Bestimmt würde es mir nicht helfen, mich auszuziehen. Vermutlich würde mir noch heißer werden. Ich kann mich doch hier nicht halbnackt präsentieren. Aber ganz tief im Unterbewusstsein bin ich froh, dass ich mich heute spontan für den schicken roten BH mit dem passenden String entschieden habe. Ich wusste nicht, warum.
Als ich heute Morgen aufbrach, wollte ich zuerst die bequemen, flachen Sandalen anziehen. Im Schuhschrank sah ich dann die Pumps und dachte, dass dies doch die bessere Fußbekleidung für einen Besuch in der Hauptstadt sei. Plötzlich kam mir dann noch eine Idee und ich lief zurück ins Schlafzimmer. Eilig zog ich das Kleid aus und holte die neue rote Wäschegarnitur aus der Kommode. Schnell hatte ich BH und Slip getauscht und stand nun zufrieden vor dem großen Spiegel: schwarze Pumps, rotes Höschen und BH, goldblonde Haare. Die Farben der Flagge für den Berlin-Besuch. Ein netter Gag. Schade, dachte ich noch, dass es niemand sehen würde. Zufrieden sah ich auch meine Figur im Spiegel. Die hohen Pumps und der knappe String ließen meine Beine noch länger wirken, die Taille makellos schlank, aus dem BH lugte ein volles Dekolletee hervor. Nun, mit fünfundzwanzig sollte man schon gut aussehen, aber ich denke, dass ich wirklich einen sehr attraktiven Körper habe. Auch meine Freundinnen bestätigen das nicht ganz ohne Neid.
Auch die begehrenden Blicke der fünf Männer hier im Zugabteil scheinen meine Attraktivität zu bestätigen. Fünf Männer, und ich als einzige Frau! Mich erfüllt eine prickelnde Spannung zwischen Ausgeliefertsein und Geborgenheit. Wenn nur der Herr hier wäre, würde sicher das positive Gefühl überwiegen und ich würde selig seufzend seinem Wunsch nachgeben. Vor ihm geniere ich mich nicht, aber vor den anderen ist es mir sehr peinlich. Und wenn der Schaffner hereinkommt, oder sonst irgendjemand?
„Sie hatten doch versprochen, nett zu uns zu sein.“ Das klingt nett, ganz sachlich, ohne Vorwurf. Er hat es nicht nötig, mir damit zu drohen, mich mit dem Koffer dort oben im Zug alleine zu lassen.
„Nicht dass du nachher in Berlin ohne Koffer aussteigen musst!“ ruft der Soldat in Zivil.
„Diesen Preis hatten wir nicht vereinbart. Wenn Sie der jungen Dame nachher nicht mit dem Koffer helfen wollen, werde ich es tun.“
Wieder hat er mit klaren Worten dem Angriff die Spitze genommen und dem Soldaten seine Grenzen aufgezeigt. Welch eine machtvolle Wirkung hat er durch seine Persönlichkeit auf andere Menschen — auch auf mich.
„Wir stellen keine Bedingungen. Wir bitten nur, uns einen Gefallen zu tun. Ich kann verstehen, wenn Sie uns diesen nicht erfüllen wollen. Dennoch werden wir Ihnen auch künftig helfen.“
Wieder erfüllt Stille das Abteil. Jetzt liegt die Entscheidung allein bei mir. Und kein Wort wird dieser mehr voraufgehen. Keiner spricht, aber alle sehen mich an. Ich ahne, wenn ich jetzt wieder zu meinem Buch greife, wird die Fahrt wie bisher ruhig weitergehen. Man wird mir keinen Vorwurf machen. Wer sollte mir auch vorwerfen, dass ich das unerhörte Verlangen nicht erfülle? Aber will ich vielleicht auch einmal etwas so Aufregendes erleben, wie ich es sonst nur in Romanen lese?
Ich sehe in der peinlichen Aufforderung nicht mehr nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance. Eine Gelegenheit, dem Herrn zu zeigen, wie sehr er mich beeindruckt und dass ich ihm völlig vertraue. Er ist es wert. Darüber hinaus auch eine Möglichkeit, mir selbst zu bestätigen, dass ich nicht an Konventionen klebe. Meine Fraulichkeit zu beweisen.
Das Schweigen scheint endlos zu werden, die Spannung ist fast physisch spürbar. Wie werden die Männer reagieren, wenn ich jetzt einwillige? Egal, der Herr wird die Situation unter Kontrolle behalten.
Langsam ziehe ich den Reißverschluss des Kleides herunter, bereit, ihn beim kleinsten Beifallslaut sofort wieder zu schließen. Aber niemand sagt ein Wort. Ich glaube, wenn jetzt Jubel ertönt wäre, hätte ich mich sofort wieder angezogen. Gespannte Stille herrscht im Abteil. Die Ausstrahlung des Herrn hält die Emotionen im Zaum. Ich ziehe das Kleid aus und sitze im BH und String vor den Männern, an den Füßen noch die Pumps. Eigentlich nicht weniger, als ich auch am Strand trage.
Jetzt erscheint es mir schon gar nicht mehr so verrückt, was ich hier tue. Der Herr nimmt mir das Kleid ab, faltet es sauber zusammen und legt es vorsichtig auf einen Koffer. „Wir wollen ja nicht, dass Sie verknittert durch Berlin laufen müssen.“
Fast ein wenig enttäuscht hatte ich heute Morgen das bunte Sommerkleid wieder übergezogen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich meinen Körper heute so öffentlich zeigen würde. Aber das tue ich auch mit einem gewissen Stolz. Dennoch kommen mir jetzt leise Zweifel, ob es richtig ist, was ich tue. Ich liefere mich fremden Menschen aus, weil ich einem Mann vertraue, den ich genauso wenig kenne. Wie sehr hat er die Situation wirklich im Griff? Kann diese starke Persönlichkeit mich wirklich vor dem Begehren der jüngeren Männer schützen?
Ich sehe in sein Gesicht, das mir offen und freundlich zugewendet ist. In seinem Blick sehe Dankbarkeit und Bewunderung. Er sieht mich nicht als Exhibitionistin oder gar als Hure. Ich glaube, in seiner Achtung bin ich durch meine Bereitschaft enorm gestiegen. Das tut seiner Seriosität keinen Abbruch. Im Gegenteil, seine Anerkennung hebt mein unkonventionelles Verhalten auf eine Ebene hohen sozialen Ansehens.
Ich betrachte die anderen Männer um mich herum. Ihre Erregung ist deutlich zu erkennen. Alles andere hätte mich auch sehr überrascht. Die beiden neben mir sitzenden haben die Beine jeweils so übereinander geschlagen, dass der nicht aufgestellte Fuß mir zugewendet ist. Der Student mir gegenüber sucht mit ausgestreckten Füßen ganz offensichtlich auch körperliche Nähe. Die beiden auf den Randplätzen der gegenüberliegenden Seite haben es etwas schwerer, mir unauffällig nahe zu kommen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass der Herr das auch gar nicht versucht. Er hat es wirklich nicht nötig. Wenn er meine Nähe sucht, braucht er es mir nur zu sagen.
Eine Weile fahren wir so schweigend weiter. Die Soldaten haben ihr Gespräch unterbrochen, die Studenten ihre Bücher beiseite gelegt. Auch der Herr blättert nicht mehr in seinen Unterlagen, die jetzt auf seinem Schoß liegen. Immer noch erfüllt eine atemlose Spannung das Abteil. Wie wird sich die Situation weiter entwickeln? Immerhin fährt der Zug noch mehrere Stunden ohne Halt bis Berlin durch. Ich habe mich meinen Reisegefährten präsentiert und sie haben nun alle Zeit der Welt, das auszunutzen, wenn sie wollen. Aber nicht alles mit mir zu machen, was sie wollen, sondern nur was der seriöse Herr zulässt.
Allmählich werde ich etwas unsicher. Am liebsten würde ich jetzt doch mein Kleid wieder herunterholen und anziehen. Aber wie würde der Herr darauf reagieren? Vielleicht sollte ich mich mit meinem Buch ablenken, aber ich habe es schon ausgelesen. Ich setze mich ganz gerade hin, lehne mich wieder zurück; meine Hände rutschen von den Armlehnen auf meine Oberschenkel und wieder zurück. Dann verschränke ich die Arme etwas unbeholfen vor der Brust, worauf der Herr kurz irritiert eine Augenbraue hochzieht. Sofort lasse ich die Hände wieder auf die Armlehnen sinken. Ganz ungewollt krallen sich die Finger um den Kunststoff. Als ich es merke, atme ich tief durch und versuche mich zu lockern. Aber ohne dass ich es steuern kann fahren meine Hände wieder nervös hin und her.
Dem Herrn ist meine Unruhe nicht entgangen. Er hat mich wohl die ganze Zeit beobachtet. Und ich glaube, im Gegensatz zu den anderen, die nur meinen Körper bestaunen, betrachtet er mich ganzheitlich als Mensch. Er lächelt mir freundlich und aufmunternd zu.
„Mit dem großen Knopf an der linken Armlehne können Sie ihren Sitz in eine bequemere Schräglage bringen.“ Wie wohltuend. Es waren die ersten Worte überhaupt, seit ich mich ausgezogen habe. Der Klang seiner Stimme nimmt der Situation die inzwischen fast unerträgliche Spannung.
Ich befolge seinen Rat. Das Gefühl, etwas zu tun, hilft mir, ein wenig zu mir zu finden. Und die entspanntere Körperhaltung tut mir gut. Aber jetzt weiß ich schon gar nicht, wohin mit den Händen. Erst lege ich die Arme auf die Lehnen, aber dabei fühle ich mich wie ein Tourist im Liegestuhl auf Mallorca. Das empfinde ich in dieser Situation unpassend. Dann lege ich die Hände im Schoß zusammen. Aber auch das scheint mir unangemessen. Ich kann hier doch nun wirklich nicht sitzen wie in der Kirche. Nicht in diesem Aufzug. Ich lege die Handflächen auf die Knie. Aber auch das gefällt mir nicht, es wirkt so abweisend. Wohin nur mit meinen Händen? Ich kann doch nicht mit den Jungs neben mir Händchen halten, oder gar in ihren Schoß greifen?
Wie ungewollt sehe ich den Herrn Hilfe suchend an. Er weiß für alles eine Lösung. Und hat er nicht gewissermaßen freiwillig die Verantwortung für meine spezielle Situation übernommen?
„Wenn Sie die Hände hinter den Kopf legen, können Sie sich sehr gut entspannen. Das lockert die Atemwege.“
Wieder mache ich, was er empfiehlt. Mir kommt gar nicht der Gedanke, etwas anderes zu tun. Und ich spüre sofort, dass er Recht hat. Leicht strömt die Luft in meine Lunge. Mir ist auch bewusst, dass diese Haltung die Muskulatur meines Oberkörpers strafft und meine Brüste so noch besser zu Geltung bringt. Vielleicht hat er das auch beabsichtigt, aber dennoch war sein Tipp sehr nützlich.
„Wollen Sie die Augen zumachen?“ Obwohl er dies als Frage formuliert hat, befolge ich sofort seine Worte. Die Wirkung auf meine Empfindungen ist außerordentlich. Einerseits entspannt es mich, andererseits regt es meine Phantasie ungeheuer an. Das Gefühl des Ausgeliefertseins verstärkt sich enorm, jetzt, wo ich die Männer nur noch hören kann. Ich stelle mir vor, was nun alles geschehen könnte. So sehr diese Gedanken mein Inneres erregen, machen sie mir doch keine Angst. Will ich etwa, dass das alles so geschieht? In einem Punkt bin ich sicher: Was dieser Herr will, kann ich mitmachen, ohne es hinterher zu bereuen.
Ich öffne die Augen wieder und sehe meine Mitreisenden an. Ich lächele dem Herrn zu. Er antwortet mit einem Lächeln voller Hochachtung und Anerkennung. Dann gelingt es mir, auch die anderen anzulächeln. Die Minen entspannen sich, die ganze Atmosphäre entkrampft sich dadurch.
Nach einigen Augenblicken schließe ich ganz beruhigt wieder die Augen und genieße die Reise. In meiner Phantasie vermischen sich die Bilder aus dem Roman mit meiner Lage. Dabei zieht eine überraschende Freude durch mein Inneres. Ich habe Konventionen durchbrochen, ich kann zu meiner Weiblichkeit stehen. Ich habe einen Menschen kennen gelernt, dessen ungewöhnlich starke Persönlichkeit nicht nur mich völlig in seinen Bann zieht.
Ganz ruhig und entspannt sitze ich, bis mich ein Geräusch zusammenzucken lässt. Die Tür im Nachbarabteil wird geöffnet. „Kaffee, Cola, Snacks?“ höre ich den Serviceangestellten. Panik erfasst mich. Gleich wird er zu uns kommen und mich hier so halbnackt sitzen sehen. Ich will aufspringen und strecke die Hände schon in Richtung der Gepäckablage, wo mein Kleid liegt.
„Bleiben Sie sitzen und lassen Sie die Hände hinter dem Kopf.“ Die Stimme klingt völlig unaufgeregt, aber auch klar und eindeutig, duldet keinen Widerspruch. Seine Sicherheit überträgt sich wieder auf mich. Warum soll mich nicht auch der Serviceangestellte so sehen, wie ich mich meinen Mitreisenden zeige? Dennoch sehe ich den Herrn wohl sehr entgeistert an, wie ich an seinem verständnisvollen, aber auch leicht amüsierten Lächeln erkenne.
Er steht auf, öffnet die Tür einen Spalt breit und schlüpft hindurch. Dann schließt er die Türe wieder hinter sich. Er kann mich doch hier nicht alleine lassen! Doch es beruhigt mich, seine Stimme aus dem Gang zu hören, obwohl ich nicht verstehe, was er sagt. Dann klingt es, als ob der Mann mit dem Servicewagen weitergeht.
Kurz darauf öffnet sich die Tür wieder, diesmal zu meinem Entsetzen ganz. Aber im Gang steht nur der Herr, ein Tablett mit Bechern in der Hand. Er tritt ein und der Student neben mir schließt die Tür. Leckeres Kaffeearoma erfüllt das Abteil. Er gibt jedem der vier jungen Männer einen dampfenden Becher. „Ich nehme an, dass Sie alle Kaffee mögen. Ich lade Sie ein.“
Als die Männer ihre Klapptische ausfahren, lächelt er mich an, ein wenig verschmitzt. „Für Sie habe ich ein gekühltes Mineralwasser genommen. Vom Kaffee wird Ihnen nur noch wärmer.“
Ganz konsequent zieht er das Stück durch, das wir hier spielen. Er ist Autor, Regisseur und Hauptdarsteller in einem. Ich empfinde Stolz, an seiner Seite und unter seiner Regie die weibliche Hauptrolle in unserem spontanen Theater zu spielen.
„Zu meiner Abkühlung hat die letzte Stunde auch nicht beigetragen.“ Ich bin mutiger geworden. Aber er lässt sich nicht in die Regie hineinreden, und Frechheiten von meiner Seite stehen nicht im Drehbuch: „Und, haben Sie über weitere Maßnahmen nachgedacht?“