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Vorwort allgemein _ Es ist an der Zeit, meinen Nachlaß zu ordnen. Aus den verschiedensten Gründen standen meine Geschichten auf unterschiedlichen Seiten mit wechselnden Pseudonymen. Nun möchte ich die Arbeit von Jahren bündeln. Eine Nachbearbeitung findet nur rudimentär statt.
Alle Personen in dieser Geschichte sind über 18 Jahre alt
© 2008
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Manfred Müller war ein Mann mit festen Gewohnheiten. Von Montag bis Freitag verließ er Punkt acht Uhr dreißig das schmucke Einfamilienhäuschen, gab seiner Frau in der Tür einen Abschiedskuß, schloß das Gartentürchen hinter sich und winkte Hildegard ein letztes Mal zu. Die fünfhundert Meter zur Bushaltestelle legte er zu Fuß zurück. Fünfzehn Minuten später stieg er im Zentrum aus, ging ein Stück die Schloßallee hinunter, bog dann in die Maximilianstraße ein, bis er vor einem modernen Bürohochhaus anhielt und geduldig wartete, bis ihm der Pförtner die Tür entriegelte.
Pünktlich um achtzehn Uhr verließ er das Gebäude wieder und kaum hatte er sein Gründstück betreten, wurde ihm erneut die Tür geöffnet. Hildegard winkelte neckisch ein Knie, streckte sich und spitzte die Lippen zum Kuß.
Die Wochenenden verbrachte Manfred fast ausschließlich im Kreis seiner Familie. Sein Sohn und die beiden Töchter studierten außerhalb, kamen aber am Wochenende nach Hause. Während Hildegard sich um die Wäsche der Kinder kümmerte, zogen diese dem Vater Kost- und Taschengeld für die nächste Woche aus der Tasche. Manchmal gab es deswegen zwischen Manfred und Hildegard einen kleinen Streit, aber Manfreds Anwaltskanzlei florierte und er sponserte seine Kinder gerne. Nach einem gemeinsamen Sonntagsfrühstück verließen die Kinder, mit vollen Geldbörsen und einem Korb frisch gewaschener Wäsche im Kofferraum das Elternhaus. Den Rest des Tages verbrachten Manfred und Hildegard gemeinsam. Manchmal besuchten sie Freunde, bei schönem Wetter fuhren sie raus zum See, wo sie spazieren gingen und die Schwäne fütterten. Sie waren regelmäßige Kinogänger und bevorzugten ruhige Filme, in denen die Welt noch in Ordnung war. Oft aßen sie am Abend auswärts, wobei sie Restaurants mit mindestens einem Stern bevorzugten.
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Wolfgang Richters müdes Gesicht spiegelte sich im Glas des Monitors, als Natalie das Büro betrat. Die Wanduhr verkündete mit einem lauten Klacken den Beginn eines neuen Tages. Wolfgang stöhnte leise auf, lehnte sich zurück und streckte beide Arme in die Luft. Dann klopfte er mit der flachen Hand einladend auf die letzte, noch nicht mit Akten bedeckte Ecke seines Schreibtisches und grinste Natalie an.
Sich eine Falte aus dem Rock streichend, sah die Mittdreißigerin auf dem Monitor den Bildschirmschoner mit dem Logo des Polizeipräsidiums anspringen.
Wolfgang stierte auf den feinbestrumpften Teil von Natalies Beinen, der vom Rock nicht bedeckt wurde. Als er den Blick seiner Kollegin spürte, räusperte er sich und kratzte sich verlegen am Kinn. Nach Wolfgangs Scheidung waren die beiden einige Male nach der Arbeit durch die Bars und Kneipen gezogen und hatten sich gegenseitig ihren privaten Kummer erzählt.
Es war ein Samstag, als Wolfgang in höchst depressiver Stimmung Natalie beichtete, am liebsten würde er sich seine Dienstpistole in den Mund stecken und einfach abdrücken. Was folgte war ein alkoholbedingter Absturz der übelsten Sorte. Als Wolfgang am nächsten Morgen aufwachte, befand er sich in einem ihm fremden Schlafzimmer. Die Bettwäsche duftete nach Rosen, Natalies Haare kitzelten seine Nase und erschrocken stellte er fest, daß sich seine Männlichkeit fest in der Hand seiner Kollegin befand.
Beide verloren über diesen Vorfall nie ein Wort, aber das Vorgefallene wurde der Kitt für eine großartige Freundschaft. Sie verzichteten nicht auf ihre gemeinsamen Kneipenbesuche, achteten aber nun peinlich darauf, nicht noch einmal über den Durst zu trinken.
Für Wolfgang begann mit diesem Ausrutscher eine neue Zeitrechnung. Wenn er, der die Fünfzig schon locker überschritten hatte, eine zwanzig Jahre jüngere Frau aufreißen konnte, was für Möglichkeiten boten sich ihm dann noch? Wolfgang nahm über zehn Kilogramm ab, ließ alte Sportleidenschaften wieder aufleben und tauschte den kompletten Inhalt seines Kleiderschrankes aus. Seine Liebschaften wurden ein ums andere Mal jünger und jünger. Der Hauptkommissar hatte den Reiz des One-Night-Stands für sich entdeckt. Wolf, früher als Abkürzung seines Namens gebräuchlich, wurde für ihn nun zum Programm.
„Was macht denn dein Fall?“
„Ich kann es drehen und wenden wie ich will. Immer wieder lande ich bei unserem Anwalt. Manfred Müller. Erinnerst du dich?“ Als er Natalies Nicken sah, fuhr Wolfgang fort. „Auf der einen Seite habe ich Don Emilio. Einen Unterweltboß, der in allem seine Finger hat, was du dir nur vorstellen kannst. Nach Außen hin betreibt er ein paar Pizzaläden, aber im Verborgenen mischt er bei jeder Sauerei mit, die du dir nur vorstellen kannst. Auf der anderen Seite habe ich einen Anwalt, dessen einziger Klient Don Emilio ist. Das stinkt doch zum Himmel. Oder was meinst du?“
„Such das schwächst Glied in der Kette und knack es“, antwortete Natalie und schaute demonstrativ auf die Uhr. Dann hopste sie von der Schreibtischkante und für einen Sekundenbruchteil sah Wolfgang, daß Natalie eine Strumpfhose trug. „Ich mach dann mal Schluß für heute. Hast du noch Lust auf einen Absacker?“
„Ich muß noch ein paar Akten durchgehen“, schlug Wolfgang nach kurzer Bedenkzeit das verlockende Angebot aus. „Ein anderes Mal gerne.“
*
Einen Anwalt zu beschatten kann nicht vorhersehbare Folgen nach sich ziehen. Aus diesem Grund übernahm Wolfgang Richter den Job erst einmal alleine und ohne seine Vorgesetzten davon zu unterrichten. Innerhalb des Präsidiums genoß Hauptkommissar Richter einen Sonderstatus, denn seine Aufklärungsquote war einfach phänomenal. Wolfgang nutzte diesen Spielraum denn auch weidlich aus.
Nach zwei Wochen keimte in Wolfgang dann die Erkenntnis, daß Manfred Müller eines der langweiligsten Leben führte, das ihm je untergekommen war. Kein Anhaltspunkt für krumme Geschichten, keine Liebschaften, kein gar nichts. Frustriert ging Wolfgang hinter dem Lenkrad seines Wagens in Deckung, als Manfred Richter seinen schweren Mercedes auf dem Seeparkplatz abstellte, eine Papiertüte mit Brotresten aus dem Kofferraum nahm und sich Hildegard bei ihrem Mann einhakte.
Kopfschüttelnd über soviel Harmonie lenkte Wolfgang seinen Wagen in die Tiefgarage des Präsidiums, die an diesem Sonntagnachmittag noch leerer war als an anderen Sonntagen. Der Bericht war schnell getippt. Wolfgang spielte mit dem Gedanken nach Hause zu fahren, sich mit einem Video und ein paar Flaschen Bier einen netten Abend zu machen, als das Telefon klingelte. Ein Kollege, der ein paar Büros weiter saß, meinte, er hätte etwas Interessantes im Fall Don Emilio erfahren und wolle diese Informationen nun weitergeben. Wolfgang ging den Flur entlang. Im Vorbeigehen entlockte er dem Automaten noch schnell einen lauwarmen Kaffee. Dann hörte er sich über eine Stunde an, was der Kollege zu berichten wußte.
*
Seit seiner Scheidung lebte Wolfgang Richter in einem Zwei Zimmer Appartement mitten in der City. Hier hatte er alles was er brauchte ganz in der Nähe und bis zu seiner Dienststelle waren es gerade mal fünf Gehminuten. Hoch über der Stadt, im siebzehnten Stock eines schon in die Jahre gekommenen Hochhauses, stand er auf seinem kleinen Balkon, eine Flasche Bier in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand.
Er dachte über das nach, was er wenige Stunden zuvor von seinem Kollegen erfahren hatte. Der Informant, den man mit viel Mühe und unter größter Diskretion in eine von Don Emilios Pizzerias eingeschleust hatte, war unauffindbar. Kein Anruf, kein Lebenszeichen, nichts. Der Wagen des Informanten stand in der Tiefgarage des Hauses, in dem er zur Miete wohnte. Seine Wohnung war aufgeräumt und sah so aus, als ob der Mieter jeden Moment zurückkommen würde. Nichts deutete auf ein Verbrechen hin. Wolfgang aber wußte diese Indizien zu lesen. Kalt lief es ihm den Rücken hinunter, denn wie Don Emilio mit Verrätern umging war aktenkundig.
Wolfgang blickte hinunter in das Lichtermeer aus Neonreklamen, Straßenlaternen und einem nicht enden wollenden Strom von Autoscheinwerfern. Er trank den letzten Schluck Bier aus der Flasche. Sein Verstand sagte ihm, daß er etwas Stärkeres brauchte, wollte er diese Nacht noch ein paar Stunden schlafen.
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Bis zum Barrakuda brauchte Wolfgang knapp zehn Minuten. Der wenig gelungene Mix aus Kneipe, Diskothek, Szenelokal und Nachtbar war zu Wolfgangs Revier geworden. Hier fühlte er sich wohl, hier trank und aß er, hier ging er auf die Jagd, wenn er was fürs Bett suchte. Im Barrakuda trafen all die Menschen aufeinander, die jede Großstadt gebiert. Polizisten genehmigten sich zum Dienstschluß einen Drink, die Halb- und Unterwelt war ebenso vertreten, wie die billigen Bordsteinschwalben, sowie die an ihrem teuren Outfit zu erkennenden Edelnutten. Potentielle Kunden standen an der Bar und warteten darauf angesprochen zu werden. Wenn sie nicht selbst aktiv wurden und eine der Damen in knappen Hotpants oder dem kleinen Schwarzen ansprachen. Großspurig tönende Studenten wurden in den Hinterzimmern von ausgebufften Spielern um ihr Bafög gebracht. Rosenverkäufer schröpften verschüchtert dreinblickende Familienväter, die ihrem Betthäschen imponieren wollten. Wenn angetrunkene Studentinnen den Tänzerinnen an der Stange versuchten Konkurrenz zu machen, kochte die Stimmung hoch. Böse Zungen behaupteten außerdem, daß hier zwischen Polizei und Unterwelt manch Deal besprochen wurde, der für beide Seiten von Vorteil war.
Irina hatte sich weit über den Tresen gebeugt und rechnete Wolfgangs Deckel ab. Wolfgangs Blick verlor sich in dem üppigen Dekollete der jungen Russin.
„Das gehört alles dir, Süßer“, hauchte Irina mit ihrem harten russischen Akzent, den Wolfgang schon so oft gehört hatte, wenn sie auf seinem Schoß saß und ihn zu neuen Höchstleistungen anspornte. „In einer Stunde habe ich Feierabend.“
„Laß mal gut sein, Irina. Heute Abend bin ich zu alt für dich“, grinste Wolfgang müde. Er zog mehrere Geldscheine aus seinem Portmonee und legte für die Vierundzwanzigjährige noch einen Schein obendrauf. „Aber ich komme auf dein Angebot zurück. Versprochen!“
Wolfgang wählte für den Heimweg eine Abkürzung, die ihn durch enge Straßen und dunkle Gassen führte. Vor den überquellenden Abfallcontainern, die die Rückseite eines Chinaimbisses zierten, blieb er einen Moment stehen und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. Im gleichen Moment hörte er ein Geräusch, das in ihm sofort alle Alarmglocken klingeln ließ. Zwar wurden die dunklen Nischen gerne von den Mädchen genutzt, die in der Nahrungskette ganz unten standen, aber das gerade hörte sich völlig anders an. Wolfgang warf die eben erst angerauchte Zigarette auf den Boden und trat die Glut mit der Schuhspitze aus. Langsam ging er in die Richtung, aus der er meinte das Geräusch gehört zu haben.
Der Mann war mittelgroß, bullig und offensichtlich völlig außer Kontrolle. Gegen die Hauswand gedrückt stand eine Frau mit blonden Haaren, völlig verängstigt und die Hände leise wimmernd vor den Bauch haltend. Sie war schlank und überragte ihren Angreifer um Kopfeslänge. Trotzdem hatte sie keine Chance gegen den Kerl, der unter wüsten Beschimpfungen zum nächsten Schlag ausholte. Wolfgang sprang nach vorne, fing den Schlag ab, nutzte die Energie, die in dem Schwinger lag für sich und drehte mit einer kreiselnden Bewegung den Arm des Mannes auf den Rücken. Mit der rechten Hand zwischen den Schulterblättern drückte Wolfgang den überraschten Mann gegen die Hauswand. Ein kurzer Blick zur Seite und Wolfgang sah die Frau an der Wand hinunterrutschen, bis sie in der Hocke verharrte.
„Alles in Ordnung, Lady?“
Die Blonde nickte. „Lassen Sie ihn laufen. Ich will keine Scherereien.“ Ihr Blick nahm flehende Züge an. „Bitte!“
Auch so etwas kam vor.
Wolfgang hatte da schon viel groteskere Situationen erlebt. „Sind Sie sicher?“, fragte er vorsichtshalber nach.
Als er ihr Nicken sah, lockerte er vorsichtig seinen Fesselgriff und drehte den Kerl um, der inzwischen seine Wut anscheinend wieder im Griff hatte. Vorsichtig, dabei in die Augen des Mannes schauend, schob Wolfgang eine Seite seines Jackett zur Seite, bis die Pistole im Holster gut sichtbar war.
Als Wolfgang die Panik in den Augen des Fremden aufsteigen sah, sagte Wolfgang betont ruhig: „Wenn ich dich noch einmal sehe, dann hilft dir niemand mehr. Hast du das verstanden?“ Der Mann nickte wortlos und Wolfgang trat einen Schritt zurück. „Hau schon ab!“
Dann wand sich Wolfgang der Frau zu, reichte ihr beide Hände und half ihr aufzustehen.
„Geht’s wieder?“
Die Blonde nickte und erst jetzt sah Wolfgang, wie schön sie wirklich war. Eine Asiatin, die ihn mit ihren Stiletto Plateau Pumps um einige Zentimeter überragte. Tränen hatten ihr Make-up verschmiert und ihre Hilflosigkeit ließ Wolfgang augenblicklich schmelzen.
„Ich bringe Sie jetzt erst mal ins Krankenhaus“, sagte Wolfgang und berührte zaghaft ihren Arm.
„Nein. Das ist nicht nötig. Wirklich nicht.“
„Sind Sie sicher? Der Kerl ist nicht gerade zimperlich mit Ihnen umgegangen.“
„Es geht schon. Ehrlich.“ Sie versuchte einen Schritt und Wolfgang sah wie sie schwankte. „Vielleicht können Sie mich noch nach Hause bringen?“, fragte die Frau leise. Gleichzeitig griff sie nach Wolfgangs Arm und hielt sich daran fest.
Wolfgang überschlug die Biere, die er getrunken hatte. Das sollte kein Problem sein, dachte er und nickte.
„Ich wohne fünf Minuten von hier. Schaffen Sie das?“
Die Blonde nickte und klammerte sich fest an seinen Arm. Aus den fünf wurden fünfzehn Minuten, bis sie den Eingang des Wohnhauses erreichten. Auf den wenigen Stufen zur Haustür machte die Fremde endgültig schlapp. Ohne Vorwarnung sackte sie in sich zusammen und hätte sie Wolfgang nicht geistesgegenwärtig aufgefangen, wäre sie mit Sicherheit auf dem Boden aufgeschlagen.
„Ich bringe Sie erst mal in meine Wohnung“, sagte Wolfgang, der sich über das Leichtgewicht wunderte, das er mit beiden Armen vor sich her trug.
Ein Blick in ihre Augen ließ ihn vermuten, daß die Schöne überhaupt nichts von dem Gesagten mitbekommen hatte. In seiner Wohnung legte er sie kurzerhand auf sein Bett, zog ihr noch die Schuhe aus, bevor er eine Decke über sie ausbreitete. In der Küche ließ Wolfgang das Wasser so lange laufen, bis es ausreichend kalt war. Er füllte ein Glas und benetzte einen sauberen Lappen, mit der er ihre Stirn kühlen konnte. Als er sich neben sie auf die Bettkante setzte und sie die Augen aufschlug, reichte er ihr das Wasser.
Vorsichtig trank sie und es tat ihr sichtlich gut. Wortlos lächelte sie ihren Retter an. Dann griff sie nach seiner Hand: „Nur ein paar Minuten ausruhen. Geht das?“
Bevor Wolfgang etwas sagen konnte, klingelte das Telefon.
„Entschuldigung. Einen Moment nur“, sagte er und streichelte für einen kurzen Moment die Hand der Blonden.
Im Display erkannte er die Nummer seiner Kollegin. „Hallo Natalie. Was ist?“
„Ich bin hier am Fluß. Direkt unter der Schloßbrücke. Du solltest herkommen und es dir selber anschauen.“
„Habt ihr etwa unseren Informanten gefunden?“
„Wenn überhaupt, dann nur ein Stück von ihm. Sieht nicht gut aus, glaube es mir.“
„In Ordnung. Gib mir ein paar Minuten.“
„Der läuft uns nicht mehr weg“, antwortete Natalie lapidar.
Als Wolfgang ins Schlafzimmer kam, war die Fremde eingeschlafen. Vorsichtig fühlte er ihren Puls, hob eines der mit künstlichen Wimpern behafteten Lider an und legte seine Hand sachte auf ihre Stirn. Sie schien in Ordnung, soweit man das in dieser Situation sagen konnte. Wolfgang setzte sich an den Küchentisch, nahm einen Block aus der Schublade und schrieb eine kurze Nachricht für sie. Bevor er das Blatt abriß, notierte er noch seine Handynummer am unteren Rand. Er faltete das Stück Papier zusammen und steckte es in einen ihrer Schuhe, die er so neben das Bett stellte, daß die Fremde sie sofort sah wenn sie aufwachte. Noch einmal schaute er auf die Blonde, die mit jedem Blick, den er riskierte, schöner wurde.
*
Die Kollegen der Schutzpolizei hatten ein paar Scheinwerfer aufgestellt, die den Fundort und die unmittelbare Umgebung in ein unwirkliches kaltes Licht tauchten. Auf dem Boden war eine schwarze Kunststoffplane ausgebreitet. Der Gerichtsmediziner räumte seine Sachen zusammen.
„Da bist du ja. Mußtest wohl erst deine Hosen suchen, wie?“, stichelte Natalie und legte ihre Hand gleichzeitig besänftigend auf Wolfgangs Arm.
„Die hatte ich noch immer an“, meinte Wolfgang nachsichtig, während er sein Feuerzeug aufschnappen ließ. Dann erzählte er mit knappen Sätzen, was passiert war.
„Mannomann!“, stöhnte Natalie. „Ich möchte ja fast behaupten, dich hat es voll erwischt. So wie du von der Kleinen schwärmst.“
„Red kein dummes Zeug“, ereiferte sich Wolfgang. „Ich habe nur einer jungen Frau geholfen. Das hätte jeder andere auch getan.“ Er sah in Natalies zweifelnde Augen. „Jetzt glaube mir doch. Da ist nichts!“ Und mit einem Schlag wurde Wolfgang bewußt, was für einen Quatsch er da von sich gab. Unwirsch wechselte er das Thema. „Was haben wir hier eigentlich?“
„Einen Arm“, antwortete ihm Natalie, die Wolfgang kein Wort von dem glaubte, was er ihr so überaus enthusiastisch einzureden versuchte.
„Ein bißchen wenig, meinst du nicht auch? Warum glaubst du, daß der von unserem Informanten ist?“
„Wie würdest du Lorenzo mit einem Satz beschreiben?“, fragte Natalie und verzog dabei angewidert die Lippen.
„Tätowiert! Tutto Completti!“, antwortete Wolfgang grinsend.
„Wie unser Arm!“ Natalie nahm Wolfgang die gerade angerauchte Zigarette aus dem Mund. Steil streckte sie die Nase in den Himmel.
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Die Fremde saß in Wolfgangs Lieblingssessel und hatte eine Decke eng um sich geschlungen. Eine kleine Lampe in der Küchenzeile hüllte den Raum in schwaches Licht. Wolfgang wollte das Deckenlicht einschalten, aber ihre Stimme kam ihm zuvor: „Bitte nicht noch mehr Licht. Ich sehe bestimmt fürchterlich aus.“
Wolfgang legte sein Jackett über die Stuhllehne und streifte den Holster ab, in dem seine Heckler & Koch steckte. Die Waffe und das Reservemagazin legte er in die einzige Schublade der Wohnung, die ein Schloß besaß. „Wie geht es Ihnen?“
„Ich habe mich selbst bedient. Ich hoffe, ich durfte das?“
Wolfgang sah, wie sie die Flasche Sekt hochhielt, die er für Notfälle immer im Kühlschrank bereithielt. Am Tonfall ihrer Stimme erkannte er, daß es ihr deutlich besser ging. Mit einem Bier in der Hand ließ er sich ihr gegenüber auf der dreisitzigen Couch nieder. „Mein Name ist Wolfgang Richter. Ich bin Hauptkommissar.“ Er lauschte dem Klang seiner Worte und ärgerte sich maßlos. So eine blöde Anmache hatte er noch nie vom Stapel gelassen.
„Ich weiß, daß du Polizist bist“, sagte die Fremde, die sich als Ming Poh vorstellte. Sie hob eine der zahlreich auf dem Tisch verstreuten Mappen hoch, auf denen allesamt das Logo der Polizei prangte. „Ich habe ein wenig geschnüffelt.“ Mit einem verlegenen Kichern fügte sie hinzu: „Du wirst mich deswegen doch hoffentlich nicht verhaften?“
„Das muß ich mir erst noch überlegen“, antwortete Wolfgang. Mit seinen Gedanken aber war er ganz woanders. Noch nie hatte er eine Frau mit solch einer erotischen Stimme getroffen. Der Begriff Schlafzimmerstimme traf es noch nicht einmal ansatzweise. Rauchig, mit einem süßen, kaum wahrnehmbaren Akzent, machte sie an Wolfgangs Ohren nicht Halt. Sie kroch in seinen Körper hinein, verbreitete dort angenehme Gefühle und weckte wilde Assoziationen. Er spürte ihre Stimme in seinem Schoß. Schon bevor Wolfgang ihren Namen kannte, hatte er gewußt, daß er eine Asiatin gerettet hatte. Eine Vietnamesin? Eine Thailänderin? Wolfgang war ehrlich genug zuzugeben, daß er von dieser Ecke der Welt keine Ahnung hatte. Allerdings war diese Frage für ihn in diesem Moment auch eher zweitrangig. „Oh! Sorry! Was sagtest du gerade?“
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