„Du bist sicher…“ Hayat sah Philippe eindringlich an „also sicher im Sinne von zweihundert Prozent sicher dass dich niemand gesehen hat?“
„JA!“
Philippe nickte energisch.
Tarquin blinzelte irritiert, er konnte es immer noch nicht glauben „nochmal Philippe… du bist hier am Strand los geschwommen, raus in den Atlantik und im offenen Meer bis auf die andere Seite der Insel? Einfach so geschwommen? Einfach so? Bist du lebensmüde?“
Philippe schüttelte den Kopf „Nein. Ich sagte doch dass ich ein guter Schwimmer bin!“
„Ja schon aber…“ Tarquin sah den zierlichen Körper skeptisch an „es gibt gute Schwimmer und das… das was du gemacht hast, ist ja irre. Also ich meine… da draußen sind Haie und… verdammt Philippe, alleine die Entfernung! Und dann noch im offenen Meer!“
Philippe zuckte mit den Schultern „Haie haben besseres Futter als Menschen und ich kann das.“
Dass Philippe so selbstbewusst sein konnte war Tarquin neu. Er sah zu Hayat. Hayat sah Philippe bewundernd an „du Fisch. Pass auf dass ich dich nicht in Bananenblätter einwickle und auf den Grill schmeiße“
Philippe räusperte sich und warf wieder mal einen Zweig ins Feuer. Sie saßen wieder nebeneinander im Halbkreis, die gleiche Anordnung wie meistens. Philippe rechts, Hayat in der Mitte, Tarquin links.
„Als ich klein war, haben wir in der Nähe eines Sees gelebt. Ich wollte nie zuhause sein, deshalb bin ich schwimmen gegangen. Das hat mir mein Vater erlaubt. Also… irgendwann hat es ihm dann natürlich auch nicht mehr gefallen aber dann wollte ich es nur umso mehr, weil ich gemerkt habe wie leicht es mir fällt.“
Philippe machte eine kurze Pause und fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar, dann fuhr er fort:
„Irgendwann habe ich Arielle geschaut.“
„Den Zeichentrickfilm?“ hakte Tarquin irritiert nach.
Philippe nickte. Er schwieg einen Augenblick.
„Ich… wollte so sein wie Arielle.“
Tarquin und Hayat sahen ihn mit ernstem Gesichtsausdruck an.
Philippe blickte irritiert zwischen beiden hin und her.
„Erwartest du dass ich lache?“ beantwortete Tarquin seinen fragenden Blick.
„Ja…“ Philippe nickte und zuckte mit den Schultern.
„Wieso sollte ich? Ich urteile nicht. Wenn dir das wichtig ist…“ Tarquin sah ihn an und zuckte mit den Schultern.
Philippe war irritiert. Er fühlte sich zwar verstanden aber ein Rest Zweifel blieb. Er sah Hayat an. Hayat legte ihren Arm um seine Schultern und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.“
„Oh… okay… das tut mir leid. Das wollte ich nicht“ entschuldigte Philippe sich.
Das Feuer knackte in der Dunkelheit. Sie hatten heute ein kleineres Feuer gemacht und es brannte in einem Erdloch. Auf keinen Fall wollten sie dass es von weitem sichtbar wäre.
„Ich habe immer jede Gelegenheit genutzt um zu schwimmen. Egal wo. Im Meer, in Flüssen, Seen, Schwimmbädern… wenn es irgendwo eine Pfütze gab, bin ich los geschwommen.
Wasser gibt einem das Gefühl von Schwerelosigkeit und Freiheit. Und mit der Zeit wurde ich auch immer besser. Schneller und ausdauernder.“ Philippe nickte in Anerkennung seiner eigenen Leistung ohne dabei arrogant zu sein.
„Also habe ich meine Sachen hier am Strand gelassen–„
„–habe ich gemerkt!“ unterbrach ihn Hayat. Sie bekam seinen Penis nicht aus dem Kopf.
Philippe fuhr fort:
„Also dann bin ich um die Insel herum geschwommen, rechts lang… Westen..?“ Er sah Tarquin fragend an, Tarquin nickte und Philippe fuhr fort: „da vorne ist ja diese Landzunge, die man von hier noch sehen kann. Es sind alles diese schwarzen Felsen und Steilküste und wenn man erst mal im Wasser ist, kann man nicht mehr an Land. Hätte ich nicht mehr weiter gekonnt wäre es wohl schwierig geworden…“
„Philippe…“ Tarquin hielt sich die Hand vor die Augen und schüttelte den Kopf „bitte mach das nicht mehr…“ er murmelte.
Philippe nickte schuldbewusst „es war kein Problem. Von dort bin ich weiter geschwommen und irgendwann habe ich dann einen Strand gesehen und da waren Leute…“ Er machte eine kurze Pause. Hayat und Tarquin sahen ihn erwartungsvoll an.
„Ich habe mindestens zehn Leute gesehen. Ich glaube ich habe Herr Martins erkannt und Frau Neufeld.
„Die Pfeifen…“ murmelte Tarquin. Hayat sah ihn an „sie waren diejenigen, die die Umleitung wollten und deshalb sind wir im Sturm gelandet?“
Tarquin nickte „Anders herum. Wir haben den direkten Weg genommen, Sturm vermeiden wäre die Umleitung gewesen. Aber ja.“
„Ich habe auch ein paar aufgeschüttete Erdhügel gesehen… mit Kreuzen.“ Schob Philippe hinterher „ich glaube es waren drei Stück aber das konnte ich aus der Entfernung nicht genau sehen.“
„Gräber“ Tarquin sah ins Feuer „es müssen Leichen angespült worden sein.“
„Oder sie haben sich gegenseitig gegessen und das waren die Reste!“
Hayat klang ziemlich unbekümmert.
Tarquin sah sie an und hob die Augenbrauen.
„Was?“ erwiderte sie seinen Blick „Sie hatten sogar ein christliches Begräbnis dazu…nee nicht dazu, hinterher… als Dessert sozusagen. Statt Baklava.“ Sie zupfte ihren lose gebundenen Hijab zurecht und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. Dabei blickte sie pathetisch in den dunklen Himmel „wahrscheinlich hat Frau Neufeld bei der Beisetzung etwas gesungen. Das machen Christen doch so, oder?“ Hayat wartete keine Antwort ab sondern griff sich theatralisch an die Brust und wollte anfangen zu singen als ihr Philippe ins Wort fiel
„–und die Knochen benutzen sie dann als Haarnadeln!“
„Genau!“ rief Hayat und nickte Philippe zu „falls mal wieder ein Missionar vorbei kommt um Wilde auf einsamen Inseln zu bekehren, sind sie vorbereitet!“
Philippe und Hayat sahen Tarquin an.
„Sind wir jetzt schlechte Menschen?“ fragte Hayat.
„Oder waren wir schon immer welche und es kommt erst jetzt raus?“ ergänzte Philippe. Hayat nickte eifrig.
Tarquin lächelte verschmitzt „ihr werdet eure Gründe haben…“ dann fuhr er fort:
„Ehrlich gesagt: ich fand sämtliche Schüler an Bord sagenhaft versnobt und verwöhnt. Mit Ausnahme von euch beiden… das sage ich jetzt nicht einfach nur so, das meine ich ehrlich.“
Er machte eine Pause und überlegte kurz.
„Kapitän Heinrich ist ein Jammerlappen. Er hätte niemals das Kommando haben dürfen aber so ist das eben manchmal.“
Tarquin wandte sich an Philippe „hast du ihn irgendwo gesehen? Ich mochte ihn zwar nicht aber wir sind nun mal ein paar Wochen lang miteinander auf dem Schiff gewesen.“
Philippe schüttelte den Kopf.
Hayat legte ihre Hand auf Tarquins Bein und sah ihn an „Habibi, er ist kein Jammerlappen, er WAR ein Jammerlappen.“
Sie machte eine künstliche Pause und Sah Tarquin mit gespielter Ernsthaftigkeit an.
„Aufgegessen. Ratzeputz. In Bananenblätter eingewickelt und mit Meerwasser gewürzt. Könnte ein Rezept von mir sein.“ Sie formte mit Daumen und Zeigefinger ein O und küsste es. „Delectamentum! Würde Herr Martins jetzt sagen.“
Tarquin grinste „ist das Latein?“, Philippe kicherte und nickte.
„Sie haben jede Menge Sachen. Es sah so aus als ob alles bei ihnen angespült wurde. Kisten und Wrackteile vom Schiff. Ehrlich gesagt war es ein ziemlicher Sauhaufen.“ Ergänzte Philippe.
„Dann haben sie vielleicht auch die Kiste mit den Notsignalen und den Funkgeräten“ spekulierte Tarquin.
Die gelöste Stimmung kam zu einem abrupten Ende.
„Du meinst… sie können Hilfe holen? Jemand kann hier her kommen?“ Hayat sah ihn entsetzt an.
Tarquins Blick wanderte zwischen Hayat und Philippe hin und her. Er nickte langsam und dachte nach „Ich bin davon ausgegangen dass die Rettungsboje nicht ausgelöst hat, sonst hätte man uns längst geortet oder wir hätten wenigstens Flugzeuge gesehen die uns suchen oder was weiß ich… nichts dergleichen ist passiert und heute ist bereits der dritte Tag…“
„Was meinst du?“ fragte Hayat.
Tarquin räusperte sich „es ist so… in der Notfallkiste sind Funkgeräte. Reichweite ungefähr zwanzig Meilen. Wenn man auf den Berggipfel steigt…“ er zeigte in die Dunkelheit „dann auch vierzig. Jedenfalls weit genug um auf der Nachbarinsel jemanden zu erreichen und Hilfe zu holen. Da drei Tage nichts passiert ist, gehe ich jetzt davon aus dass weder die Rettungsboje ausgelöst hat, noch die Funkgeräte funktionieren bzw. nicht in der Kiste waren. Sie hätten aber dort sein sollen.“
„Jemand hat die Ausrüstung sabotiert?“ Philippe sah ihn mit großen Augen an.
Tarquin zuckte mit den Schultern „entweder Verschwörungstheorie oder irgendein Idiot hat die Akkus nicht aufgeladen. In der Realität war es dann meistens der Idiot und nicht die Verschwörung. Oder sie haben die Kiste eben doch nicht, war ja nur eine Vermutung.“ Dann kam ihm ein Gedanke „die Kiste mit den Pässen…“
Philippe zuckte mit den Schultern „einzelne Kisten konnte ich nicht erkennen… also was sie haben und was nicht. Wieso, was ist mit den Pässen? Die haben wir doch gleich bei dir abgegeben als wir an Bord gekommen sind.“
„Ja…und sie sind alle in einer Kiste. Unsere sind ja EU Pässe… aber deiner…“ Tarquin sah Hayat an „…ich habe so meine Zweifel dass die palästinensische Autonomiebehörde gut genug organisiert ist, dass sie mitbekommt dass eine im Exil lebende Palästinenserin bei einem Schiffsunglück als verschollen gemeldet wurde und, und, und…“
„Nee kriegen die nicht auf die Reihe, kann ich dir so sagen“ sie schüttelte den Kopf „aber wovon redest du überhaupt? Ich kann dir rein gar nicht folgen.“
„Ich habe einen spanischen Pass, Philippe einen deutschen…“
„Olé du bist Spanier? Das wusste ich noch nicht!“ Hayat unterbrach ihn.
„Ja, durch meinen Vater… wir waren ja immer unterwegs und egal wo wir waren, ich war immer der Ausländer. Mein Vater hat auch kein Spanisch mit uns gesprochen, deshalb habe ich das erst so richtig im Gefängnis gelernt. Aber egal, es hat nichts damit zu tun was ich sagen wollte. Also: Philippe und ich haben biometrische EU Pässe, wenn Philippe und ich als verschollen gemeldet werden, werden unsere Pässe für ungültig erklärt und sind wertlos. Deiner hingegen…“ er drehte sich zu Hayat.
„…kann weiter benutzt werden weil die Autonomiebehörde nicht gut genug organisiert ist um ihn für ungültig zu erklären?“ beendete sie seinen Satz.
Tarquin nickte „ich habe noch die südafrikanische Staatsbürgerschaft. Das habe ich den Europäern nie gemeldet, sie wissen nichts. Hätten wir deinen Pass…“ er sah Hayat an „…und meinen südafrikanischen, dann könnten wir beide uns über Grenzen bewegen ohne aufzufallen. Nur du…“ er sah Philippe an „…für dich gibt es gerade keine direkte Lösung.“
„Du meinst…“ Philippe versuchte, Tarquins Gedankengang zu folgen „wenn wir das Geld geholt haben und damit dann… keine Ahnung was auch immer tun, sollten wir das mit anderen Identitäten machen und nicht als die Personen, die an Bord des Schiffes gegangen sind?“
Tarquin nickte „Ja. Als wer auch immer wir durch die Gegend gehen, auf jeden Fall nicht mit der Identität von Toten. Das fällt garantiert auf.“
Als ihnen bewusst wurde auf was es hinauslaufen würde, schwiegen sie einen Moment. Dann ergriff Tarquin wieder das Wort:
„Ich will euch da nicht mit hineinziehen. Und ich erwarte nicht von euch dass ihr euch für verschollen erklären lasst. Für mich ist es eine Gelegenheit nochmal anzufangen, aber ihr seid noch jung und…“ er zuckte mit den Schultern „ich kann zurück nach Indonesien und mir dort von dem Geld eine ganze Insel kaufen… aber ihr seid in einer anderen Situation.“
Wieder schwiegen sie für einen kurzen Moment.
Zögernd ergriff Hayat das Wort.
„Es… es ist nicht so dass ich nicht darüber nachgedacht hätte.“ Sie sah ins Feuer und stocherte mit einem Zweig in der Glut. „Wenn wir hier von dieser Insel zurück in unser altes Leben gehen dann ist es ja nicht so dass da lauter tolle Chancen und liebevolle Menschen auf mich warten.“ Sie legte den Zweig zur Seite und sah Tarquin eindringlich an. „Ich kann mir nicht vorstellen dass wir einfach so zurück ins Internat gehen würden und Montag morgen geht es weiter mit Latein bei Martins. Mal abgesehen davon dass das sowieso absolut scheiße war.“
„Nein… sie würden euch erst mal nach Hause schicken“ nickte Tarquin ihr zu. Dann sah er ihr eindringlich in die Augen und legte seine Hand auf ihr Knie „aber wir müssen trotzdem von dieser Insel runter.“
Hayat sah ihn an und schwieg.
„Ich bin gerne hier mit euch“ flüsterte Philippe.
„Als ich…damals nach Deutschland kam und mir klar wurde, was für Leute meine Verwandtschaft sind, da wollte ich gleich wieder von denen weg. Aber ich konnte ja nirgends hin und so ziemlich alles ist besser als Gaza…“ Hayat atmete tief durch „ich dachte dann immer dass ich nur durchhalten muss bis ich achtzehn bin. Weil wenn man achtzehn ist kann man ja machen was man will. Stimmt’s?“
„So läuft das nicht…“ sagte Tarquin.
Philippe und Hayat schüttelten zustimmend mit dem Kopf. Sie fuhr fort:
„In Berlin komme ich nicht aus diesem Leben raus. Auf mich wartet nichts…“ sie schluckte „niemand.“
Tarquin legte den Arm um sie. Hayat sackte an seiner Schulter zusammen.
Eine Weile saßen sie stumm am erlöschenden Feuer. Hayat hatte den Kopf auf Tarquins Brust gelegt.
„Ich bin todmüde“ Philippe stand auf „ich lege mich jetzt hin.“
„Kein Wunder bei der Schwimmtour…“ entgegnete Tarquin „schlaf gut.“
Hayat löste sich von Tarquin und griff nach Philippes Hand. Sie zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange „schlaf gut Arielle.“ Philippe lächelte, dann verschwand er in die Dunkelheit.
Wieder saßen sie stumm nebeneinander. Tarquin griff Hayats Hand. Sie sah ihn an, der Körper komplett in schwarz gehüllt, große Augen, die sich langsam mit Tränen füllten.
„Verlass mich nicht“ flüsterte sie. „Bitte…“ dann erstickte ihre Stimme.
Tarquin umarmte sie und zog sie nah an sich heran. Hayat schlang ihre Arme um seinen Hals und hielt ihn so fest sie konnte.
„Okay“ er flüsterte ihr ins Ohr und streichelte ihren Rücken. „Wir bleiben zusammen. Ich verspreche es dir.“ Tarquin küsste sie auf die Wange.
Hayat klebte an ihm, ihre warme Wange lag auf seiner.
„Schläfst du bitte heute bei mir?“ flüsterte sie leise. Dann spürte sie ihn nicken.