Kapitel 6: Auf der Flucht
Irgendwie kam Helen aus dem Hotel raus. Sie erinnerte sich an die Blicke der Menschen die ihr begegneten. Es war ein erschrockenes Hin- und dann gezwungenes Wegsehen.
Alles tat Weh. Sie fühlte sich am ganzen Körper wund und geschunden. Erst draussen auf dem Boulevard hielt sie an. Erst hier konnte sie wieder atmen. Sie stand da und atmete. Diese Blicke. Sie hastete weiter. Weg von den Menschen, weg von der Leuchtreklame. Endlich war sie allein. Weit von ihr entfernt zogen Autos ihre Bahnen auf der nächtlichen Straße. Im Schein dieser Straße betrachtet sie ihr Spiegelbild im Fenster eines parkenden Autos. Es war wie ein Schock.
Wenn jemals eine Frau missbraucht ausgesehen hatte, dann sie in jenem Moment. Die Augen gerötet, der Blick gehetzt, die Haare zerzaust, mit verrutschtem Kleid und barfuss stand sie da. Sie lief weiter, wie lange und wohin, sie wusste es bald nicht mehr.
Whieuuup Whieuuuup Wieuuuup, das Geräusch einer Sirene lies sie aufschrecken. Ein Scheinwerfer blendete sie. Im Versuch hinter das Licht zu sehen, konnte sie schemenhaft ein Polizeiauto erkennen. Ihre Gedanken spielten verrückt, „Geschnappt“ flüsterten sie ihr zu.
„Miss – können wir ihnen helfen?“ eine Stimme kam aus Richtung des Lichts.
„Nein vielen Dank, sie brauchen mir nicht zu helfen – ich wohne hier“
„Sie wohnen hier? Bitte treten sie etwas näher Miss.“
Mit zitternden Händen strich sie ihr Kleid glatt und kam der Auforderung des Police-Officers nach. Sie versuchte sich an einem Lächeln. „Entschuldigung, ich meinte damit ich wohne in Vegas – aber nicht hier, ich wohne in der Philadelphia Ave 169.“
Der Polizist klang skeptisch „Wirklich, das ist draussen im Gewerbeviertel. Das ist aber noch ein ganzes Stück von hier Miss. Sind sie sicher, dass sie keine Hilfe brauchen?“
Helen dämmerte, dass er sie nicht in Ruhe lassen würde.
Sie versuchte es noch mal mit festerer Stimme: „Ganz sicher, vielen Dank.“
Sie stand ganz nahe beim Wagen. Der Police-Officer lehnte sich aus dem Fenster und betrachtete sie prüfend. Der Strahl eines Handscheinwerfers leuchtet sie von oben bis unten ab.
„Miss, ich will ihnen nicht zu nahe treten, aber sie sehen nicht so aus als würde das stimmen. Können sie sich ausweisen?“
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Helen war kurz davor, los zu rennen. Es fehlt nur noch ein Jota, um sie ihre Selbstbeherrschung verlieren zu lassen. Sie musste sich zwingen ihre amoklaufenden Gedanken aufs hier und jetzt zu fokussieren. Endlich fanden ihre nestelnden Finger das gesuchte Dokument in ihrer Handtasche.
„Miss Hellen Thomas“ Der Polizist drehte sich um und wechselte ein paar Worte mit seinem Kollegen, der ein Terminal bediente.
„Ja?“
„Miss Thomas“ Die Stimme das Polizisten hatte etwas an Mißtrauen verloren und an Freundlichkeit gewonnen „lassen sie mich ehrlich sein, sie sehen nicht gut aus. Wenn sie wollen, kann ich sie mit aufs Revier nehmen und da können sie dann mit einer Kollegin reden. Wir werden sie aber zu nichts zwingen“
„Nein bitte, ich will einfach nur nach Hause.“
„Wie schon gesagt, wir werden sie zu nichts zwingen, ich würde sie aber nur ungern so durch die Nacht laufen lassen. Haben sie jemanden der sie abholen kann?“ Sie schüttelte den Kopf. Er redete wieder kurz mit seinem Kollegen.
„Miss, wir fahren in die Richtung, wenn sie wollen, dann könnten sie mitfahren.“
Helen nahm das Angebot an und so kam ich in dieser Nacht auch noch zu einer Fahrt im Polizeiwagen. Ein bizarres Extra einer an Verrücktheiten nicht armen Nacht.
Zuhause angekommen sah sie sich mit der Unordnung konfrontiert, die sie hinterlassen hatte. Sie war aufgewühlt und gleichzeitig unglaublich müde. Sie legte sich aufs Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Sie war wieder im Casino. Einem riesiges, bunkerähnlichem Casino voller kleiner Räume und dunkler Flure. Jemand war hinter ihr her, die Polizei? Sie war nackt und auf der Flucht. Die Leute glotzten sie an. Ihr war klar, das jeder der sie sah, sie auch an ihre Verfolger verraten würde. Sie kletterte durch Lüftungstunnel und hetzte durch endlose Gänge, kam zu verlassenen Treppenhäusern.
Plötzlich befand sie sich im Flur vor seiner Suite. Die Verfolger waren ganz nah. Sie würden gleich ums Eck biegen, sie fühlte es. Da wurde die Tür geöffnet und er war da. Sie fielen sich in die Arme. Sie lachten und weinten. Er wirbelte Helen im Kreis herum. Die Tür! Warum schloss er die verdammte Tür nicht? Sie versuchte, sich verständlich zu machen, doch er hörte nicht zu. Sie versuchte, selber die Tür zu erreichen – vergebens. Mit Grauen wurde mir auf einmal bewußt, wer sich da auf dem Flur befand. Die Tür öffnete sich… Schweißgebadet wachte sie auf. Sie hatte schon lange nicht mehr von IHNEN geträumt, ihrem ehemaligen Ensemble.
Es war Sonntag, ihr freier Tag. obwohl ihre polnische Mutter sie katholisch erzogen hatte, war Hellen nicht religiös. Trotzdem war der Sonntag für sie ein besonderer Tag. Ein Tag der Ruhe und Kontemplation. Außerdem brauchte ihr Körper an einem Tag die Woche Erholung. Sie kam langsam in ein Alter in dem sie anfangen musste, auf sich zu achten. Sie hatte schon oft genug erlebt wie ältere Tänzer von einer Verletzung zur nächsten taumelten. War sie schon ein ältere Tänzerin? Ihr Spiegeltbild sagte nein, der Blick in ihr Inneres zeigte jedoch eine Frau die schon zu viel erlebt hatte.
Diesen Sonntag würde sie nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte Angst. Sie hatte Angst vor denen die vor ihrer Tür stehen konnten. Nicht wie im Traum, sondern ganz konkret. Helen fürchtete sich nicht so sehr vor der Polizei. Ja das wäre unschön, aber eine kleine Frau die einen starken Mann niederschlug, in einem sexuellen Kontext, wie belastbar war sowas? Doch dem EES oder genauer gesagt, denjenigen die hinter ihm standen, war es egal ob sie nun klein oder groß war.
Helen dachte mit flauem Gefühl an bestimmte Partys zurück. Normalerweise gab es keinen Partydienst für die EES Mädels. Sie waren die Creme de la Creme des Escort Business, aktive Tänzerinen und Showgirls. Es war undenkbar, sie bei einer größeren Veranstaltung als Prostituierte zu outen. Mit einer Ausnahme. Jedes Jahr vor Weihnachten gab es eine Zusammenkunft der, wie sie sich selber nannten „Bosse der Bosse“. Das war gleichzeitig so was wie ein EES Klassentreffen. Denn nur dieses eine mal im Jahr kamen alle EES Girls auf einer Party zusammen. Dennoch hatte keine Angst, das etwas von dort an die Öffentlichkeit dringen würde. Niemand verlor ein Wort darüber, wen er auf so einer Party gesehen hatte und das hatte nichts mit einem Ehrenkodex unter Huren zu tun.
Das waren schon besondere Events. Auch die Bezahlung lief dort anders ab als sonst. Es gab kein Honorar, nur das Geld das sie einem zusteckten. Dafür durfte man es zur Gänze behalten, denn davon 50 % an den EES abzuführen, hätte nun überhaupt keinen Sinn gemacht. Helen erinnerte sich an den Kerl mit dem Narbengesicht und an den „höflichen Frank“. Wobei Frank wirklich sehr höflich war, selbst das Narbengesicht. Aber keinen von beiden wollte sie vor ihrer Tür stehen haben.
Helen hatte es versaut. Es war schon nicht gut, wenn sich ein Kunde nur beschwerte. Wenn er sich aber darüber beschwerte niedergeschlagen worden zu sein, dann war das schlimm, richtig schlimm. Das war geschäftsschädigend, bei einem Geschäft bei dem es um große Summen ging. Und in ihrem Fall stand da auch noch die Millionen Dollar im Raum… Helen drehte sich der Magen um.
Andererseits, dieser Jon Typ schien sie wirklich zu mögen, zumindest bis sie ihn niedergeschlagen hatte. Er hatte einen klugen Eindruck gemacht. Wenn er also 1&1 zusammenzählte, würde es ihm sicher klar werden was ein Anschwärzen für sie bedeuten konnte. Das würde er bestimmt nicht wollen. „Das würde Jon nicht tun“ sagte sie laut. Sie sagte es diesem Sonntag öfter als nur dieses eine Mal. Es wurde ein Mantra. Doch alles half nichts. Als die Nacht näherrückte, war sie außer sich vor Sorge. Denn sie kamen nachts, meistens kamen sie nachts.
Sie lag wach in ihrem Bett und hörte auf die Motorgeräusche der vorbeiziehenden Autos. Bis auf wenige Ausnahmen waren diese Geräusche ein gleichmäßiges lauter und wieder leiser werdendes Brummen. Sie würden sich bei ihr nicht die Mühe machen, ein paar Häuserblock entfernt zu parken. Bei einem der Autos war es anders. Helen richtete sich auf und lauschte in die Dunkelheit der Nacht, das Herz schlug ihr bis zum Hals, kalter Schweiß lies ihr Nachthemd an ihrer Haut kleben. Da, der Wagen fuhr wieder an. Sie stand auf, unfähig sich wieder zu beruhigen, wagte es nicht Licht anzuschalten und brühte sich einen Tee im spärlichen Licht der Straßenlaternen das durch die vergitterten Oberlichter ihres Lofts fiel. Sie setzte sich an ihren Computer und sah für den Rest der Nacht sinnlos Katzenvideos, „Best of“ Listen und andere Ablenkung auf You-Tube an. Am nächsten Morgen wusste sie, was zu tun war. Diese Nacht hatte sie überstanden, aber es würde keine weitere für sie hier in Vegas geben.
Sie hängte ein Schild an die Eingangstüre ihre Tanzschule, in der sie sich für heute krankheitsbedingt entschuldigte. Sie wagte nicht, die Information über den üblichen E-Mail Verteiler raus zu geben. Dann packte sie das Nötigste zusammen. Doch wollten sich 5 Jahre Las Vegas nicht ohne weiteres in den Kofferaum ihres alten Toyota quetschen lassen. Es wurde Nachmittag ehe sie fertig war. Sie unterdrückte das Verlangen, noch Leuten Bescheid zu geben. Denns sie wollte niemanden mit der Nase drauf stoßen, das sie abhauen würde. Doch es gab eine Ausnahme.
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von: Helen [dancingqueenhelen0785@gmail.com]
an: Eve Taylor [eve1984ruth@aol.com]
Betreff: Abschied von Vegas
Liebste, geliebte Eve!
Du liest richtig, geliebte Eve. Denn ich habe nie aufgehört Dich zu lieben. Trotz allem trage ich unsere schönen Momente im Herzen, als wären sie gestern geschehen. Genausowenig werde ich die Umstände unserer Trennung vergessen. Ich kann meine Gefühle eben nicht ausknipsen wie eine Maschine und so gesellt sich zu Deiner Liebe nun auf ewig der Schmerz dieser Trennung. Dies wird die letzte Nachricht sein, die du je von mir erhalten wirst, denn ich verlasse Las Vegas. Das wird Karl sicher sehr freuen. So wie ich ihn kennengelernt habe, wird er sich vor Ort vergewissern, das dem so ist. Er kennt die Örtlichkeit ja noch von seinen „Observationen“. Vielleicht hast Du es dann ein wenig leichter mit ihm und er hört auf, Dir so auf die Finger zu schauen.
Ich ahnte zwar, das Du dich, wen es hart auf hart kommt, für die Kinder und Karl entscheiden würdest. Die Brutalität mit der Du diese Entscheidung dann aber durchgezogen hast, die erschüttert mich bis heute. Das kann ich dir nicht vergeben. Mein Abschied aus Vegas wird ein absoluter sein. Kein Blick zurück, außer diesem letzten, den ich mir mit dieser E-Mail gestatte. Sollte Dich die unwahrscheinliche Gefühlsregung überkommen, mir diesmal antworten zu wollen, dann kann ich Dir dieses eine mal sagen, das es zwecklos ist. Ich werde meinen E-Mail Account und die Dir bekannte Telefon-Nummer nicht länger benutzen.
Ich trauere um den Menschen der Du mal warst!
In Liebe
Helen
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Sie fuhr das Notebook runter und klappte es zusammen. Eine gewisse Wehmut ergriff sie. Helen sah sich noch mal um. Ihr Appartment hatte sie mit viel Arbeit in den ehemaligen Büroräumen des Lagerhauses eingerichtet, das jetzt ihre Tanzschule und Abends ein Dojo war. Es sah immer noch unfertig aus. Irgendwie war sie hier nie richtig heimisch geworden. Jetzt gab es nur noch eine Sache in Vegas zu tun. Sie wollte ihre Ersparnisse als Geldscheine in ihrer Tasche spüren, 3800 Dollar in bar. Desmal waren es 3800 Dollar, plus das Kleingeld in ihrer Handtasche. Sie war nun zum dritten mal auf dem Weg in eine neues Leben, oder auf der Flucht vor ihrem Alten, je nachdem wie man es betrachtte. 5000, 400 und nun 3800 Dollar, die Zahlen standen stellvertretend für die Umstände.
Bei der Fahrt zur Bank musste sie sich zwingen, nicht ständig in den Rückspiegel zu blicken. Einmal bog sie bewußt rechts ab, um einen schwarzen SUV, der schon einige Häuserblocks hinter ihr her fuhr, an sich vorbeiziehen zu lassen. Erst nach einiger Zeit in der falschen Richtung ohne diesen „Verfolger“ fühlte sich Helen in der Lage, die Fahrt Richtung Bank fortzusetzen.
„Eine Bank ist ein sicherer Ort, sie werden dort nicht auf mich warten. Die Bank ist sicher…“ Sie wiederholte siesen Gedanken immer wieder, um ihre ihre überspannten Nerven zu beruhigen. Als sie dei Bank betrat, war ihr schwindlich vor Aufregung. Sie reihte sich als Dritte in die kurze Schlange vor dem Schalter ein. Als sie dran war, liesen ihre zitternden Hände die Bankkarte fallen. Doch schließlich schaffte sie es.
„Miss, wie kann ich ihnen helfen?“ „Alles abheben, alles was da ist.“ Der Bankangestellte machte sich an seinem Terminal zu schaffen und zuckte kurz mit den Augenbrauen, dann wand er sich wieder Helen zu. „Tut mir leid Miss Thomas, aber das geht nicht.“ Helen wurde fast schwarz vor Augen und sie musste sich an der Tischplatte des Schalters vor ihr festhalten. „Beträge über 10.000 Dollar müssen einen Tag vorher angemeldet werden. Sie können jetzt 10.000 Dollar haben und den Rest Morgen…“
Helen verstand nicht, was der Mann ihr sagen wollte. „Wie bitte?“ antwortet sie verwirrt. „Sie können aber auch Morgen die gesamte Summe auf einmal abheben, also die ganzen 28.547 Dollar, wie ist es ihnen lieber?“ Endlich fasste sie sich. „Sie wollen mir sagen, das da über 28.000 Dollar Guthaben auf meinem Konto sind? Irrtum ausgeschlossen?“ „Ja, sehen sie, erst heute Mittag haben sie eine Überweisung über 25.000 Dollar von der National Bank of the Virgin Islands erhalten. Soll ich das überprüfen lassen?“ „Nein, nicht nötig.“
Helen wusste sofort, wer hinter der Überweisung steckte. Das war die Hausbank des EES und die 25.000 Dollar waren ihr Hurenlohn. Sie fuhr wieder nach Hause und grübelte. Endlich setzte sie sich an den Rechner und schrieb eine Nachricht an die EES Geschäftsleitung.
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22.09.2014, 13:33:12
Postausgang Jacky_o
An: EES_Geschäftsleitung
Betreff: 25.000 Dollar
Hallo Janine,
ich bin überrascht. Ich habe von Euch eine Überweisung über 25.000 Dollar erhalten. Wie kam es dazu? Ich habs noch nicht angerührt. Ihr könnt es wiederhaben.
Eure Jacky_O
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22.09.2014, 14:03:17
Posteingang Jacky_o
Von: EES_Geschäftsleitung
Betreff: AW: 25.000 Dollar
Hallo Jacky,
das Geld gehört Dir. Du hast da jemanden anscheinend sehr glücklich gemacht :-). Ohne das es vereinbart war, hat JonSnow für das Treffen am Samstag 50.000 Dollar springen lassen. Eine Spitzenbewertung gab es obendrein. Sag, hast Du nicht Lust, bei uns wieder voll einzusteigen, erstmal für ein Jahr?
Was ist mit dem großen Job über die 1.000.000$, wird da was draus?
Viele Grüße
Janine
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Die letze Zeile verschwamm vor ihren Augen als diese sich mit Tränen füllten. Jon hatte dicht gehalten. Stattdessen spielte er jetzt den Gönner der alles verzieh. Dann war sie wohl das verwirrte Mädchen, dass es zu beschützen galt? Nein, so konnte Helen das nicht stehen lassen. Schon öffnete sie den Ordner, in dem sie die Konversation mit Jon abgelegt hatte, doch da war nichts mehr, alles leer. Verdammt! Sie erinnerte sich an eine Funktion des EES-Messengers. Wenn sich ein Mitglied abmeldete, dann löschte die App automatisch jede Nachricht von oder zu ihm. Erschrocken versuchte es Helen mit einer neuen Nachricht. Doch alles was sie als Antwort erhielt war eine Fehlermeldung des Systems „Benutzer unbekannt“.
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