In dem Moment, in dem Svens die Tür aufreißt, höre ich auf, zu atmen.

Wer bin ich? Tom, Kumpel, Svens Kumpel. Sven, der neben mir auf dem Bett liegt, nackt, so wie ich, dessen Penis jetzt nicht mehr hart ist, mit dem ich Sex hatte, den ersten Sex meines Lebens, gerade eben.

Ich bin nackt. Reflexartig versuche ich, mich zu bedecken. Es ist so unangenehm, so unglaublich unangenehm, hier von Svens erwischt zu werden. Und was hat er eben gesagt?

„Juungs? Kommt mal eben hoch, mein kleiner Bruder war mal wieder unartig!“ Was soll das heißen? Es muss heißen, dass Tim sofort verstanden hat, was los ist. Es heißt auch, dass er Sven schon einmal in dieser Situation erwischt hat. Mit wem? Sven ist mein bester Kumpel, wir verbringen wahnsinnig viel Zeit zusammen. Kann es sein, dass er einen Teil seines Lebens so lang vor mir verstecken konnte? Es muss so sein. Und dann ist da noch. Tim ist nicht allein. Und er schämt sich nicht, uns entdeckt zu haben. Nein, so wie er jetzt schaut, ist das nicht das Gefühl der Scham, das einen unfreiwillig zum Gewordenen befällt. Tims Augen blitzen hasserfüllt.

Es poltert auf der Treppe zu Svens Zimmer, und kurz darauf stehen sie zu dritt im Zimmer. Tim sieht seinem Bruder sehr ähnlich – die gleichen blonden Haare über dem gleichen sommersprossigen Gesicht, dessen auffälligstes Merkmal die hellblauen Augen sind. Aber er ist kleiner als Sven und drahtiger, und die Muskeln zeichnen sich direkt unter seiner Haut ab. Die beiden anderen habe ich noch nie gesehen, es müssen Freunde von Tim sein, alle drei kommen offenbar vom nah gelegenen Badesee.

Ich presse noch immer eine Hand über meinen Schwanz, die Erektion lässt nur langsam nach. Mit der anderen wische ich mir im Gesicht herum, versuche das Sperma zu verstecken, das Sven mir vor zwei Minuten auf die Lippen, die Wangen, einfach überall hin gespritzt hat. Aber natürlich ist das vollkommen nutzlos, denn die drei Männer haben die Situation längst erfasst.

Ich schaue rüber zu Sven, fragend, völlig überfordert, und er schaut mich an, Panik in den Augen. Dann zurück zu Tim.

„HEY..!“, setze ich protestierend an, ich will die drei nach draußen schicken, und warum verdammt sagt Sven nichts, und warum sind die drei nicht schon längst wieder vor der Tür oder lachen über uns, wenn sie denn müssen, was passiert hier?

„Ganz ruhig, ja?“, herrscht mich Tim sofort an. „Das hat dir mein Bruder wohl nicht gesagt, was? Aber in diesem Haus gibt es keine Schwuchteln, in meinem Haus hat das nichts zu suchen, hast du das verstanden?“ Er öffnet seinen Gürtel. Einen absurden Augenblick lang bin ich sicher, dass er mich vergewaltigen wird.

Einer der anderen macht jetzt einen Schritt auf mich zu. „Aufstehen und da rüber!“ Er deutet ans Bettende.

„Was soll DAS DENN?“ meine Stimme überschlägt sich und wird lauter, ich schreie die Worte. Der Schlag trifft mich völlig unvermittelt im Gesicht. Meine Wange fängt sofort an glühend heiß zu pochen, und mein Kopf fliegt nach hinten.

„Aufstehen und da rüber.“ Ich stehe auf. Ich gehe zum Bettende. Mein Herz überschlägt sich, und mein ganzer Körper ist gespannt, schreit danach, zu rennen.

Während Tim seinen kleinen Bruder mit dem Gürtel verdrischt, weil er uns beim Sex erwischt hat und Schwule hasst, und seinen Bruder hasst, stehe ich wie festgefroren am Bettende und zittere in der Julihitze. Es ist das Gefühl unters Eis getaucht zu sein, und die Orientierung verloren zu haben, es ist Panik, die nach Flucht verlangt gepaart mit lähmender Angst. Ich zähle Schläge, die Zeit steht. Sven schreit nicht, aber ich sehe, dass er weint.

Dann sind wir allein.

„Sven. Was war das? Ist das schon mal passiert?“ Ich habe noch nicht ansatzweise verarbeitet, was wir gerade erlebt haben. Der Sex, dann die Gewalt. Es fühlt sich völlig unwirklich an, dass beides an einem Tag passiert sein soll.

Sven antwortet nicht. Stattdessen steht er auf, greift sich meine Hand und zieht mich ohne ein Wort ins Badezimmer. Wir duschen, zusammen, kalt, so lange bis unsere Lippen blau sind und wir uns wie Ertrinkende aneinander klammern, um dem anderen ein bisschen Wärme zu stehlen.

Es ist immer noch Sommer.

Nach einer Ewigkeit kommen wir aus dem Badezimmer, Sven versorgt mich wieder mit Klamotten, und erst als wir angezogen sind, schaut er mir in die Augen.

„Ja. Tom, ich will heute nicht mehr hier sein. Können wir irgendwo hingehen, was trinken oder so?“ Aus seinen Haaren tropft Wasser auf sein Gesicht und sein T-Shirt.

„Okay… okay, ja. Machen wir.“

Halb sieben im Sommer fühlt sich nicht an wie abends. Ich hole uns Bier, und wir sitzen uns gegenüber. Ich will irgendetwas sagen, aber in meinem Kopf zerspringen die Gedanken noch bevor ich sie greifen und in Worte fassen kann.

Wir sind beide beim dritten Bier, als Sven Luft holt und das Schweigen bricht.

„Es … es tut mir leid, was passiert ist. Es tut mir leid, Tom. Ich… Tim… Das ist… Ich, ich weiß nicht was das ist. Ich weiß nicht warum, oder was ich tun soll.“ Er beißt sich auf die Unterlippe und lässt das Bierglas nervös zwischen den Händen kreisen.

„Wer weiß davon? Wie oft ist das passiert?“

„Niemand sonst. Zweimal. Einmal… ich hatte diesen Typen, das erste mal war er schon weg, Tim und Nick kamen rein, wollten wissen wer das war. Ich hatte sms auf dem Handy von ihm, sie haben gesagt, das würden sie mir … schon austreiben.

Das zweite Mal haben sie uns erwischt, da waren sie zu dritt, wie heute. Der Typ ist danach abgehauen, keine Ahnung wohin. Ich hab dann versucht ihn zu erreichen, damit er die Klappe hält, aber er is natürlich nicht mehr ans Handy oder so.“

„Wie, die Klappe hält? Scheiße… die Klappe hält?“

„Wenn du es erzählst, leugne ich es.“

„Willst du mich verarschen, Sven? Alter!“ ich senke meine Stimme. „Sven, dein Bruder, ich meine, Tim hat dich grade… du kannst das nicht ernsthaft verschweigen wollen!“

„Das ist mein Bruder. Was glaubst du denn, was ich tun soll? Geh ich zu meinen Eltern? Was soll ich denen sagen, hey, ich schlafe mit Männern und Tim… scheiße, ich hab mir das alles überlegt, es ist scheiße, es macht mich fertig, aber du darfst nichts sagen. Du musst das für mich machen. Du kommst nicht mehr zu mir, dann passiert nichts mehr. Bloß erzähl niemand was. Niemals.“ Er schaut mich jetzt direkt an, und fügt hinzu „Sie haben dir nichts getan, nicht wirklich, und ich will, dass du niemandem davon erzählst, was mit mir ist. Du hast kein Recht, das ist meine Sache.“

Das kann ich nicht. Ich starre Sven noch ein Sekunden an, dann stehe ich auf und gehe.

Es dämmert, und als ich aus der Bahn aussteige, ist es dunkel. Zuhause poltere ich die Stufen zu meinem Zimmer hoch.

Die verschlafene Stimme meiner Mum, ich soll nicht so einen Lärm machen, dringt aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. So wie immer. So wie immer. So wie immer.

Ich stehe im Treppenhaus, und drücke mir die Fäuste gegen die Schläfen. Ich will laufen, weglaufen und nie wieder kommen, ich will schreien, ich. muss. reden.

?“ Ich klopfe vorsichtig an die Tür. Von drinnen kommt nur ein verschlafenes Hmmmmm. Ich mache die Tür auf und flüstere.

„Mama, ich… wir… komm mal bitte.“

Die Lampe über dem Küchentisch ist hell. Ich bin mir sicher, dass das Licht heute intensiver ist, richtig unangenehm. Meine sitzt mir in einem hellgrünen Schlafanzug mit Blumenmuster gegenüber. Jetzt ist die Zeit, zu reden.

„Mama… ich… ich war doch heute bei Sven.“, fange ich an.

„Was ist mit Sven?“

Mein Kopf ist wieder voller explodierender Gedanken, Wortfetzen. Ich fange fünf, dann zehn Mal an, drei Wörter, danach breche ich ab, der Satz ist weg, in meinem Kopf dröhnt es und ich stehe hilflos vor allem, was ich sagen will.

„Schau, Tom, vielleicht schläfst du nochmal drüber, denk drüber nach und sag es mir morgen, Schatz, ja? Ich muss wirklich früh raus, morgen mittag können wir reden, geht das?“

Ich nicke mit dem Kopf. Als ich plötzlich in Tränen ausbreche, bin ich selbst ein bisschen überrascht. Meine Mutter schaut erschrocken, dann umrundet sie den Tisch und nimmt mich in die Arme. Sie flüstert Sachen, dass alles gut wird, das es nicht so schlimm sein kann, dass morgen auch ein Tag ist, das sie auf mich aufpasst, aber das macht es alles nur noch schlimmer. Heute Morgen kannte sie mich noch, heute morgen hab auch ich mich noch gekannt. Jetzt ist alles anders. Eine geflüsterte Frage, ich verstehe sie erst beim zweiten Mal.

„Sven und du. Also… Tom, ist es vielleicht so, dass ihr… dass du dich verliebt hast? Weil wenn das so ist… dann musst du wissen, dass wir dich alle genau so lieben, wie du bist, weißt du? Das ist okay, wenn es das ist“

Ich nicke an ihrer Schulter. Darum geht es nicht. Aber es geht trotzdem auch genau darum. Ich nicke weiter, ich höre nicht auf, weine und nicke. Meine Mutter bleibt bei mir sitzen, bis ich mich wieder einkriege, und es tut unglaublich gut, auch wenn sie nicht weiß, warum sie mich tröstet. Später schlafe ich ein, und ich erinnere mich an keine Träume aus dieser Nacht. Nichts als erschöpften, dunkelblau gefärbten Schlaf.

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