Christoph war wie vom Donner gerührt. Größer konnten die Gegensätze nicht sein. Erst diese wunderbare Nacht, seine erste „richtige“ Nacht mit einer Frau, und dann Gabis Verschwinden und der Zettel, dessen Inhalt man im besten Fall mysteriös nennen konnte.
Eigentlich hätte er sich am liebsten wieder umgedreht, um weiterzuschlafen. In der Hoffnung, dass sich alle Probleme im Schlaf lösen. Das ging aber nicht. In einer halben Stunde war eine Vorlesung, die er nicht versäumen durfte. Nach kurzer Katzenwäsche und ohne Frühstück machte er sich auf den Weg in die Uni und erreichte den Hörsaal gerade noch rechtzeitig.
So richtig gelohnt hatte sich die Blitzaktion nicht. So gut der Professor und so wichtig der Stoff war, Christoph war mit seinen Gedanken ganz woanders. Für ihn gab es nur Gabi, Gabi, Gabi und das Rätsel um ihren überstürzten Aufbruch. So gesehen war er sehr froh, als die Vorlesung vorbei war und er Gelegenheit hatte, in der Cafeteria sein Koffeindefizit zu bekämpfen. Der Kaffee war zwar nicht brillant, als Wachmacher taugte er aber allemal.
Ansonsten erging es ihm in der Cafeteria nicht anders als im Hörsaal. Immer wieder zermarterte er sich das Hirn über die Frage, was denn um Himmels willen bei Gabi innerhalb weniger Stunden diesen kompletten Sinneswandel ausgelöst hatte. Entsprechend trübsinnig starrte er in seine Kaffeetasse, als ihn eine freundliche Stimme mit schwäbischem Akzent fragte: „Ist hier noch frei? Darf ich mich zu Dir setzen?“.
Nein, es war nicht Gabi. Das wäre zu schön gewesen. Es handelte sich vielmehr um Claudia, ihr „alter ego“. Tatsächlich war das eine der seltenen Situationen, in der die eine ohne die andere zu sehen war.
Christoph blickte kurz hoch, lächelte etwas gequält und sagte nur: „Klar.“
„Na, Dich hat es ja ganz schön erwischt, so wie Du schaust. Ich habe Dich schon im Hörsaal beobachtet. Dann habe ich beschlossen, mal ein bisschen mit Dir zu quatschen. Ich muss aber gleich sagen, allzu viel kann ich Dir auch nicht erzählen. Das muss sie schon selber machen.“
„Dann schieß mal los“.
„Also ich fange mal damit an, dass Du nicht der einzige bist, den es erwischt hat. Bei Gabi geht das schon seit ein paar Wochen. Wenn wir über Kommilitonen gesprochen haben, kamst zuletzt immer nur Du vor: ‚Ach, der Christoph, der ist so süß. Mit dem würde ich gerne mal länger quatschen. Nur quatschen, keine Sorge.‘ Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie solle sich und vor allem Dich nicht unglücklich machen und die Finger von Dir lassen. Aber sie wollte nicht hören. Heute früh, bevor sie losgefahren ist, hat sie mir gesagt, dass ich absolut recht hatte und sie die dümmste Kuh von allen dummen Kühen ist. Also immer dann, wenn sie mal kurz mit dem Heulen aufgehört hat. Nur gut, dass sie mit dem Zug nach Stuttgart gefahren ist und nicht mit dem Auto. Da hätte man echt Angst haben müssen.“
„Aber warum denn um Himmels willen? Ich hab‘ überhaupt keine Ahnung, was eigentlich los ist. Gestern Nacht war noch alles…“
„…wunderschön? Ja, das hat sie auch gesagt. Sie war schwer beeindruckt von Dir. So als Mann sozusagen. Ist ja auch kein Wunder.“ Bei den letzten Worten grinste sie über beide Ohren. Dieses Grinsen war eine Mischung aus maliziös und kumpelhaft. Geht eigentlich nicht. Ging in diesem Fall aber schon.
„Danke für das Kompliment. Das freut mich jetzt auch irgendwie. Aber das Rätsel wird damit eigentlich nur größer. Wenn es nicht an mir lag, dann…“
„Liegt es am Dritten D“, entgegnete ihm Claudia. Das war ein Juristeninsider: Schon im ersten Semester wurden im Zivilrecht immer wieder Fälle behandelt, bei denen eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen erst dann richtig kompliziert wurde, wenn und weil in der entscheidenden Situation noch ein Dritter dazukam. Der wurde dann der Einfachheit halber gerne mit dem Buchstaben „D“ bezeichnet. D wie „Dritter“. „Also es ist tatsächlich so, dass es da noch jemanden gibt. Nicht hier, sondern daheim im Schwabenland. Das ist aber extrem problematisch mit den beiden. Ich weiß zwar warum, aber das muss Dir Gabi unbedingt selbst erzählen“.
„Meinst Du denn, ich habe noch eine Chance?“ fragte Christoph verzagt.
„Also verdient hättest Du sie. Schon, weil Gabi das gestern Abend niemals hätte bringen dürfen. Aber ganz ehrlich: Ich glaub’s nicht. Ich würde mich an Deiner Stelle nach etwas Anderem umschauen. Natürlich erst, wenn Ihr Euch ausgequatscht habt und Du Dich wieder erholt hast. Gabi schätzt, dass sie nächste Woche so am Mittwoch, spätestens Donnerstag wieder da ist („heute“ war übrigens Freitag). Dann möchte sie sich gleich als erstes mit Dir treffen und Dir alles erklären. Hältst Du es so lange noch aus?“
„Muss ich ja wohl“, antwortete Christoph — immer noch verzagt und mit gequältem Lächeln. Aber längst nicht mehr so verzagt und gequält wie vor dem Gespräch mit Claudia. Sehr nachdenklich sah er sie an und sagte dann: „Eigentlich komisch. Jetzt ist nichts besser als vorher. Und dass es da noch jemanden gibt, war zumindest eine der Erklärungsvarianten, auf die ich auch schon gekommen bin. Trotzdem geht es mir jetzt schon deutlich besser. Also vielen Dank für Deine Hilfe. Magst Du auch noch einen Kaffee? Ich brauche jedenfalls noch einen.“
Claudia sagte gerne zu. Schließlich war sie sehr erleichtert, dass sie die schwierige Aufgabe so gut hinter sich gebracht hatte. Und Christoph tat ihr von Herzen leid. Er war ja wirklich ein ganz Lieber, der da völlig ohne eigenes Verschulden in ein komplettes Gefühlchaos gestürzt war. Und so unterhielten sie sich, nachdem Christoph mit dem frischen Kaffee zurückkam, noch eine gute halbe Stunde angeregt über alles Mögliche: Die Vorlesung heute Morgen, erste Ideen für Weihnachtsgeschenke und die jeweiligen Pläne fürs Wochenende.
Apropos Wochenende: Eigentlich hatte Christoph vor, sowohl am Freitag als auch am Samstag mit den Jungs zu Partys in zwei verschiedenen Wohnheimen zu gehen. Danach war ihm jetzt überhaupt nicht mehr zumute. Also ging er am Samstagvormittag in die Bibliothek, um den Stoff der quasi versäumten Vorlesung von Freitag nachzuarbeiten. Samstagabend war Kino angesagt. Am Sonntag unternahm er einen langen Spaziergang und las danach einen spannenden Krimi, um wieder etwas auf andere Gedanken zu kommen. Montag, Dienstag und Mittwoch waren ohnedies voll mit Vorlesungen, Übungen und anderen festgesetzten Terminen. Dadurch gelang es Christoph, die Wartezeit bis zu Gabis Rückkehr halbwegs unbeschadet zu überstehen.
Als er dann am Donnerstagmorgen zum Eingang des Wohnheims marschierte, um die von ihm abonnierte Zeitung aus seinem Briefkasten zu ziehen, fand er neben der Zeitung noch einen unfrankierten Briefumschlag vor, auf dem vorne als Adressat nur sein Name und hinten als Absender „Gabi“ stand. Sie schrieb: „Lieber Christoph, sei bitte nicht böse, dass ich mich erst heute bei Dir melde! Ich brauchte aber die Zeit zuhause dringend, um eine Lösung für mein Problem zu finden. Es tut mit unendlich leid, dass ich Dich in diese Situation gebracht habe. Ich würde Dir gerne alles erklären. Können wir uns heute um zwei nach der Vorlesung unter der Eisenbahnbrücke treffen?“
Christoph fand den Brief zwar sehr warmherzig, aber irgendwie auch final. Nicht zuletzt dank des Gesprächs mit Claudia nahm er sich vor, sich keine Hoffnungen auf einen guten Ausgang zu machen und das Gespräch am Nachmittag mit Anstand über die Bühne zu bringen. Das war am Anfang gar nicht so leicht. Denn die Gabi, die er zur verabredetem Zeit am Fluss traf, hatte nur noch geringe Ähnlichkeit mit dem Mädchen, in das er sich vor einer Woche unsterblich verliebt hatte. Blass sah sie aus und unendlich traurig. Er war von ihrem Anblick so geschockt, dass er das Mädchen erst mal in den Arm nehmen musste. Damit ergriff er zu Beginn des Gesprächs die Initiative — eine Rolle, die eigentlich Gabi hätte übernehmen müssen. Die sah ihn, nachdem sie sich aus der Umarmung gelöst hatte, ganz vorsichtig, fast scheu an und fragte sehr leise: „Bist Du sehr sauer auf mich?“
„Sauer ist nicht das richtige Wort. „Enttäuscht“ trifft es eher. Die Nacht mit Dir war so schön. Und dann bist Du plötzlich weg. Das hat mich schon ziemlich umgeworfen.“
„Natürlich. Ach Christoph, es tut mir einfach nur schrecklich leid. Ich hätte eigentlich schon gar nicht zu der Erstsemesterfete gehen sollen. Zumindest hätte ich Dich nicht zum Tanzen auffordern dürfen. Und auf gar keinen Fall hätte ich mit Dir mitgehen dürfen. Claudia hat mich ja wirklich gewarnt gehabt. Aber ich dumme Kuh habe nicht auf sie gehört. Ich habe gedacht, ich habe alles im Griff. Bisschen quatschen, kleiner Flirt, bisschen tanzen, bisschen knutschen — und dann tschüss. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass Du bei mir alle Kerzen gleichzeitig anzünden würdest und… Entschuldige, aber es ist einfach nur zum Heulen!“ Sprach’s und brach dann so in Tränen aus, dass Christoph gar nicht anders konnte, als sie zum zweiten Mal in den Arm zu nehmen.
„Wenigstens habe ich mich nicht komplett blamiert. Aber vielleicht magst Du mir mal erzählen, was eigentlich ist.“
„Was ist? Ich kann nicht mit Dir zusammen sein. Das ist. Ich kann auch nicht mehr hierbleiben. Aber es ist so schwer. Ich weiß, dass es wunderbar hätte werden können mit uns. Und lange gehalten hätte, vielleicht sogar sehr lange. Aber es geht nicht.“ Die Tränen kamen wieder, noch stärker als beim ersten Mal. Die beiden waren, ohne dass sie darüber richtig gesprochen hätten, von der Uni an flussaufwärts marschiert. Jetzt kamen sie gerade an einer Bank vorbei. Christoph blieb nichts anderes übrig, als Gabi mit sich auf die Bank zu ziehen, ihr seine Schulter zum Anlehnen zu geben und zu warten, bis Gabi wieder sprechfähig war.
„Also gut, ich versuche jetzt wirklich, mich zusammenzureißen. Weißt Du, ich hatte bis zum Abi mit Jungs nie wirklich Glück. Nicht, dass ich es nicht probiert hätte. Eher im Gegenteil. Aber es hat immer nicht gepasst. Einer sah zwar gut aus, war aber komplett hohl. Einer war total langweilig. Der nächste war das volle Muttersöhnchen, der bei allem immer erst seine Eltern fragen musste.
Das ging so bis zur Abifahrt. Da bin ich mit ein paar Leuten aus meinem Jahrgang nach Kos. Tolle Insel, tolles Wetter, lauter coole Leute. Und einer war dabei, der mir zu Schulzeiten nie so richtig aufgefallen ist. Was auf Gegenseitigkeit beruhte, wie er mir dann anvertraut hat. An einem Abend, in dem die anderen alle in die Disco marschiert sind. Nur wir beide hatten keine Lust auf Disco. Wir haben uns in einer Kneipe eine Flasche Retsina besorgt, haben uns auf einen Felsen gesetzt und der Sonne beim Untergehen zugeschaut. Und dann haben wir die ganze Nacht gequatscht, und, na ja, sind uns dabei halt nähergekommen. Erst als die Sonne wieder aufgegangen war, sind wir ins Bett. Und zwar zusammen.
So ging es dann für den Rest des Urlaubs weiter. Am Ende habe ich mir gedacht, mit dem Typen könnte ich es jetzt zumindest etwas länger versuchen. Als wir wieder daheim waren, haben wir das nächste Wochenende komplett bei ihm verbracht. Er hatte sturmfrei, weil seine Eltern zu Besuch bei Verwandten waren. Irgendwann am Sonntagnachmittag rief dann die Polizei bei ihm an. Seine Eltern seien auf der Autobahn bei Karlsruhe in einen Verkehrsunfall geraten, ihr Zustand sei kritisch. Wir sind dann sofort nach Karlsruhe ins Klinikum, aber da war es schon zu spät. Für beide. Er hat noch eine Schwester, die zwei Jahre älter ist. Der Rest der Verwandtschaft ist über alle Erdteile verstreut: England, Amerika, Hongkong, keine Ahnung wo noch. Seine Schwester und er haben dann die Beerdigung und den ganzen blöden Bürokratiekram organisiert, total heldenhaft. Danach ist er ziemlich zusammengebrochen.
Zwei Wochen später kamen die ZVS-Bescheide. Er nach Tübingen, wie gewünscht. Aber ich hierher. Von Stuttgart aus ans Ende der bewohnten Welt. Und das schlimmste ist: Vor drei Wochen war seine Schwester bei einer Routineuntersuchung und der Arzt hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Dann war sie in Tübingen in der Uniklinik und die haben bei ihr Brustkrebs festgestellt. Ich habe immer gedacht, das bekommen nur ältere Frauen. Stimmt aber nicht. Jetzt liegt sie in der Klinik und wird bestrahlt. Nicht hoffnungslos, sagen die Ärzte, aber auch nicht sicher, dass sie durchkommt.
Ich kann ihn jetzt nicht im Stich lassen. Es ist zurzeit wirklich nicht leicht mit ihm. Ist ja auch klar, weil er mit seinem Kopf immer woanders ist. Ich will ihn auch nicht überfordern. Andererseits, ein bisschen wohlfühlen zwischendrin ist auch mal schön. Deswegen war ich nach all den traurigen Wochen so dankbar für die wunderbare Nacht mit Dir. Und nachdem ich mich bei Dir rausgeschlichen hatte, habe ich die ganze restliche Nacht mit mir gerungen, ob ich nicht doch mit ihm Schluss machen soll. Aber es geht einfach nicht. Ich würde mir den Rest meines Lebens Vorwürfe machen. Verstehst Du das?“
Christoph saß erst mal ein paar Minuten nur schweigend da. Diese Geschichte musste er in ihrer Heftigkeit erst einmal erfassen. Von „verarbeiten“ war da noch gar nicht die Rede. Irgendwann sagte er: „Ja, das verstehe ich. Ich könnte auch gar nicht von Dir verlangen, dass Du bei mir bleibst. Ich würde es wahrscheinlich genauso machen. Ihr beide tut mir wahnsinnig leid. Hoffentlich schafft es seine Schwester. Natürlich musst Du jetzt bei ihm bleiben. Nur eines musst Du mir versprechen“
„Und zwar?“
„Mach Dir keine Vorwürfe mehr wegen letztem Donnerstag. Für mich wird die Nacht immer etwas ganz besonderes bleiben. Meine erste richtige Nacht mit einer Frau. Und dann noch mit einer so klugen, schönen und tollen Frau. Und wenn es für Dich zumindest eine kurze Befreiung aus der Traurigkeit war, dann war das doch auch gut. Vielleicht musste das einfach so passieren.“
Jetzt war es an Gabi, zu schweigen. Mit so viel Verständnis und Mitgefühl hatte sie nicht gerechnet. Sie konnte jetzt auch nichts sagen. Stattdessen nahm dieses Mal sie Christoph in die Arme. Erst nach mehr einer halben Ewigkeit ließ sie ihn los und sagte: „Ich kann Dir gar nicht sagen, wie dankbar ich Dir bin. Auch wenn alles so traurig ist. Lass uns zurück zur Uni gehen.“
Wortlos, ernst, aber Hand in Hand, marschierten die beiden flussabwärts zurück. Erst kurz bevor sie die Uni wieder erreicht hatten, fragte Christoph: „Wie geht es jetzt eigentlich weiter mit Dir?“
„Ach ja, das wollte ich Dir natürlich auch noch sagen. Ich habe jetzt drei Tage mit beiden Unis dauertelefoniert. Die Tübinger würden mich mitten im Semester aufnehmen und unsere Uni würde mich gehen lassen. Das muss aber schnell gehen. Deswegen breche ich meine Zelte morgen ab. In Tübingen ziehe ich erst mal zu Klaus. Vielleicht suche ich mir aber noch was Eigenes. Für meine Wohnung hier sucht Claudia schon nach einem Nachmieter. Erste Interessenten gibt es wohl schon. Meine Eltern sind auch ganz froh, dass das Kind wieder näher an daheim studiert. Die unterstützen mich total. Und jetzt müssen wir halt schauen, ob das mit seiner Schwester gut geht. Und, ganz ehrlich, auch mit ihm und mir. Sicher bin ich mir da nicht. Aber es geht nicht anders.“
„Nein, das geht es nicht.“
„Christoph?“
„Ja?“
„Wenn ich verspreche, mich nicht mehr über mich und letzte Woche zu ärgern, darf ich mir dann auch was von Dir wünschen?“
„Klar darfst Du! Aber nur, wenn Du Dich wirklich nicht mehr ärgerst. Was möchtest Du denn?“
„Das klingt jetzt total melodramatisch und doof, aber können wir nicht trotzdem Freunde bleiben? Die Gespräche letzte Woche und heute mit Dir haben mir so gutgetan. Du bist so schlau und so verständnisvoll. Ich würde gerne immer wissen, wie es Dir geht, was Dein Studium macht, was Du sonst machst.“
„Das würde mich total freuen. Ich möchte ja auch gerne wissen, wie es mit Klaus weitergeht und mit seiner Schwester. Und vor allem mit Dir. Pass auf: Du schreibst mir, wenn Du Dich in Tübingen eingerichtet hast und Nerv zum Schreiben hast. Und ich verspreche, dass ich antworte. Danach haben wir es beide in der Hand, dass die Verbindung nicht abreißt. Abgemacht?“
„Abgemacht. Pass auf Dich auf. Und bleib unbedingt so wie Du bist.“
„Pass Du auch auf Dich auf. Und vor allem auf die, die Dich brauchen.“
Eine letzte, nur noch sehr kurze Umarmung. Danach ging Gabi davon. Still, in sich gekehrt und immer noch ziemlich blass. Aber auch sehr erleichtert.
Christoph blieb noch eine Weile draußen vor der Uni stehen und starrte in den Fluss. Ein richtiger Mann, dachte er, würde sich jetzt betrinken. So wie Humphrey Bogart in Casablanca, nachdem Ingrid Bergmann ohne ihn losgeflogen war. Dazu hatte er aber keine Lust. Er ging stattdessen nach Hause, machte sich etwas zu Essen und schaute sich dann Casablanca an. Natürlich hatte er dieses Meisterwerk als Video. Casablanca war sein absoluter Lieblingsfilm.
In den nächsten Wochen war Christophs Bedarf an Kontakten mit dem anderen Geschlecht erst einmal stark reduziert. Er brauchte einfach Zeit, die Enttäuschung zu überwinden. Stattdessen investierte er alle überschüssige Energie seines jungen Körpers in Sport. Mannschaftssportarten waren nie sein Ding gewesen, dazu war er zu sehr Einzelgänger. Aber in der Leichtathletik, vor allem im Weitsprung, war er in der Schule schon immer gut gewesen. Also schloss er sich der Uni-Mannschaft an und stieg mit ganzer Kraft ins Wintertraining ein.
Seine zweite Leidenschaft galt dem Skifahren. Seine Eltern hatten seine eineinhalb Jahre jüngere Schwester und ihn schon als Kleinkinder auf Skier gestellt und waren seitdem immer mit den beiden in den Weihnachtsferien im Skiurlaub gewesen. Zwar lag Ende November noch kein Schnee, aber der Uni-Sport bot Skigymnastik zur Vorbereitung an. Insgesamt war Christoph damit drei- bis viermal in der Woche abends in der Halle. Das tat ihm gut, weil es ihn gelassener machte und ein guter Ausgleich zum Studium war, das er weiter sehr ernst nahm. Und seiner Figur bekam das regelmäßige trainieren auch nicht schlecht, zumal er im Gegenzug den Bierkonsum deutlich heruntergefahren hatte. Nach einer kurzen, aber sehr entspannten Weihnachtspause bei den Eltern und den ersten Testschwüngen im Schnee an den Januarwochenenden fühlte sich Christoph zum Semesterendspurt richtig gut in Form.
Gegenüber Gabi war er seinem Versprechen treu geblieben. Sie schrieben sich regelmäßig, freundschaftlich und vertraut. Die Chancen, dass die Schwester ihres Freundes den Kampf gegen den Krebs gewinnen würde, waren gestiegen. Mit Gabi und Klaus funktionierte es offensichtlich wieder ganz gut, auch wenn Christoph aus manchem Unterton und mancher Andeutung glaubte herauslesen zu können, dass „richtig glücklich“ nicht das treffende Adjektiv für die Beziehung zwischen den beiden war. Aber vielleicht war das nur Wunschdenken. So ganz vergessen konnte er Gabi und „seine erste Nacht“ nämlich immer noch nicht. Das war sicher auch der Grund, warum in Sachen Mädchen weiter nichts lief.
Erst Mitte Februar kam wieder Bewegung in die Sache. Witzigerweise aufgrund eines technischen Defekts. Christoph hatte sich mit den anderen Teilnehmern der Skigymnastik gerade so richtig ausgepowert, als Sylvia, die Kursleiterin, eine überraschende Ansage machte. Sylvia hatte Lehramt für Sport und Mathe studiert, arbeitete jetzt als Referendarin nebenamtlich für das Sportzentrum der Uni, und war blond, klein, sommersprossig und durchtrainiert. Für all diejenigen, die nicht auf üppige Oberweiten standen, ein absoluter Hingucker. Und diese Sylvia verkündete den staunenden Studenten jetzt, dass der Hausmeister sie gerade informiert habe, dass in der Damenumkleide das Warmwasser kaputt sei. Deswegen würde sie als Kursleiterin jetzt die Erlaubnis zum „koedukativen Duschen“ bei den Jungs erteilen. Selbstverständlich würde sie auch mitmachen. Wer das nicht über sich bringe, müsse eben zu Hause duschen.
Daraufhin entstand erst einmal ein riesiges Hallo. Leuchtende Augen bei den Jungs, einige bange Blicke bei den Mädels. Es stellte sich dann aber bald heraus, dass die allermeisten Teilnehmer sich auf den Weg in die Männerumkleide machten. Die große Freizügigkeit gab es in den Achtzigern zwar noch nicht. Aber sportlich aktive Menschen waren von Haus aus weniger verklemmt. Und außerdem hatte Sylvia sie heute Abend so gescheucht, dass wirklich jeder und jede eine Dusche nötig hatte. Dementsprechend gesittet und geordnet lief das Duschen dann ab. Auch wenn natürlich allenthalben schon eine Menge verstohlener Blicke riskiert wurden. Und zwar sowohl bei den Jungs als auch bei den Mädels.