Es gibt immer eine Hoffnung

Nachdem ich „Stille Nacht“ von T. übersetzt und überarbeitet hatte, fühlte ich mich inspiriert, etwas in der selben Art zu Papier zu bringen. So entstand diese Geschichte als Schnellschuß innerhalb von zwei Tagen und dann dauerte es mehrere Wochen bis ich wirklich damit fertig war.

Korrektur lesen, ausbessern, umformulieren, streichen und erweitern, das zog sich wie Kaugummi. Mit der jetzigen Fassung bin ich so lala zufrieden, besser wird es wahrscheinlich nicht mehr, aber wenn ich noch länger warte dann geht das ganze Prozedere wieder von vorne los und nichts kommt jemals zum Ende.

Ich habe mit Religion jeglicher Couleur nichts am Hut, im Gegenteil. Ich halte nichts davon, über andere Menschen mit Hilfe von Ritualen und salbungsvollen Sprüchen zu bestimmen. Der Glaube ist eine andere Sache, denn jeder Mensch hat seinen eigenen, aber der hat mit der Kirche nichts zu tun. Also schreibe ich normalerweise darüber nichts, schon gar nicht auf dieser Seite. Aber diesmal hat es etwas davon gebraucht, denn ohne das wäre die Geschichte nicht stimmig. Sie ist traurig, macht aber auch ein wenig Hoffnung in der heutigen egoistischen Zeit.

Im Andenken an Thomas und Heiko, meine besten Freunde, die leider den anderen Weg gewählt haben.

Arne

*****

„150 Kanäle und nichts als Weihnachtsspecials in der Glotze.“

Konrad Dirsch blätterte in moderatem Tempo durch die TV-Zeitung und fand auf Schritt und Tritt nichts als Enttäuschung. Da es Heiligabend war, war jede Show ein matschiges Wohlfühlspiel, in dem andere über Familie und dem guten Willen zu den Feiertagen sprachen. Nichts davon interessierte Konrad im geringsten.

„Conny?“ Eine Stimme kam aus der Küche.

„Was ist los, ?“

„Ich habe alle Hände voll zu tun, um heute Abend alles für das Abendessen zuzubereiten, aber mir werden ein Zutaten ausgehen“, sagte Helene Dirsch und steckte ihren Kopf ins Wohnzimmer. „Kannst du bitte ganz schnell für mich zum Laden sausen?“

„Sicher“, antwortete Konrad und sah, dass er sonst nichts Besseres zu tun hatte.

„Großes Dankeschön. Ich habe eine Liste für dich auf den Tisch hingelegt. Der Laden sollte noch ein oder zwei Stunden geöffnet sein. Die Hauptsache sind die Eier. Ich habe nicht genug, um meine Schachpastete zu machen. Wenn es Eistee in der 2 Literflasche gibt, schnapp dir einen süßen und einen ungesüßten. Der Rest wäre großartig wenn du ihn findest, aber nicht unbedingt notwendig.“

„Verstanden“, sagte Konrad, als er die Liste vom Tisch nahm.

Er ging zu seinem Auto, ließ den Deux Chevaux (2CV) an und fuhr aus der Einfahrt. Auf dem Weg in die Stadt dachte Konrad über seine aktuelle Situation nach. Obwohl er seine Mutter liebte, war es für ihn immer nervenaufreibend, in den Ferien zu Hause zu sein. Seine Heimatstadt Würzburg war voll mit seinen ehemaligen Klassenkameraden, also mit Leuten, die er so schnell nicht wieder sehen würde und wollte. Aber in München an der LMU gehörte er tatsächlich zu den Gleichaltrigen, mit denen er sich auf intellektueller Ebene identifizieren konnte. Nicht, dass er dort so viele Freunde gefunden hätte. Als neunzehnjähriger Neuling saß er immer noch im gleichen langweiligen Grundlagenunterricht für Medizin und Gesundheitswissenschaften wie alle anderen fest. Er konnte es kaum erwarten, bis er sein Studium in Medizin beginnen konnte. Vielleicht könnte er dann ein angenehme Menschen treffen, mit denen er sich austauschen konnte, vielleicht sogar ein paar nette Studentinnen.

Konrad kam bald auf dem Parkplatz des örtlichen Supermarktes an. Es war ihm schon bald klar, dass der Laden voller Last-Minute-Käufer war, die alle versuchten, die letzte Zutat zu finden, die ihnen noch fehlte. Konrad schloss sein Auto ab, schlenderte in den Markt und schnappte sich am Eingang einen Einkaufskorb. Er fand die Regale noch gut bestückt und packte sich zuerst die unwesentlichen Gegenstände auf der Liste seiner Mutter ein. Auf dem Weg zur Getränkeabteilung war er erfreut, dass der Laden die großen Teeflaschen für die Feiertage gut bevorratet hatte und nahm ein Paar mit.

Konrad kam bald in der Kühlabteilung des Ladens an. Hier was fast jedes Regal so ziemlich leer, aber es gelang ihm, einen der letzten Kartons mit sechs Eiern zu finden, genau das, was seine Mutter brauchte. Konrad legte den Karton in seinen Einkaufskorb und ging nach dem Bezahlen zurück zur Vorderseite des Ladens, um auf den Parkplatz zu gelangen. Er packte die Einkaufstüten fest und achtete darauf, dass die Eier durch das Schwingen der Taschen nicht beschädigt wurden. Als er wieder auf dem Parkplatz ankam, war er angenehm überrascht, seine ehemaligen Klassenkameradin, Jacqueline Braun, zu sehen. Als er sich näherte, sah sie ihn kommen.

*****

„Konrad? Conny Dirsch? „

Sie war extrem hübsch, wie es sich für eines der beliebtesten Mädchen in der Schule gehörte und hielt ihr sandbraunes Haar knapp schulterlang geschnitten. Ihre weichen, warmen Gesichtszüge und ihre sprudelnde Persönlichkeit widerlegten den scharfen Verstand, der sich darunter versteckte. Sie und Konrad waren einige Male Partner in verschiedenen Fächern gewesen und er hatte geholfen, ihren Antrag für die Aufnahme an die Universität von Marburg zu verfassen. Dies brachte ihr ein Vollstipendium ein. Trotz ihrer Popularität hatten sie gut zusammengearbeitet und Konrad wagte es sogar, sie eine zu nennen, zumindest in seinen eigenen Gedanken. Sie hatten nie in ihrer Freizeit zusammen rumgehangen; ihr Freundeskreis war ein anderer als es seiner war. Trotzdem hatten sich die Zeiten geändert. Immerhin hatten sie beide das Gymnasium verlassen. Was könnte es schaden, mal anzufragen?

„Jacqueline? Wow, ich hätte nie gedacht, dass ich dich wieder hier sehen würde. Hast du gedacht, du müsstest dich in eine kühlere Klimazone flüchten, weil es bei euch in Nordhessen sooo warm ist? „, grinste er.

„Ja, Marburg ist schön, aber es gibt es nichts Schöneres als Weihnachten zuhause“, antwortete sie und zupfte ihr Uni-Sweatshirt zurecht. „Bist du aus dem gleichen Grund zurück?“

„Ähhhh, Mama bestand darauf. Sie wird sich nicht mit weniger als einem Familientreffen an Heiligabend zufrieden geben. Ich kaufe nur ein paar Sachen für sie, die sie noch braucht. Aber ja, es ist toll dich wieder zu sehen. Du siehst gut aus.“

„Ähm… danke“, antwortete sie zögernd.

„Ich werde ein für ein paar Wochen zu Hause sein. Möchtest du vielleicht mal mit mir zu Essen gehen? Es wäre mir ein Vergnügen.“

„Nun, Conny, das ist süß von dir zu fragen…“, sagte sie fast zu sich. Als sie innehielt, leuchteten ihre Augen plötzlich auf, als hätte sie eine Idee. „In Ordnung! Hier, ich geb dir meine Nummer.“

Sie kritzelte eine Reihe von Ziffern auf ein Stück Papier und schrieb ihren Namen daneben.

„Ich werde später mit dir reden, okay?“

„Ist gut!“

Konrad konnte es nicht glauben; er hatte es tatsächlich getan! Er hatte das hübscheste Mädchen gefragt, das er jemals gekannt hatte! Außerdem hatte sie ihm ihre Nummer gegeben! Die Sache sahen definitiv gut aus.

„He, Dirsch!“ schrie eine Stimme hinter ihnen.

Konrad drehte sich um und erkannte sofort Jakob Braun, Jacqueline’s Zwillingsbruder, zusammen mit seinen beiden Kumpeln Bernd und Julian Schneider. Jakob war der Kapitän der Fußballmannschaft in der Oberstufe gewesen und die Schneider-Jungs waren seine besten Verteidiger. Sie führten sich oft auch als seine Bodyguards außerhalb des Fußballfeldes auf. Konrad war mit diesen drei bestens vertraut, da sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sein Leben zur Hölle zu machen. Sein Schließfach vollzustopfen und seine Brieftasche zu klauen, war bei ihnen an der Tagesordnung. Die drei näherten sich und versuchten, imposant zu wirken, was sie aus der Perspektive des ziemlich dürren Konrad auch waren.

„Ich habe nichts mit euch zu reden“, murmelte Konrad, als sie sich näherten.

„Nun, ich habe dir etwas zu sagen, Herr Konrad Klugscheißer Dirsch“, knurrte Jakob.

„Halt einfach die Klappe und lass mich in Ruhe“, antwortete Konrad und sein Blut kochte bei der Verwendung von Jakobs langjährigem Spitznamen für ihn.

„Nein! DU hältst die Klappe und hörst zu!“ sagte Jakob, packte Konrad am Kragen seines T-Shirts und warf ihn gegen sein Auto. Dabei ließ Konrad seine Einkaufstüten fallen und die Teeflaschen landeten direkt auf dem Eierkarton.

„Jakob! Hör auf!“ protestierte Jacqueline.

Unbeeindruckt drohte Jakob. „Hör zu, verdammt noch mal, du hältst dich gefälligst von meiner Schwester fern!“

„Sie ist erwachsen, Schwachkopf! Sie kann jeden als Freund haben, den sie als Freund haben will“, hielt Konrad dagegen.

„DU gehörst nicht auf den gleichen Planeten wie sie! Du bist ein Nichts! Ein erbärmlicher Sack voller Eingeweide, dem seine dumme Mutter beschlossen hat, einen Namen zu geben! Weißt du was? Tu uns allen einen Gefallen und fall einfach tot um!“

Wütend über die Beleidigung seiner Mutter holte Konrad zu einem wilden Schwinger gegen seinen Angreifer aus, aber Jakob war mehr als vorbereitet und drückte seinen Arm zurück gegen sein Auto. Er versetzte Konrad einen knallharten Schlag in den Bauch und sah zu, wie er auf seine Knie fiel. Bevor er ging, kniete Jakob neben seinem keuchenden Opfer nieder.

„Das nächste Mal werde ich nicht so nett sein. Nächstes Mal… da werde ich dich so richtig fertig machen. Wir sehen uns, Connylein.“ Jakob wandte sich an seine Schwester und sagte: „Komm schon, Zeit nach Hause zu gehen.“

Jacqueline sah auf die erbärmliche Gestalt von Konrad hinunter, bevor sie murmelte: „Entschuldige bitte.“

Das Trio der Jungen schlenderte über den Parkplatz, lachte und war ganz stolz über ihre Heldentat. Jacqueline folgte ihnen direkt. Konrad rappelte sich auf, inspizierte seine Lebensmittel und entdeckte die zertrümmerten Eier in seiner Tasche. Fluchend und schimpfend griff er nach dem unförmigen Karton und warf ihn in einen nahe gelegenen Mülleimer.

„Keine Schachpastete heute Abend…“

Als er zu seinem Auto zurückkehrte und seine Heimfahrt antrat, sahen Jakob und seine Gesellen von ihrem Auto aus zu, immer noch zufrieden mit ihren Bemühungen.

„Das hättest du nicht tun sollen“, sagte Jacqueline in einem vorwurfsvollen Ton.

Jakob drehte sich zu seiner Schwester um. „Ich mache was ich machen muss, Jacqueline. Das Arschloch hat gar keinen Grund, überhaupt mit dir zu reden. Er muss seinen lernen wo sein Platz ist.“

„Wie dem auch sei, ich kann auf mich selbst aufpassen“, antwortete sie fest.

„Du passt auf dich auf? Warte mal… du hast doch nicht vielleicht…?“

„Doch hab ich. Jakob, eines Tages wirst du lernen, dass es subtilere und effektivere Möglichkeiten gibt, unerwünschte Ereignisse abzuwehren, als einfach nur zuzuschlagen. Vertrau mir, Konrad wird mich nie wieder stören.“

*****

Als Konrad zu Hause ankam, konnte er sich nicht dazu durchringen, seiner Mutter von dem Vorfall mit den Eiern zu erzählen. Er sagte ihr stattdessen, dass der Laden völlig ausverkauft war. Sie hatte in der Vergangenheit viele schlaflose Nächte gehabt und sich Sorgen über das ständige Mobbing gemacht, dem ihr in der Schule ausgesetzt war. Konrad wollte ihr keinen Grund geben, worüber sie sich Sorgen machen müsste. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits seine Onkel eingetroffen und das Wohnzimmer war bald mit der Geräuschkulisse von Fußballspielen aus der Spielekonsole gefüllt.

Er ging in sein Zimmer, um eine heiße Dusche zu nehmen und sich dabei etwas Zeit für sich zu nehmen. Als er sich auszog, sah er einen blauen Fleck auf seinem Bauch, der von Jakobs Schlag stammte. Er zuckte vor Schmerz zusammen, als er die zarte Haut berührte.

Scheiße… das geht eine Weile nicht weg.

Konrad nahm etwas Franzbranntwein gegen die Schmerzen, bevor er in die Dusche trat. Das heiße Wasser half, seinen Körper zu entspannen und der Dampf wurde allmählich dichter und klärte seinen Geist ein wenig. Nach einer Weile war er fertig und ließ sich, nachdem er sichergestellt hatte, dass seine Tür geschlossen war, mit dem Gesicht nach unten auf sein Bett fallen. Nachdem er ungefähr eine Stunde dort gelegen hatte, rief ihn seine Mutter schließlich herbei, um sich dem Rest der Familie zum Abendessen anzuschließen.

Konrad nahm seinen Platz am Tisch ein und sah sich im Raum nach seinen verschiedenen Familienmitgliedern um. Seine Mutter hatte zwei ältere Brüder, Leo und Simon. Leo war fünfundvierzig Jahre alt, recht groß und noch relativ schlank, Simon war ein ganzes Stück kleiner und begann eine Glatze zu bekommen, als er sich den fünfzig näherte. Trotzdem hatten beide für Konrad eines gemeinsam: Sie waren beide immer noch Franken durch und durch ( nicht nur wegen des Dialekts ). Konrad hatte seinen Vater nie gekannt; es waren immer nur er und seine Mutter gewesen seit er sich erinnern konnte. Er konnte erkennen, dass seine Onkel versuchten, männliche Vorbilder für ihn zu sein, aber ihre Bemühungen waren normalerweise schlecht durchdachte Versuche, ihn „zum Mann“ zu erziehen. Niemals hatten sie seine introvertierten Neigungen verstanden und immer versucht, ihn dazu zu bringen, mehr ein offener und nach außen gerichteter Mensch zu sein. Nach einer Weile hörte er auf, ihren Rat zu beachten.

Konrad fiel auf, wie ähnlich sich die Familien von Leo und Simon waren. Sie hatten schöne, blonde Schwestern geheiratet und jetzt hatten beide sechzehnjährige Töchter, die zu den beliebtesten Mädchen in der Schule gehörten. Das alles machte Konrad krank; sie verewigten nur das Stereotyp, dass ´hübsch und beliebt´ das A und O im Leben ist. Während die Familie aß, schwieg Konrad größtenteils. Die Erwachsenen waren in Diskussionen über ihre Arbeit vertieft und die beiden Töchter kicherten und spielten die ganze Zeit mit ihren Handys. Nichts davon war für ihn relevant.

„Weißt du, ich habe heute etwas Interessantes gesehen“, sagte Leo, als der Nachtisch herausgebracht wurde. „Ich war beim Supermarkt und habe mein Auto beladen, als ich dich auf dem Hauptparkplatz gesehen habe, Konrad. Es sah so aus, als hättest du einige Worte mit ein paar Leuten da draußen gewechselt.“

Scheiße! Er hat das gesehen?!

Konrad wollte seine Mutter nicht beunruhigen und antwortete: „Es… es war nichts.“

„Nichts, was? Hat dich dieser Punk deshalb in den Bauch geschlagen?“

Mit einem besorgten Gesichtsausdruck fragte Helene: „Konrad, Schatz, wovon redet er?“ Sie ging um den Tisch herum zu seinem Stuhl, hob sein Hemd hoch und sah den blauen Fleck auf seinem Bauch. „War es wieder dieser Jakob, Junge?“

„Mama, lass es einfach gut sein.“

„Nein! Conny, du weißt, ich mache mir Sorgen um dich!“

„Du machst dir Sorgen um mich?! Ich denke, du musst dir mehr Sorgen um deinen Bruder machen!“ schrie Konrad und sein Zorn explodierte endlich. „Richtig, Onkel Leo? Komm schon, du siehst, wie dein eigener auf einem Parkplatz verprügelt wird, aber du tust nichts, um ihm zu helfen?!“

„Ein Mann muss lernen, seine eigenen Schlachten zu führen“, antwortete Leo mit ruhiger Stimme.

„Nein. Willst du wissen, was ein Mann tut? Ein echter Mann setzt sich für seine FAMILIE ein! Ganz egal, weswegen! Du bist rumgestanden und hast zugeschaut, wie dein eigener Neffe zusammengeschlagen wurde. Das sagt verdammt viel über dich aus. Und wenn das Familie ist, dann will ich kein Teil davon sein.“

Ohne ein Wort stand er auf und verließ das Eßzimmer. Dann schnappte er sich seinen LMU-Kappe und ging zur Haustür. Als er in sein Auto steigen und losfahren wollte, sah er zu seiner Frustration, dass die Autos seiner Onkel in der Einfahrt hinter ihm geparkt waren und ihn blockierten. Er fluchte leise und bereitete sich darauf vor, zu Fuß zu gehen.

„Konrad! Komm bitte wieder rein!“, rief Helene ihm nach und rannte die Auffahrt hinunter.

„Nein. Ich muss raus und mir den Kopf freimachen.“

„Konrad, es ist Heiligabend. Bitte komm mit zu deiner Familie.“

„Mama, abgesehen von dir, fühlt sich keine einzige Person in diesem Haus für mich an wie meine Familie“, antwortete er kalt. „Ich werde… ich rufe dich nachher an…“

*****

Konrad ging in die kalte Nacht in Richtung Main, ohne genau zu wissen, wohin er gehen oder was er tun sollte. Niemand anderes war unterwegs, da sie alle mit ihren Familien zu Hause waren. Er erinnerte sich an den Platz in der historischen Altstadt von Würzburg und beschloss, in diese Richtung zu gehen. Vielleicht würde ihm der ruhige Spaziergang etwas Gutes tun.

Als er auf dem Stadtplatz ankam, ging er ein wenig die Bürgersteige entlang und spähte in die dunklen Fenster der verschiedenen Geschäfte und Restaurants. Alles sah für ihn so aus, dass jeder an diesem Tag von der Straße war; es schien alles so friedlich. Als er weiterging, sah er bald das Rathaus in der Ferne. Vor dem Gebäude befand sich eine große Grünfläche, auf der überraschend viel los war, denn schließlich war Heiligabend. Konrad trat näher und erspähte nun eine große Ansammlung von Menschen, die auf Bänken, Sesseln und Gartenstühlen saßen, alle in dicke Mäntel und Jacken gehüllt. Vor ihnen projizierte eine große Leinwand den klassischen Film „It’s a Wonderful Life“.

Public Viewing an Heilig Abend, dachte Konrad sarkastisch.

Obwohl er eigentlich nie in Weihnachtsstimmung war, fühlte er sich seltsam angezogen, ein paar Minuten des Films aus der Ferne zu sehen. Er begann diese Entscheidung bald zu bereuen, als der Film den Punkt erreicht hatte, an dem George Baily seine Familie wütend angriff. Konrad sah zu, wie er sich betrank und in eine Kneipenprügelei verwickelt wurde und begann sich vor Wut krank zu fühlen. Trotz all seiner Bemühungen, die Welt um ihn herum besser zu machen, hatte sich das Universum gegen George Baily verschworen… genau wie es sich gegen Konrad zu verschwören schien. Da er keinen Moment mehr zusehen konnte, drehte er sich um und ging in den nahe gelegenen Park.

Wieder allein mit seinen Gedanken saß er auf einer Bank in der Nähe des Brunnens in der Mitte des Parks. Er dachte über viele Dinge nach, wie er es oft in seiner Einsamkeit tat. Er dachte an seine lauwarme Entschuldigung für seine Familie, um ihn in das zu verwandeln, was er für sie sein sollte. Wenn sie ihn nur so akzeptieren könnten, wie er war. Er dachte an Jakob Braun, ein ewiges Arschloch, das es schaffte, all die schönen Frauen zu bekommen, die sein Herz begehrte. Er seufzte frustriert und stopfte seine eiskalten Hände in die Jeanstaschen.

Jacqueline!

Ken fühlte das Stück Papier in seiner Tasche und verspürte plötzlich einen Hoffnungsschimmer an einem ansonsten trostlosen Tag. Er brauchte etwas, irgendetwas, um seine Stimmung zu heben und ihre freundliche, liebliche Stimme zu hören, könnte das einfach sein. Zur Hölle, es war ihm nicht einmal mehr wichtig, ob sie sich im romantischen Sinne für ihn interessierte. Er brauchte nur jemanden, der ihm zuhörte und ihn verstand. Er holte sein Handy heraus und wählte die Nummer. Nach einem einzigen Klingelton begann eine Nachricht zu spielen, die scheinbar von einem Game-Show-Moderator gelesen wurde.

„Herzliche Glückwünsche! Sie haben die weltberühmte Loser Line von Live 93.8FM in Franken erreicht! Live 93,8; mit der besten Unterhaltung in Würzburg! Wenn du diese Nachricht erhalten hast, dann hast du versucht, ein Mädchen aus deiner Schule zu treffen! Diese arme junge Dame will nichts mit dir zu tun haben, aber du konntest einfach nicht anders, als dich auf sie einzuschleimen! Hier kommen wir ins Spiel! Jetzt weißt du, was für ein Verlierer du wirklich bist! Also lass das Mädchen in Ruhe, Verlierer! Du tust allen einen Gefallen damit! Wenn Sie eine Nachricht für die weltberühmte Loser Line hinterlassen möchten, sprechen Sie nach dem Ton! BEEEEP!“

Konrad legte ungläubig auf. Wie konnte er sich in Bezug auf Jacqueline so geirrt haben? Sie hatten in der Schule so gut zusammengearbeitet und er betrachtete sie sogar als eine Freundin! Sie sprach immer so freundlich mit ihm, wie konnte das passieren? War sie wirklich so böse und hinterlistig wie ihr dummer Bruder? War sie wirklich eine so gute Schauspielerin? Als er über all das nachdachte, explodierte Konrads Wut schließlich aus ihm heraus.

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