Ich sollte öfter mal meine alten Ordner und Hefte durchsehen. Weiß der Himmel, wie viele meiner alten Werke ich schon völlig vergessen hatte.
Dieses ist eines davon, und entstand mit hoher Wahrscheinlichkeit im Frühsommer 2001. Wie schon einmal, werde ich auch diese Geschichte ohne Änderungen und Überarbeitungen veröffentlichen. Ich versuche nur, der aktuellen Rechtschreibung Rechnung zu tragen — Ansonsten ist das die selbe Geschichte, die ich vor fast zehn Jahren geschrieben habe.
Das bedeutet auch, dass ich mir sehr genau der sprachlichen und dramaturgischen Schwächen der Geschichte bewusst bin!!!
Euer MaitreNuit
Ein junger Sonnenstrahl drang zwischen den lindgrünen Blättern der Bäume vor ihrem Fenster, und legte sich wie ein Kuss auf ihre Lider. So leicht und zart wie die Berührung eins Schmetterlings, so sanft wie es früher SEINE Küsse gewesen waren.
Seufzend erwachte sie — draußen vor dem Fenster sangen die Vögel ihre schönsten Frühlingslieder für sie — und musste mit einen zärtlichen Lächeln an IHN denken.
Die süßen Momente am Morgen, wenn ER sie vor dem Unterricht bei der Hand nahm und sanft durch die Lücke in der Hecke vor dem Wirtschaftsgymnasium zog, ihr über die Wange strich, und sie zärtlich küsste.
ER sagte dann immer: „Guten Morgen, mein Grashüpfer! Jetzt kann ich den Unterricht lächelnd überstehen.“
Damals… In den ersten Wochen, bevor sich die Cliquen bildeten.
Während sie unter die Dusche stieg, dachte sie daran zurück, wie anders die Dinge doch damals waren, und wie sehr sie sich doch seit damals verändert hatte. Die harten Wasserstrahlen der Dusche prickelten auf ihrer Haut, und liefen langsam in trägen Rinnsalen am Duschvorhang hinab. Unvermittelt erinnerte sie sich an einen Nachmittag, damals im Herbst ihres letzten gemeinsamen Schuljahres auf dem WG.
Es war ein verregneter Novembernachmittag, und ihre damalige Beziehung war aus irgendeinem Grund, am den sie sich jetzt nicht mehr erinnern konnte, gehörig ins Wanken geraten.
Sie saß alleine auf dem Raucherhof, und bittere Tränen rannen ihre Wangen hinab. Es war ein sehr kalter Tag, aber ihre Jacke hatte sie in ihrem Schließfach, und sie wollte nicht mit tränenüberströmtem Gesicht durchs ganze Schulhaus zu ihrem Schrank gehen — zu peinlich wäre es gewesen, gesehen zu werden.
So saß sie in ihrem T-Shirt da, und zitterte, während die Tränen ihr Gesicht in Trauer badeten. Ihre Schluchzer hatten SEINE Schritte übertönt, und so hatte sie SEIN Nahen nicht bemerkt.
ER legte SEINEN Mantel um ihre zitternden Schultern — Solange sie IHN kannte, trug ER immer dunkle Mäntel oder lange Jacken — und flüsterte ihr beruhigend ins Ohr. Dann nahm ER neben ihr Platz, ergriff liebevoll ihre Hand, und fragte sie, welcher Kummer sie denn bedrücke.
Mit einem Mal öffneten sich all ihre Schleusen, und sie schüttete IHM ihr Herz zur Gänze aus. Letztlich lief es auf die Frage hinaus, ob sie mit ihrem damaligen Freund Schluss machen sollte, oder der Beziehung noch eine letzte Chance geben.
Dem geübten Beobachter wäre SEIN kurzes Zögern vielleicht nicht entgangen, bevor ER ihr antwortete, sie jedenfalls nahm es nicht wahr.
„Grashüpfer… Liebst du ihn?“
Als sie das bejahte, fuhr ER fort: „Wenn du ihn liebst, und er dich, dann gibt es doch keinen Grund, diese Beziehung zu beenden. Solange ihr euch wirklich liebt…“
Hätte sie damals schon einen Gedanken darauf verschwendet, zu begreifen, was dieser Rat beinhaltete, wäre ihr aufgefallen, dass ER ihr gegen SEINE eigenen Interessen riet.
Wäre die Beziehung gescheitert… Sie wäre frei gewesen, vielleicht auch frei für IHN.
Sie trat aus der Dusche, und eine einzelne Träne perlte zwischen den Wassertropfen auf ihrer Lippe hinab.
Sanft, aufmerksam, und gut, DAS waren die Worte, die ihr spontan einfielen, wenn sie SEIN Verhalten ihr gegenüber beschreiben sollte.
Weich, nervend und lächerlich, DAS waren die Worte, die sie damals ihren Freundinnen gegenüber gebraucht hatte.
Hinter SEINEM Rücken verspottete sie IHN, weil ER nicht war wie die anderen Jungs auf der Schule.
ER war zu sensibel für die „Coolen“, zu clever für die „Freaks“ und zu lebenslustig für die „Streber“.
Die Spottnamen, die sie IHM anhängten — und die ER auf ironische Art in Ehrentitel ummünzte — konnte keiner mehr zählen.
Sie schämte sich sehr dafür, aber damals hatte sie nur ihren Schabernack mit IHM getrieben. Für sie und ihre Clique war ER ein Weichei, ein Schwächling, dabei war ER bei ihrer ersten Begegnung — vor nunmehr sieben Jahren — weder weich, noch schwach gewesen.
Es war der erste Tag in der 12. Klasse, und für IHN war es schon lange vorher ein schwarzes Jahr gewesen. In weniger als zwölf Wochen hatte er zwei Menschen verloren und beerdigt, die IHM mit die wichtigsten Menschen auf Erden waren. An diesem Tage also — der kaum zwei Monate nach der zweiten Beerdigung lag — stand ER — ganz in schwarz, wie es bald schon SEIN „Markenzeichen“ werden sollte — vor dem Haupteingang der Schule und rauchte eine Zigarette.
Ein Mitschüler, der IHN sonst als ruhigen und passiven „Prügelknaben“ kannte, begann damit, IHN zu provozieren. ER ließ sich jedoch nicht reizen, rauchte zu Ende, wandte sich ab, und bedachte diesen beim Hineingehen mit einer treffenden Bemerkung. Der Mitschüler, durch frühere Gelegenheiten ermutigt, stürzte sich auf IHN — oder vielmehr, versuchte er, sich auf IHN zu stürzen, denn ER drehte sich schnell um, packte seinen Angreifer am Hals, und drückte ihn so gegen einen Türpfosten, dass dessen Füße gute zwei Handbreit in der Luft hingen.
Eine erschreckende Ruhe lag in SEINER eisigen, leisen Stimme, als ER ihm sagte: „Laß mich in Ruhe, sonst bringe ich dich um.“
Dann ließ ER ihn fallen, und ging ganz ruhig die Treppe zu SEINEM Klassenzimmer hinauf.
Als sie sich fertig angezogen hatte, suchte sie in ihrer Tasche nach einem Feuerzeug. Zufällig fiel ihr Blick auf etwas schmales, glänzendes auf dem Boden des Kleiderschranks. Es musste aus der Tasche gefallen sein, die sie heute tragen wollte.
Dieses Etwas erwies sich als elegantes silbernes Feuerzeug, und ein trauriges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie probierte es aus Neugier aus — und die Flamme erschien schon beim ersten Versuch.
Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
ER hatte es ihr vor fünf Jahren geschenkt.
In der Schule fand der alljährliche Valentinstagsball statt. Sie hatte IHN wenige Tage zuvor spontan gefragt, ob sie nicht zusammen dort hingehen sollten.
Wie sie es schon erwartet hatte, freute ER sich sehr, und sagte sofort zu.
Als sie sich am Abend vor der Eingangstür trafen, gab ER ihr ein kleines Päckchen, und fügte, als sie es öffnete, fast schon entschuldigend hinzu: „Es ist nichts besonderes, aber du brauchst dann nicht immer andere um Feuer zu bitten… Und es kommt von Herzen.“
Sie steckte es in ein leeres Fach ihrer Handtasche — derselben Handtasche, die sie jetzt, fünf Jahre später, aus dem Schrank nahm — und vergaß es dann vollkommen.
Den ganzen Abend über schien ER ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und war ein sehr angenehmer Begleiter. Ihre Freundinnen nannten es nur „affig“ und „nervig“, doch wenn sie jetzt zurückblickte, erkannte sie, dass ER einfach aufmerksam gewesen war.
Beim allgemeinen Aufbruch wollte ER sich noch mit einem Kuss auf die Wange von ihr verabschieden — und gewissermaßen für den schönen Abend bedanken — als sie, wie sie es zuvor mit ihrer Clique geplant hatte, damit begann, IHN zurückzustoßen, und IHM vor allen noch anwesenden Schülern sagte, es sei alles nur ein Scherz gewesen, und ihr fiele im Traum nicht ein, sich mit einem Verlierer wie IHM abzugeben.
In der folgenden Zeit war ER weit ruhiger als jemals zuvor, und auch SEINE schulischen Leistungen sanken. ER hatte einen konstanten Schnitt im Einserbereich, doch SEIN Abitur machte ER dann mit einem Schnitt von drei. Sie nahm das jedoch nicht wahr, denn seit einer Party im Anschluss an den Valentinstagsball hatte sie einen neuen Freund, und dachte garnicht mehr an IHN.
Eine Sonnenbrille verbarg ihre Augen, und auch die Tränen in ihnen, als sie sich ins Taxi setzte, und dem Fahrer ihr Ziel — den Flughafen — nannte.
Unterwegs geriet das Taxi in einen Stau, und sie nahm den Brief aus ihrer Tasche, der ihre Erinnerungen vor wenigen Tagen wieder zum Leben erweckt hatte.
Der Brief war von einer einstigen Mitschülerin, die mittlerweile mit IHM zusammen studierte.
„Ich schreibe dir, weil…“ las sie da. „… und auch wenn ich es nicht verstehen kann, hat ER dich geliebt. Du hast IHN damals schon schwer verletzt, aber ich vermute, es hat dir damals schon nichts bedeutet, und es bedeutet dir auch heute nichts.“
Sie weinte, denn jetzt war es für sie von Bedeutung. ER war vor Jahren schon genau das gewesen, wonach sie jetzt auf der Suche war.
„Du hast wahrscheinlich nicht gewusst, dass ER gerne geschrieben hat…“
Sie hatte es gewusst, und Witze darüber gemacht. Hinter SEINEM Rücken nannte sie IHN damals den erfolglosen Dichter, doch hatte sie noch nie etwas von IHM gelesen. Die Geschichten, die ER ihr gab, hatte sie ungelesen in den Papierkorb geworfen.
Vor ein oder zwei Jahren hätte sie gerne etwas davon gelesen, aber da war es schon zu spät.
„… aber ER hat sogar recht gut geschrieben, und ich finde, du solltest endlich mal etwas davon lesen. SEIN Herz ausgerechnet am Valentinstag zu brechen, obwohl ER schon so ein geschwächtes und sanftmütiges Herz hatte, zeugt von einem bösen Wesen. Jeden Valentinstag darauf brach SEIN Herz etwas mehr und…“
Das Taxi kam vor dem Flughafen zum Stehen, und sie verstaute den Brief wieder in ihrer Handtasche. Mit belegter Stimme fragte sie den Fahrer nach dem Preis, bezahlte ihn, und ging ins Gebäude.
Als sie an Bord war, und sich die Maschine in die Lüfte erhoben hatte, nahm sie die Manuskripte, die dem Brief beigelegen hatten, und alle SEINE Handschrift aufwiesen, zur Hand, und las sie abermals — während ihre Tränen ungehindert flossen.
Nach der Landung wartete schon die Mitschülerin am Flughafen auf sie, und zusammen nahmen sie sich ein Taxi.
Während der Fahrt sprachen sie nur das Nötigste.
„Es spricht für dich, dass du IHN noch einmal sehen willst, auch wenn ich nicht weiß, was das jetzt noch bringen sollte. Du hast IHN doch nie gekannt! Für dich war ER doch nur ein alberner Trottel.“
Sie sah es jedoch als ihre Pflicht an, nachdem sie IHM soviel angetan hatte. Jetzt, da sie soviel mehr über IHN und SEIN wirkliches Wesen wusste, fühlte sie sich dazu verpflichtet.
Das Taxi hielt vor einem großen, schmiedeeisernen Portal, das eine massive, meterhohe Mauer unterbrach, die ihrerseits ein riesiges, parkähnliches Gelände umgab.
„Jetzt musst du alleine weiter. Ich warte hier auf dich.“
Mit unsicherem Schritt machte sie sich auf den Weg. Sie wusste schon, welchen Weg sie zu nehmen hatte.
Um sie herum sangen unzählige Vögel um die Wette, das Licht der Nachmittagssonne brach durch die belaubten Äste und Kronen der mächtigen Bäume und das ganze Gelände lag so friedvoll und besinnlich da.
Da war ER!
Direkt vor ihr!
ER lag auf einem Hügel unter einer großen Kastanie.
SEIN Grab!
Das Datum auf dem Grabstein verriet ihr, was sie wissen musste:
Gestorben am 14.02…
Und die Grabinschrift lautete:
„Manche Herzen brechen nicht nur, sie zersplittern.“