„Kontaktanfrage senden“
Ich zögere. Soll ich wirklich? Ich scrolle vorsichtig weiter, ich möchte nicht aus Versehen drücken.
Dann tippe ich nochmal auf das Profilfoto. Du bist es, eindeutig. Kaum älter, aber das kann auch daran liegen dass es ein gutes Foto ist. Neben dir eine blonde Frau mit großer Sonnenbrille. Schwer zu sagen wie sie tatsächlich aussieht, die Brille verdeckt fast das ganze Gesicht.
Ich tippe auf das nächste Foto. Wieder du, dieses Mal alleine mit dem Meer im Hintergrund. Der Rest der Fotos ist gesperrt.
Also du bist es, so viel ist schon mal klar. Aber soll ich Kontakt aufnehmen? Wirklich? Wie lange ist das jetzt her? Zehn Jahre… nein, nicht ganz. Neun Jahre ist es her. Das klingt auch viel besser als zehn.
Es ist ja so, wenn man mit jemandem ein paar Jahre keinen Kontakt mehr hat, hat das einen Grund. Das muss nicht unbedingt schlimm sein aber oftmals hat sich einfach das persönliche Verhältnis totgelaufen. Persönliches Verhältnis… was für eines hatten wir eigentlich?
Ich blicke vom Telefon auf und mein Blick wandert aus dem Fenster. Der Baum auf der anderen Straßenseite ist nach diesem grauenhaften Winter endlich grün geworden. Auf der Straße laufen Menschen mit Maske. Also was waren wir? Freunde? Das greift nicht tief genug. Fuckbuddies? Schlimmes Wort, trifft es auch nicht. Liebhaber? Teilweise sicher. Ein Bisschen von allem? Vielleicht… schwer zu sagen. Auf jeden Fall ging das Leben irgendwann einen anderen Weg.
Ich stehe auf und lege mein Telefon auf den Küchentisch. Dann schaue ich auf die Straße. Ein Auto quetscht sich in eine Parklücke, eine Frau lässt ihren Hund an einen Baum pinkeln.
Du hast offensichtlich geheiratet. Ich nicht aber ein Kind habe ich trotzdem. Irgendwann damals ging die Normalität halt weiter. So wie das normale, Heterosexuelle Menschen eben tun. Sie leben so wie es der Rest der Gesellschaft auch tut, also auch ich und vermutlich auch du. Schließlich hast du ein Profilfoto wo du neben deiner Frau stehst. Vermutlich habt ihr Familie.
Auf der Straße geht die Frau mit dem Hund jetzt weiter. Ich kratze mich am Hinterkopf. Wir haben keine Gemeinsamkeiten mehr. Oder doch? Die Grundlage unseres persönlichen Verhältnisses ist nicht mehr da. Das glaube ich zumindest, wirklich sagen kann ich es nicht.
Ich nehme mein Telefon wieder in die Hand, entsperre den Bildschirm. Dein Profilfoto schaut mich immer noch an. Ich blicke wieder aus dem Fenster. Es gibt nur einen einzigen Grund, dich zu kontaktieren: Neugier. Gibt es einen Grund, dich nicht zu kontaktieren? Oder anders gesagt: was gibt es denn zu verlieren?
Es interessiert mich nicht mehr ob irgendwer weiss was zwischen uns passiert ist. Mir ist sowas heute völlig egal und der Gesellschaft sowieso. Es wäre lediglich dir gegenüber unfair, einfach so Hallo zu sagen und deine Frau bekommt das dann mit. Andererseits muss Sie nicht gleich wissen was wir gemeinsam gemacht haben… du kannst ihr auch sagen dass wir alte Bekannte sind. Falls sie überhaupt mitbekommt dass ich dir eine Kontaktanfrage – ich wische alle Gedanken beiseite. Es sind zu viele.
Dann tippe ich auf „Kontaktanfrage senden“, sperre das Display und lege das Telefon auf den Küchentisch. Entweder du antwortest oder eben nicht. Ich weiss schließlich nicht mal ob du das Profil in diesem sozialen Netzwerk überhaupt aktiv verwendest.
Anschließend gehe ich ins Badezimmer und steige in die Dusche. Es ist Sonntag Vormittag. Meine Tochter ist dieses Wochenende bei meiner Ex-Freundin und ich habe keine Pläne. Das warme Wasser läuft meinen Körper hinunter.
Vielleicht fahre ich heute einfach mal aus der Stadt raus. Sie hängt mir irgendwie zum Hals raus, diese Stadt. Es war mal toll aber vieles hat sich geändert. Das liegt nicht daran dass ich älter geworden bin sondern der Charakter dieser Stadt hat sich geändert. Hafenarbeiter wurden durch Menschen mit viel Geld ersetzt. Oder zumindest Menschen die so tun als hätten sie Geld. Der ursprüngliche ruppige Charme ist verloren gegangen.
Meine Tochter ist alt genug dass ich bald auch mal über einen Umzug nachdenken kann, nur wohin? Ins Ausland vielleicht? Irgendwohin wo es wärmer ist, wo der Winter kürzer ist.
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Ich trockne mich ab, ziehe mich an und gehe ins Wohnzimmer, um mir einen Kaffee zu machen. Mehr aus Routine greife ich nach meinem Telefon.
„Kontaktanfrage bestätigt. Ihr seid jetzt Freunde.“
Mein Herz bleibt stehen.
„Du hast 3 neue Nachrichten“
Ich tippe darauf. Es dauert normalerweise keinen Sekundenbruchteil bis sich das Messenger Fenster öffnet. Heute dauert dieser Sekundenbruchteil gefühlte Ewigkeiten.
-„Marc!“
-„Ich glaube es nicht! Du!“
-„Freut mich dass du mir geschrieben hast :)“
Mit zitternden Fingern stelle ich die Kaffeedose zurück ins Regal. Dann bemerke ich oben rechts dein Profilfoto, daneben ein grüner Punkt: Online.
-„Neun Jahre“ tippe ich. „Ich habe vorhin nachgerechnet“ Als ob unsere Unterhaltung keine Einleitung bräuchte.
-„Ich weiss, ich habe vor zwei Wochen nachgerechnet :)“ schreibst du zurück
/Jan schreibt…/
-„Marc, wahnsinn dass du mir heute geschrieben hast! Ich wollte dir auch schreiben aber ich habe im Netz keine Spuren von dir gefunden. Schön dass du mich gefunden hast :)“
Ich bin nicht leicht zu finden im Netz. Das ist wahr.
-„Wie geht es dir, was machst du?“ Frage ich dich
-„Gut, danke… wie soll ich sagen… das ist eine lange Geschichte? :)“
-„Haha, immer!“ antworte ich. Dann zögere ich ob ich es schreiben soll, meine Frage könnte unangebracht sein aber ich will es wissen. „Du hast geheiratet?“
-„Ja“ antwortest du. Ich kann nicht sagen warum aber ich fühle mich etwas erleichtert. Vielleicht weil damit klar ist, wo wir stehen?
-„Und du? Hast du Familie?“ schiebst du hinterher.
-„Ja. Also eine Tochter. Und eine Ex-Freundin aber die zählt wohl eher nicht als Familie :)“ tippe ich zurück.
-„Freut mich für dich!“ schreibst du zurück „Wir sind seit vier Jahren verheiratet, haben aber keine Kinder“.
Während ich überlege was ich antworten soll, schreibst du weiter:
-„Ich habe dich schon lange im Netz gesucht.“
Mein Herz bleibt wieder ein bisschen stehen.
-„Ich wollte hören wie es dir so geht und was aus dir geworden ist… das mit uns damals war…“
-„Anders?“ versuche ich, deinen Satz zu beenden ohne seltsam zu wirken.
-„Einzigartig“ schreibst du.
-„Ja. Für mich auch.“ Auf einmal ist es wieder da, dieses Gefühl. „Es fühlt sich vertraut an, mit dir zu sprechen“ schreibe ich.
/Jan schreibt…/
-„Ja. Sehr. Marc, pass auf, ich falle gleich mit der Tür ins Haus. Ich habe oft an dich gedacht. Also wirklich oft. Und ich wusste ja nicht wie dein Leben aussieht und finden konnte ich dich auch nirgends aber wenn ich dich früher gefunden hätte, hätte ich dich auch früher gefragt.“
-„Was gefragt?“ schreibe ich zurück.
-„Hast du vielleicht Lust, mich mal zu besuchen?“
Ich weiss nicht was ich antworten soll. Natürlich will ich aber deine Frau? Wie formuliere ich das jetzt. Ich überlege. Da ich nicht zu lange warten will tippe ich einfach zurück.
-„Klar! Ich würde mich auch auf dich freuen.“ Dann gefällt mir der Satz nicht und ich schiebe hinterher „Also einfach nur so.“
-„Hurra ;)“ antwortest du. „Hier ist mein Vorschlag: wir haben ein Boot, das liegt zur Zeit in der Adria. Hast du Zeit?“
-„Ein Boot?“ frage ich
-„Ja, ein großes Boot. Das Geld ist von meiner Frau aber der springende Punkt ist, das Boot ist groß genug.“
-„Klingt gut“ das meine ich wirklich ehrlich. Ich freue mich darauf, dich zu sehen. Also einfach nur so. Das sage ich mir zumindest.
-„Ab Juni ist es warm genug und noch nicht brechend voll hier. Könntest du das einrichten?“
-„Ja“ antworte ich kurzerhand. Die Details sind mir egal, ich will dass es klappt.
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Ich trete aus dem Flughafen und wir fallen uns in die Arme. Die Sonne brennt, es duftet nach Rosmarin und Kiefern. Du hast dich fast nicht verändert, ein paar Jahre älter aber wir sind beide noch ziemlich gut in Form. Als ich mich gerade fragen will ob diese Umarmung etwas zu lange dauert, lösen wir uns.
– „Marc“ du lächelst mich an.
– „Jan“ ich erwidere mit einem breiten Grinsen. „Du bist alleine?“
– „Ja, Irina, also meine Frau, ist für ein paar Tage nach Italien. Ihre Eltern leben dort. Wir sind alleine.“ Dann fällt dir auf dass man den zweiten Satz missverstehen könnte und du schiebst hinterher „also sie kommt dann nach“.
– „OK“ ich nicke lächelnd. „Irina. Ist sie Russin?“ Wir hatten uns vorher nicht über deine Frau unterhalten. Ich hatte lediglich die Information dass es sie gibt.
– „Nein, überhaupt nicht… Ihre Eltern mochten nur den Name. Sie…“ du zögerst, ich schaue dich fragend an „ach egal, komm mit!“
Ich folge dir über den Parkplatz, meine Reisetasche geschultert. Du gehst einen Meter vor mir, kurze Hose, Polohemd, Flip-Flops. Ich mustere deinen Hintern durch die Shorts. Sieht immernoch sehr knackig aus. Gerade als mein Blick wieder höher wandert, drehst du den Kopf nach hinten und siehst mich an, lächelnd.
– „Es tut gut dich zu sehen“
– „Ja“ ich nicke. Das tut es wirklich. Egal was jetzt der Stand zwischen uns ist.
Als wir am Auto ankommen, drückst du die Fernbedienung und die Zentralverriegelung springt auf. Ich werfe meine Tasche in den Kofferraum und setze mich auf den Beifahrersitz. Die angestaute Hitze im Auto verfliegt als du die Klimaanlage anmachst. Zum Glück war ich weitsichtig genug, ebenfalls kurze Hosen und Shirt anzuziehen – trotz der kälteren Temperaturen beim Abflug.
Langsam verlassen wir den Parkplatz und fahren auf eine Landstraße.
– „Wir müssen einmal durch die Stadt um an die Küstenstraße zu kommen. Dann ungefähr eine halbe Stunde richtung Süden. Da ist unser Verwalter… also falls man das so nennen kann. Wir parken das Auto bei ihm und fahren mit dem Dingi zum Ankerplatz.“
– „Mit dem was?“ frage ich zurück.
– „Dingi. Das ist ein Beiboot. So ein kleines Schlauchboot mit Motor dran, damit man vom Ankerplatz an Land kommt.“ Du lachst. „Yachtis brauchen für alles eigene Namen“.
Ich nicke und betrachte dich von der Seite. Du siehst wirklich gut aus. Trainiert aber trotzdem schlank, gut gebräunt. Bestimmt ist dein ganzer Oberkörper gebräunt, nicht nur die Arme. Die Beine ebenfalls. Und darunter? Ob du in der Hose — du blickst mich an, lächelst und reisst mich aus meinen Gedanken.
Wir biegen ab, die Durchfahrtstraße führt durch die Stadt. Halbfertige Häuse rechts und links, ein paar Geschäfte, ein bisschen Gewerbe. Viel verdörrtes Gras und im Hintergrund glitzert das Meer. Dann lassen wir die Stadt hinter uns und biegen ab auf die Küstenstraße. Kiefern links, Strand rechts. Noch eine halbe Stunde.