„Bravo, Bravo, Bravo!“

Hannah sprang sofort auf, als der Schlussapplaus einsetzte. Das war nicht ungewöhnlich. Die Afficionados und Afficionadas in der Bayerischen Staatsoper machten das, wenn sie Sängern, Dirigent und Orchester ihre Begeisterung über das gerade Erlebte zurückgeben wollten. Ungewöhnlich war allenfalls Hannahs Alter. Es senkte den Durchschnitt des angegrauten Münchner Opernpublikums doch erheblich.

Hannah war nämlich gerade erst 18. Damit gehörte sie eindeutig zum Besuchernachwuchs. Gut, es gab immer wieder auch kleinere Kinder, die von ihren Eltern in die Welt der Oper eingeführt wurden und mit staunenden Augen die Pracht des Nationaltheaters in sich aufsogen. Dann gab es aber in der Regel erst wieder die opernbegeisterten Studentinnen und Studenten. In der Altersklasse der Abiturientinnen war Hannah ein ziemlicher Ausnahmefall.

„Schuld“ waren ihre Eltern, zwei opernbegeisterte Juristen, die nicht zuletzt der Ruf der Musikstadt zum Studium nach München gelockt hatte und die damals einen großen Teil ihres knappen Studentenbudgets in Konzert- und Opernkarten investiert hatten. Nach Studium und Referendariat waren beide in München geblieben, machten Karriere in der Münchner Justiz, siedelten sich in einem schönen ruhigen Vorort an der Isar an und versuchten, die Klassikbegeisterung an ihre Kinder weiterzugeben.

Mit Erfolg. Hannah und ihr ein Jahr älterer Patrick hatten tatsächlich schon als Kinder Feuer gefangen und Klavier und Klarinette spielen gelernt. Im Gymnasium waren sie im Schulchor aktiv und entwickelten sich dank ihrer schönen Stimmen (auch nach Patricks Stimmbruch) zu echten Stützen dieses Klangkörpers. Opernbesuche liebten beide über alles.

Heute Abend musste es „Don Giovanni“ sein, der im Rahmen der Münchner Opernfestspiele mit einer besonders herausragenden Besetzung aufgeführt wurde. Der „Giovanni“ war eine von Hannahs Lieblingsopern. Die teuren Parkettkarten waren ein Geschenk ihrer Eltern. Denn Hannah hatte heute Geburtstag. Natürlich sollte der Geburtstag ein Tage später noch groß mit Freundinnen und Freunden gefeiert werden. Aber heute war erst einmal Oper angesagt.

Das Geschenk wurde noch dadurch aufgewartet, dass ihr Bruder neben ihr saß. Patrick studierte seit dem letzten Wintersemester in Passau. Jura, wie die Eltern. Studium, Stadt, Uni und Mitstudent(inn)en gefielen ihm so gut, dass ihn der Weg nur noch ganz selten nach Hause führte. Jetzt war das Semester aber zu Ende und so hatte er sich am Nachmittag auf den Weg von Passau in die Stadt gemacht, sein schnuckeliges kleines Auto mitsamt Gepäck in der Operngarage abgestellt und sich mit dem Schwesterchen auf den Stufen vor dem Eingang getroffen.

Patrick und Hannah waren ein Herz und eine Seele. Das war nicht immer so gewesen. Als beide klein waren, rivalisierten sie um die Vorherrschaft im Kinderreich. Der geringe Altersabstand tat sein Übriges. Entscheidend war aber wohl Hannahs Temperament, das schon in Kinderzeiten kaum zu bändigen war. Hannah war das, was man als „willensstark“ bezeichnet. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, musste das umgesetzt werden, koste es was es wolle. Furcht oder gar Angst waren für Hannah keine relevanten Kategorien. Deswegen war sie recht früh schon in den Bergen unterwegs und inzwischen eine sehr gute Kletterin, die auch an Wettkämpfen teilnahm. Mit Erfolg natürlich. Alles andere hätte nicht zu ihr gepasst.

Ihr Bruder war schon immer der deutlich ruhigere gewesen. In der Kinderzeit war das noch ein großer Nachteil. Aber als beide Teenager wurden, hatte er sich den Respekt und die innige Zuneigung seiner gerade durch seine ruhige und überlegte Art erobert. Patrick wusste immer Rat und war schwer aus der Ruhe zu bringen. Der Ausdruck „Fels in der Brandung“ traf es ganz gut, zumal er mit seinen 1,93 m auch körperlich in jeder Gruppe deutlich herausragte. Zwar begleitete er seine Schwester gerne zum Klettern, aber eigentlich gehörte sein sportliches Herz dem Basketball, bei dem er im Verein und seit dem Winter auch in der Passauer Unimannschaft sehr erfolgreich war.

Die Schule war für beide keine echte Herausforderung gewesen. Das lag entweder am guten Genmaterial der Eltern oder an der Zuwendung und Unterstützung durch diese. Im Zweifel war es eine Kombination aus beidem. Während sich Patrick, ohne dass die Eltern das beeinflusst hätten, für ein Jurastudium entschieden hatte, kam für Hannah seit Kindertagen nur ein einziger Beruf infrage: Sie wollte, nein sie musste Ärztin werden. Eines der wichtigsten Weihnachtsgeschenke in Kinderzeiten war der Arztkoffer gewesen, mit dessen Inhalt dann die gesamte Familie jahrelang untersucht und behandelt wurde.

Diesem Kindertraum blieb sie während der gesamten Schulzeit treu. Da auch die sehr gute Hannah nicht sicher sein konnte, ob sie den anspruchsvollen Numerus Clausus für das Medizinstudium mit der Abinote knacken konnte, hatte sie sich entschieden, zusätzlich den Medizinertest zu machen, der, deutschlandweit einheitlich, im Mai mehr oder weniger parallel zum Abitur stattfanden.

Geholfen hatten ihr dabei lange Gespräche mit Miriam, die nicht nur die beste ihrer Mutter, sondern auch deren (und jetzt auch Hannahs) Frauenärztin war. Sie machte Hannah mit der eigenartigen Welt der multiple choice — Aufgaben vertraut, die die angehenden Mediziner durch ihre Ausbildung begleitet. Am Ende hatte Hannah den Studienplatz sicher. Für sie kam, wie bei den Eltern, nur München in Frage. Nicht nur wegen der Oper, sondern weil München für sie die schönste und coolste Stadt der Welt war. Dass sie nicht zu Hause wohnen bleiben würde, war klar. So hatte sie mit all ihrer Energie und ihrem Ehrgeiz zwischen Abiprüfungen und Abifahrt eine Zweier-WG gefunden, die sie im Herbst mit Lea, ihrer besten Freundin aus Schulzeiten, beziehen würde.

Hannah wäre nicht Hannah gewesen, wenn sie sich in der Zeit zwischen Abi und Semesterbeginn auf die faule Haut gelegt hätte. Stattdessen hatte sie gleich nach der Rückkehr von der Abifahrt in einer Klinik im Münchner Süden das dreimonatige Krankenpflegepraktikum in Angriff genommen, das jeder Medizinstudent vor dem Physikum absolviert haben muss. Die Arbeit im Krankenhaus mit den Pflegerinnen und Pflegern aus aller Herren Länder und vor allem der Kontakt mit den Patienten machte ihr großen Spaß. Hätte es einer Bestätigung bedurft, dass Medizin das richtige Studienfach für sie war, schon die ersten Wochen des Praktikums wären es gewesen. Nicht einmal das frühe Aufstehen konnte sie schrecken, freute sie sich doch jeden Morgen auf die neuen Erlebnisse im Krankenhaus. Auch heute hatte sie wieder Frühdienst gehabt, und blieb danach noch zum Bummeln, Shoppen und Eisessen in der Stadt, bis die Vorstellung begann.

Auch Patrick hatte sich auf diesen Abend gefreut. So sehr er sich in seine Studienstadt Passau verliebt hatte — im Sommer noch mehr als im oft nebelverhangenen Wintersemester — so sehr gefiel es ihm, jetzt wieder ein paar Wochen zuhause zu sein, seine alten Kumpels aus Schule und Basketballverein zu treffen und Zeit mit den Eltern und seiner Schwester zu verbringen. Der heutige Abend war der ideale Auftakt. Zum einen schmeichelte es ihm, am Geburtstagsabend seiner Schwester ihr einziger Begleiter zu sein. Zum anderen war Patrick leidenschaftlicher Mozart-Fan und genoss jede Gelegenheit, die Musik des von ihm verehrten Genies live zu hören.

Und die heutige Vorstellung war wirklich ein Höhepunkt. Ausdauernd und lautstark feierten Hannah und Patrick mit Standing Ovations die Künstler, bis sich der Vorhang ein letztes Mal schloss. Noch voller Emotion und Adrenalin, klatschten sich die Geschwister gegenseitig ab, bevor sie das Parkett verließen.

Im Foyer hielt Patrick kurz inne, sah seine Schwester an und fragte:

„Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?“

Als er merkte, dass Hannah ihn verständnislos ansah, setzte er nach:

„Na, gehen wir zu Dir oder zu mir?“

Hannahs „Ach, machst Du das in Passau so, bevor Du Deine Kommilitoninnen flachlegst?“ kam schnippischer, als zunächst beabsichtigt. Patrick verstand die Aufregung nicht, hatte aber registriert, dass mehr Ernsthaftigkeit gefragt war.

„Ach Quatsch! Ich wollte nur fragen, ob wir jetzt hier noch auf Deinen Geburtstag anstoßen oder gleich heimfahren.“

„Du, ich muss ja morgen wieder früh raus. Ich wäre nicht böse, wenn wir heimführen. Wir können ja gerne noch auf der Terrasse etwas Kaltes trinken. Die Mam hat, glaube ich, extra für ihren Lieblingssohn einen Wurstsalat gemacht. Nur ob die beiden noch wach sind, weiß ich nicht. Sie haben morgen einen anstrengenden Sitzungstag.“

„Alles schlagende Argumente! Auf den Wurstsalat freue ich mich. Auf ein kühles Weißbier auch. Und auch darauf mit Dir weiter zu quatschen. Dann lass uns fahren.“

Damit stiegen die beiden die große Freitreppe herab und schlenderten am Rand des Max-Joseph-Platzes zur Tiefgarage. Plötzlich hielt Patrick ein zweites Mal inne. Diesmal strahlte er seine Schwester voller Begeisterung an und fragte:

„Hab ich Dir eigentlich schon gesagt, dass Du fantastisch aussiehst? Das Kleid ist wunderschön und steht Dir ganz hervorragend. Ich habe schon einige neidische Blicke kassiert heute Abend, in völliger Verkennung der Rechtslage natürlich.“

„Rechtslage“ war ein Juristenwitz. Sagen wollte Patrick eigentlich, dass die neidisch Blickenden nicht wissen konnten, dass er „nur“ der Bruder der gut aussehenden jungen Dame war. Aber als Bruder war er sehr stolz auf seine Schwester: Hannah sah tatsächlich umwerfend aus. Sie war groß und schlank, hatte blonde, lange Haare, ein sehr fein geschnittenes Gesicht und wunderschöne blaue Augen, die am liebsten herzhaft lachten, wenn sie nicht gerade hochkonzentriert auf ein Ziel fixiert waren oder — was inzwischen eher selten vorkam — Ärger und Zorn versprühten. Auch ansonsten hatte es die Natur gut mit Hannah gemeint: Sie hatte einen Busen, der maximal mittelgroß, aber straff und fest war, einen ebensolchen Po und endlos lange, schlanke Beine. Das alles kam in ihrem Abiturkleid, das sie für heute Abend aus dem Schrank geholt hatte, perfekt zur Geltung.

Selbstverständlich freute sie sich über Patricks Komplimente. Charmant war er, ihr großer Bruder, und schon deswegen der Schwarm aller Tanten, Freundinnen ihrer Mutter und wohl auch mancher Lehrerin im Gymnasium gewesen. Außerdem sah er auch noch unverschämt gut aus: groß, muskulös, kurzes dunkles Haar mit leichtem Drei-Tage-Bart-Look. Humorvoller Blick, markante, aber alles andere als hässliche Nase, volle Lippen, kräftige Hände. Auch er war ein Hingucker und hätte gut als Italiener oder Grieche durchgehen können. Typ Latin Lover. Deswegen hatte er auch gar nicht protestiert, als sie vorhin den Schuss ins Blaue in Sachen „Kommilitoninnen flachlegen“ gemacht hatte. Als er noch zuhause war, hatte er nie Grund, sich über Einsamkeit oder Mangel an Interesse weiblicher Wesen zu beschweren.

Aber sein Kompliment hatte nicht nur Stolz ausgelöst. Da war noch etwas. Etwas ganz Eigenartiges. Tief in ihr drinnen. In Regionen, die nichts mit schwesterlichen Gefühlen zu tun haben. Oder zu tun haben sollten. Schon bei der Frage, ob man jetzt „zu mir“ oder „zu Dir“ ginge, hatte sie dieses Kribbeln wahrgenommen. Vielleicht sogar schon in der Oper beim Abklatschen. Nach dem Wort „fantastisch“ aber auf jeden Fall wieder.

Hannah war verwirrt. Sie wäre aber nicht Hannah gewesen, wenn sie diese Gefühle, wie eine brave Schwester, einfach ins Eisfach gelegt und weggeschlossen hätte. Brav war Hannah nicht. Im Gegenteil. Die Kehrseite ihrer Furchtlosigkeit war eine grenzenlose Neugier auf alles Unbekannte. Für eine angehende Ärztin war das sicher eine hervorragende Kombination guter Eigenschaften. Für die Schwester eines gutaussehenden jungen Mannes eher nicht.

Hannah nahm sich vor, das weiter zu beobachten. Sie würde von sich aus kein Öl ins Feuer gießen. Also, zumindest nicht viel. Nicht sehr viel, jedenfalls. Sie wollte einfach nur beobachten, ob dieses merkwürdige Gefühl wiederkommen würde. Wodurch es ausgelöst wird und wie stark es ist.

Hannah musste nur eine Viertelstunde warten. Als begeisterte Sänger machten sich die beiden Geschwister schon seit Jahren einen Spaß, bei passender und auch bei nicht so passender Gelegenheit je nach Stimmung und Publikum Opernarien oder Duette zum Vortrag zu bringen. Diesmal war es Patrick, der auf dem Weg nach Hause im Auto das Duett von Zerlina und Don Giovanni anstimmte:

„Là ci darem la mano,

Là mi dirai di sì,

Vedi, non è lontano,

Partiam, ben mio, da qui.“

Hannah konnte gar nicht anders. Sie musste einstimmen:

„Vorrei, e non vorrei,

Mi trema un poco il cor

Felice, è ver, sarei,

Ma può burlami ancor.“

‚Komisch‘, dachte sie: „Mein Herz pocht ein wenig.“ Das bin ich gar nicht. Oder jetzt vielleicht doch? Aber „Ich will, und will doch nicht“. Das trifft es eigentlich ganz gut.‘

Das Gymnasium, das die beiden besucht hatten, bot Italienisch als zweite Fremdsprache an. Für Opernfans war das ein Muss. Hannah wusste also, was sie da sang. Patrick auch. Nachdenklich sah sie ihren Bruder an. Dessen Gesichtszüge waren entspannt. Er sah völlig arglos aus.

‚Natürlich‘, dachte Hannah, ‚er hat es gesungen, weil das ein Hit des Stücks ist. Und ich Depp werde sofort unruhig dabei. Jetzt komm mal wieder runter, Mädel. Bloß nicht überpacen. Beobachten war die Devise. Nicht forcieren.‘

Dann stimmte sie wieder ein und beide sangen das berühmte ‚Andiam‘ gemeinsam.

Zuhause angekommen erwarteten sie dann doch die Eltern, die sich sehr über die Rückkehr ihres Sohnes freuten und es sich auch nicht nehmen ließen, auf die Volljährigkeit der Tochter anzustoßen. Nach knapp einer Stunde verschwanden sie im elterlichen Schlafzimmer und die Geschwister machten es sich, inzwischen wieder in Jeans und T-Shirt, bei Bier und Brotzeit auf der Terrasse bequem. Der letzten Juliwoche angemessen, war es auch abends um elf Uhr noch angenehm warm draußen. Obwohl beide via Messenger in ständigem Austausch waren, hatten sie sich viel zu erzählen. Patrick berichtete über sein Sommersemester, Hannah über Abi und Abifeier. Nach einer guten Stunde begann sie aber laut und vernehmlich zu gähnen und bat ihren Bruder ihr nicht böse zu sein. Sie sei früh aufgestanden und müsse das morgen wieder tun. Daher würde sie jetzt gerne schlafen gehen.

Eigentlich hätte sie beruhigt einschlafen können. Als sie auf der Terrasse saßen und quatschten, war alles wieder so wie früher. Das eigenartige Gefühl hatte sich nicht mehr gemeldet. Für vermutlich 99% der Mädchen in ihrer Situation wäre die Welt damit wieder im Lot gewesen. Hannah gehörte aber zu dem anderen einen Prozent. Beim Zähneputzen, schon im Schlafshirt, fragte sie sich, ob man diesem komischen Gefühl heute Abend nicht doch noch eine Chance geben sollte, sich zu zeigen. Schließlich wollte sie wissen, ob dieses Gefühl das war, was sie vermutete oder doch etwas anderes, Harmloses.

Also schlich sie auf Zehenspitzen vom Bad zum Zimmer ihres Bruders und klopfte ganz leise an. Als von drinnen ein „Ja“ kam, drückte sie die Tür vorsichtig auf. Patrick hatte noch Licht an, lag auf dem Bett und las. Als sie im Raum stand, lächelte er sie an. Kein bisschen verwundert, sondern nur froh, dass der schöne Abend noch nicht vorbei war.

„Ich dachte, Du wolltest schlafen?“

„Ja gleich. Vorher wollte ich nur noch…“

„Ja?“

„Ich würde so gerne noch fünf Minuten neben Dir liegen und quatschen. So wie wir das früher immer gemacht haben.“

„Na klar. Komm!“

Patrick rutschte in seinem Bett etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen. Dann klopfte er mit der flachen Hand kurz auf den freigeräumten Platz. Wie um zu zeigen: ‚Hier ist Dein Platz. Jetzt komm aber auch.‘

Hannah gab sich Mühe, ungerührt zu wirken. Der erste Teil ihres Plans war aufgegangen. Patrick hatte sich über ihr plötzliches Erscheinen nicht gewundert. Er war einfach nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Schnell legte sie sich ins Bett neben ihn. Schon beim Eintreten ins Zimmer hatte sie festgestellt, dass Patrick seine langen Beine angewinkelt hatte. Das machte sie jetzt auch, wobei sie darauf achtete, einen gewissen, aber nicht zu großen Abstand zu ihrem Bruder zu halten.

„Ich bin vor allem deshalb gekommen, um Dir noch einmal zu sagen, wie schön es ist, dass Du wieder da bist und mit mir Geburtstag gefeiert hast. So ein Abend in der Oper mit Dir zusammen ist etwas ganz Anderes als ohne Dich.“

„Du bist ja süß, Schwesterlein! Ich muss sagen, dass ich das heute auch genossen habe. Den Geburtstagsabend und den Opernbesuch. So schön Passau ist, aber in Sachen Kultur ist schon noch deutlich Luft nach oben.“

„Glaube ich Dir. Aber wer weiß, wozu es gut ist. Dafür hast Du dann abends mehr Zeit für andere Aktivitäten.“

Patrick musste grinsen:

„Andere Aktivitäten? Du solltest mich nicht überschätzen. Jura ist anstrengend. Ich trainiere zweimal in der Woche mit der Mannschaft, einmal mit dem Uni-Team, dann ab und an mal ein kleines Bierchen mit den Jungs. Dann ist es aber auch gut.“

„Fehlt da nicht noch ein wichtiger Lebensbereich?“

„Ich wüsste nicht, was Du meinst?“

„Jetzt tu doch nicht so scheinheilig! Die Mama liegt mir schon gefühlt seit Weihnachten in den Ohren: ‚Ob er schon eine Freundin hat in Passau? Man hört so gar nichts. Kannst Du nicht mal vorsichtig fragen?'“

„Ach, das meinst Du? Ich fürchte, da werdet ihr Euch noch ein wenig gedulden müssen. Die Richtige war einfach noch nicht dabei.“

„Das heißt aber nicht, dass Du auf dem Trockenen sitzt?“

„Das nun auch nicht gerade. Aber die Frau fürs Leben war es noch nicht.“

„Was läuft denn da so? Eher One-Night-Stands? Oder Affären?

Jetzt war, fand Hannah, der richtige Zeitpunkt, mit ihrem hochgestellten Knie Kontakt zu Patricks Knie aufzunehmen und ganz, ganz leicht dagegen zu drücken.

„Du willst es aber genau wissen! Ehrlich gesagt passt weder das eine noch das andere. Ich hatte relativ am Anfang des Studiums mal etwas mit einer Österreicherin. Die war richtig süß. Und gut drauf. Das ging eine Zeitlang ziemlich gut, bis sie nach den Weihnachtsferien kam und erzählt hat, dass sie bei der Silvesterfete ihren Ex- wieder getroffen hat und schwach geworden ist. Mit dem ist sie jetzt wieder zusammen. Als Fernbeziehung. Offensichtlich reicht ihr das aber nicht. Deswegen treffen wir uns auch weiter ein-, zweimal im Monat. Aber was Ernsthaftes ist das nicht mehr und wird es wohl auch nicht.

Dann gibt es noch eine äußerst gut aussehende Italienerin, die ich vom Basketball kenne. Ihr Problem ist, dass sie nicht genau weiß, was sie will und ob sie mich will. Wenn sie gerade meint, sie will mich, ist es der Himmel auf Erden. Sobald sie anfängt zu zicken, wird es aber richtig ekelhaft.“

„Du Armer. Das hört sich ja richtig nach Stress an.“

„Ist es auch. Nur gut, dass es Leonie gibt.“

„Leonie also. Was macht die so?“

„Leonie wohnt im Wohnheim im Zimmer neben mir. Leonie ist der fürsorgliche Typ, der sich rührend um die ganze Clique kümmert, immer alles organisiert, alles von allen weiß, ohne es weiterzutratschen und immer Zeit hat, wenn man mal etwas braucht.“

„Mit ‚brauchen‘ meinst Du jetzt nicht unbedingt Olivenöl oder Zwiebeln, nehme ich an. Die kümmert sich also fürsorglich um Dich, wenn die beiden anderen gerade nicht können oder nicht wissen, ob sie wollen?“

„Das ist jetzt aber sehr zugespitzt. Leonie hat einfach Spaß am, eh, Zwischenmenschlichen. Allerdings hat sie mir früh klargemacht, dass ich mir nicht einbilden sollte, wir hätten was miteinander. Für etwas „Festes“ sei sie noch nicht reif genug. Und wenn, dann wüsste sie auch noch gar nicht, ob sie eher mit einem Mann oder eine Frau zusammen sein will. Nachdem das klargestellt war…“

„… lasst Ihr es krachen, wenn Euch danach ist.“

„So könnte man das vielleicht formulieren. Wenn sie nicht gerade von Luisa in Beschlag genommen ist. Das ist sozusagen das weibliche Pendant zu mir. Aber sag mal, was ist denn das für ein komisches Verhör? Und was ist eigentlich mit Dir? Jetzt, wo ich alles im Detail gebeichtet habe, bist Du auch mal dran!“

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