Ich wünschte, es wäre eine Liebesgeschichte.

Patrizia Panther

Based on a true story.

Wann immer Sie mich beobachten, schauen Sie hinauf. Und wann immer ich Sie beobachte, tue ich das von oben herab. Selbst wenn Sie sich hinter dem Vorhang des Lehrerzimmers im ersten Stock verstecken und auf den Schulhof hinunter schauen und sich unbeobachtet fühlen, sehen Sie nicht wirklich auf mich herab, sondern haben ein schlechtes Gewissen, bei dem, was Sie tun. Wo immer Sie sich befinden, Sie sind irgendwie unter mir. Das ist doch interessant, finden Sie nicht?

Wir passen zusammen. Sie und ich. Ich möchte wissen, wie es ist, über einen Menschen zu herrschen, und Sie möchten beherrscht werden.

Ich könnte mir irgendjemanden suchen, irgendeinen Typen wählen. Es gibt genug, die sich gerne herumkommandieren lassen. Aber ich will nicht irgendeinen Jungen aus der Schule.

Ich will Sie.

Sie zu beherrschen würde mir gefallen. Sie sind Lehrerin, Sie stehen eigentlich über mir. Sie vor meinen Füßen knien zu sehen, würde mich aufgeilen.

Sie glauben, dass Sie mir überlegen sind. Sie sind um die zehn Jahre älter als ich, schätze ich mal. Sie haben studiert und sind gebildet. Ich bin es nicht. In Ihren Augen bin ich ein kleines Mädchen, eine wie alle anderen. Aber in den zehn Jahren, die Sie mir voraus haben, haben Sie bestimmt nur Gänseblümchen und Pusteblumen gepflückt und ich die Blumen des Bösen. Meine Welt ist düsterer als Ihre, und Sie haben mir nichts entgegenzusetzen.

Gestehen Sie es sich ein und ergeben Sie sich mir!

Eins

Wie viel darfst du wagen, um glücklich zu sein?

Wie anders darfst du sein?

Wie sehr darf es dich nicht interessieren, was die anderen denken?

Wie viel darfst du riskieren?

Diese Fragen gehen mir durch den Kopf. Es sind Fragen, die bis in das Innerste meiner Seele dringen und alles in Frage stellen, was ich zu sein vorgebe.

Jede dieser Fragen stellt eine eindringliche Warnung für mich dar. Ich kenne jede Antwort auf diese Warnung. Jede Antwort warnt mich mit erhobenem Zeigefinger und schüttelt ungläubig den Kopf ob meines Leichtsinns.

Und dennoch schieße ich all diese Warnungen in den Wind.

Ich will sie nicht hören und nicht meinem Verstand gehorchen. Ich will nicht klug und rational sein. Ich will all das nicht, was mir bislang so wichtig war.

Was ich will, ist mich zu ergeben.

Mich ihr zu ergeben.

Ich riskiere mein bisheriges Leben.

Ich habe meinen Verstand verloren.

Ich lasse den Dingen ihren Lauf und kümmere mich nicht um die Konsequenzen.

Wenn ich den Warnungen in Gedanken folge, dann sehe ich auch ein Morgen. Es ist kein schöner Morgen.

Ich sehe mich nicht in einer anderen Stadt als einfache Schreibkraft in einer kleinen dunklen Mietskaschemme. Nicht in meiner teuren Altbauwohnung, ohne mein üppiges Gehalt, ohne meine sichere Pension, ohne meinen Beamtenstatus.

All das setze ich aufs Spiel. So spricht die Warnung tagein tagaus, wenn ich sie gewähren lasse. Aber mein Verstand hat keinen Schimmer davon, was ich gewinne durch meinen Leichtsinn. Ich gewinne ein Leben. Ich gewinne einen Sinn. Ich gewinne so viel. Was sind da die Risiken? Ich muss nicht in einer Altbauwohnung residieren. Ich bin gebildet und intelligent. Ich brauche nicht die Alimentation und das weiche Bett des Beamtenstatus. Ich könnte auch klar kommen einfach nur, indem ich mich auf mich selbst verlasse.

Und so setze ich mein bisheriges Leben weiterhin aufs Spiel.

Es ist ganz klar Wahnsinn.

Wenn man mich zur Rechenschaft ziehen wird, wenn ich in irgendeinem Büro sitze in irgendeiner Behörde vor irgendeinem strengen Beamten, dann werde ich nur meine Schultern sinken lassen und vor Scham auf den Boden starren.

Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich tue. Keine Rechtfertigung. Ich weiß, dass ich mich nicht angemessen verhalte. Ich werde auf die Frage nach meiner Rechtfertigung nur mit brüchiger Stimme kaum hörbar flüstern:

„Ich habe Glück gesucht. Ich habe die Liebe gesucht.“

Der Beamte wird den Kopf schütteln und mich anschnauzen, was ich mir dabei nur gedacht hätte.

Und ich werde schweigen, weil ich weiß, dass er mich nicht verstehen wird. Dass niemand mich verstehen kann.

Mein Schicksal sehe ich vor mir, es läuft vor meinen Augen ab, ich sehe, wohin alles führen wird, und doch kann ich nichts dagegen unternehmen. Ich bin wie eine Drogensüchtige, die einfach nicht lassen kann. Wie vom Teufel besessen oder in den Klauen einer Sekte. Ich kann nicht von ihr lassen.

Ich bin ihr verfallen.

Und alles nur aus Begierde, Perversion, Geilheit.

Wie ein Tier benehme ich mich. Wir beide sind Gottesanbeter. Sie ist das Weibchen. Ich bin das Männchen. Auf dem Höhepunkt wird sie mir den Kopf abreißen.

Einfach nur, weil sie es kann.

Und ich werde es geschehen lassen.

Weil ich es will?

Es ist nichts Böses, Verwerfliches, das mich treibt.

Es ist menschlich.

Es ist so was wie Liebe.

Es ist Liebe.

Wenn auch niemand diese Art der Liebe verstehen wird.

Denn es ist einseitig. Ich bedeute ihr so viel, wie sie sagt. Nichts. Ich bin in ihren Augen nichts. Ich schenke mich ihr jeden Tag, aber sie nimmt es nicht als ein Geschenk. Sie respektiert mich nicht, denn ich benehme mich nicht wie jemand, den man respektieren kann.

Ich bin nicht mehr für sie als die Flusen in ihrem Bauchnabel, wie sie sagt. Sie lachte dabei, aber ich weiß ehrlich nicht, ob es nur ein Scherz war. Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob es stimmt, wenn sie mir sagt, dass sie mich liebt. Ich weiß es nicht.

Ich bin n ihren Augen etwas Unnützes, das sie ein wenig amüsiert, mit dem sie ein wenig spielen kann. Wie mit den Flusen in ihrem Bauchnabel hat sie ein wenig Freude daran, mit mir zu spielen.

Ich lebe ständig in Angst vor ihrer Willkür und ihren Launen. Ständig muss ich damit rechnen, dass sie mich fallen lässt und im Rinnstein zertritt. Aus Langeweile, aus Laune, aus Sadismus eben. Aus eben jenem Sadismus, den ich so an ihr bewundere.

Niemand kann verstehen, warum mich diese Angst so mit Leben erfüllt und warum ich immer noch so danach giere, ihr zu gefallen und sie glücklich zu machen.

Es ist auch jetzt immer noch eine positive Geschichte.

Ich würde sogar sagen eine romantische.

Sie ist gefährlich, aber sie ist schön. Lassen Sie sich von meinen Sorgen nicht irreleiten. Ich liebe sie wirklich. Und es gibt da ja noch die Hoffnung, dass nichts davon eintreten wird. Dass sie mich nicht verrät, mich nicht verkauft, dass alles unentdeckt bleibt.

Aber von Anfang an.

Zwei

Wenn ich wirklich ganz am Anfang beginnen müsste, wäre das der Moment gewesen, als ich in dem Cafe saß und mit meinem Zeigefinger die Zuckerkrümel von der Tischplatte aufpickte. Es war Hans Angewohnheit, den Zucker zu verschütten, wenn er mit einem Streuer seinen Kaffee süßte. Meine Angewohnheit war es, ihn dafür zu Recht zu weisen und die Krümel aufzupicken und von meinem Finger zu lecken.

In diesem Moment wies ich Hans nicht zurecht. Er war längst gegangen, aber den Zucker pickte ich auf, gedankenverloren wie unter Schock. Doch ich leckte meine Finger nicht ab. Irgendwo zwischen Picken und Lecken hatte ich verstanden, was er mir zu verstehen gegeben hatte. Und irgendwo dazwischen war ich paralysiert worden.

Mein zuckriger Finger war eine Geste der Vergangenheit, aber so weit war ich noch nicht, das zu verstehen. Ich wollte, dass alles wäre wie vor diesem Treffen, als wir ein gewesen waren. Nur wenige Minuten zuvor waren wir noch eines gewesen. Eines, das vielleicht nicht mehr füreinander brannte wie am ersten Tag, aber immer noch eine gute Beziehung führte voller gegenseitigem Respekt und auch Vertrauen.

Aber so war es offensichtlich nicht mehr.

Er hätte sich weiterentwickelt. Er hätte sich verändert. Es läge nicht an mir, da solle ich mir ganz sicher sein.

Das hatte er gesagt, als die Kellnerin den Kaffee brachte und er wie immer zu hastig den Zuckerstreuer in die Tasse kippte, dass die Kristalle über den Tisch flogen.

Diese vertraute Geste passte nicht zu seinen Worten. Seine Handbewegung war mir so vertraut und selbstverständlich, doch seine Worte waren die eines anderen, die zu einer anderen Konversation gehören mussten.

Später ärgerte es mich schrecklich, wie beiläufig er offensichtlich gewesen war, dass er nicht einmal seine routinierten Bewegungen hatte unterlassen können, als er mir sagte, dass es vorbei sei. Aber in diesem Moment war ich einfach nur vor den Kopf gestoßen und taub.

Wenn ich wirklich am Anfang beginnen wollte, müsste ich dort beginnen. An diesem Nachmittag, als unbemerkt von allen anderen meine Welt zusammenbrach, so wie vielleicht in diesem selben Moment ganze Universen im Weltall untergingen, ohne dass irgendwer auf der Erde das mitbekam.

Aber ich möchte nicht dort beginnen, weil es schon zu lang her und mittlerweile verblasst ist. Es ist auch nicht sonderlich interessant, denn diese Geschichten passieren jeden Tag tausendfach.

Wichtig wäre allenfalls zu beschreiben, wie sehr mich das getroffen hat. Aber wenn Sie einmal verlassen worden sind, und Ihre Welt danach in Trümmern lag, werden Sie mich verstehen können und wissen, dass es nicht in Worte zu fassen ist. Und haben Sie es selbst noch nicht erlebt, so gibt es genug kitschige Lieder, prätentiöse Filme und schmalzige Bücher, die es Ihnen erfolglos zu erklären versuchen.

Ich muss das nicht tun.

Dennoch hat meine Geschichte nichts mit gebrochenen Herzen und Liebeskummer zu tun, sondern mit Obsession.

Es ist eine Liebesgeschichte.

Drei

Das erste Mal hatte ich sie im Gang wahrgenommen. Gesehen hatte ich sie schon öfter, obwohl ich sie gar nicht unterrichtete.

Ich war zu spät dran, voll bepackt mit meiner Tasche, dem Medienkoffer und der Jutetasche mit den schlecht ausgefallenen Klassenarbeiten. Es hatte längst geklingelt, und ich hörte, wie die 8c am Ende des Ganges den Klassenraum auseinander nahm. Ich versuchte die verschiedenen Gewichte zu balancieren und schwankte wie eine Betrunkene durch den muffigen Gang. Ich war bereits jetzt genervt, und der Lärm aus der Klasse trug nur dazu bei, dass sich das noch steigern sollte. Mich erwartete kein entspannter Unterricht, sondern Aggression und Geschrei, und ich würde dieses autoritäre Schelten an den Tag legen müssen, das ich so sehr verabscheute, zu dem ich mich so überwinden musste, aber das scheinbar die einzige Sprache war, die diese Klasse verstand.

Mir standen 90 Minuten Tortur bevor.

Ich seufzte und dachte daran, dass ich mich in Gedanken schon anhörte wie einer der verbitterten Kollegen, zu denen ich nie gehören wollte.

Da stand sie mitten im Gang. Besonders lässig. Schwarz gefärbte lange Haare, enge schwarze Jeans, ein ausgewaschenes Shirt mit rotem Stern, Springerstiefel.

Sie quatschte mit ihren Freundinnen, die ähnlich gekleidet waren wie sie, aber nicht die Aufmerksamkeit so sehr auf sich zogen.

Sie hatte etwas. Diese besondere Ausstrahlung, die manche Menschen aus unergründlichen Gründen einfach haben.

Ich beachtete sie zuerst nicht und sie mich nicht, obwohl sie mich kommen gesehen haben musste. Ich bewegte mich in etwa so grazil und dezent wie ein Zirkuselefant, kämpfte mit dem Riemen der Tasche, der mir von den Schultern zu rutschen drohte. Ich verdrehte meine Schulter, um ihn oben zu halten, war mit meinen Gewichten beschäftigt und schaute erst ein paar Meter vor mir wieder auf.

Sie stand da. Übermäßig lässig. Den Daumen in die Jeans eingehakt. Sie war in der Oberstufe, hatte vermutlich eine Freistunde und lungerte nun mit ihren Freundinnen im Gang herum.

Ich kam näher, balancierte und schwankte und stolperte heran.

Und sie versperrte mir den Gang in stoischer Gelassenheit, ohne mich zu beachten. So lange, bis ich gezwungen war, mich an ihr vorbei zu zwängen, wobei der Riemen der Tasche mir von der Schulter rutschte und mein gesamtes mühsam zusammengestelltes Gewichts-Ensemble in sich zusammenbrach und mir entglitt.

Die Jute-Tasche rutschte mir von der Schulter. Ich war gezwungen die Taschen abzustellen, halb fielen sie, halb glitten sie mir aus den Händen.

Ich seufzte einmal tief, wischte mir den Schweiß von der Stirn und packte mir alles wieder auf den Buckel. Ich war einfach nur genervt von dem Tag und der Situation und der 8c und allem.

In meinem Nacken spürte ich ihre Blicke. Ihre und die ihrer Freundinnen. Und ich hätte schwören können, dass sie grinsten. Böswillig und spöttisch. Aber ich setzte meinen Weg fort ohne ein Wort, nur mit einem genervten Seufzer und einer zerknitterten Miene.

Kein Wort der Entschuldigung und kein Wort des Bedauerns. Sie bot mir nicht ihre Hilfe an. Sie stand einfach da. Ich war Luft für sie.

Sie redete weiter, als sei nichts passiert. Ich wusste nicht, worum es ging, um irgendetwas Belangloses vermutlich. Ich glaubte nur, dass ihre Stimme sich um eine Nuance gewandelt hatte. Zu der gleichen Boshaftigkeit und dem gleichen Spott wie ich es in ihrer Stimme vermutete.

Ich hätte mir das nicht gefallen lassen sollen, hätte sie zur Rede stellen müssen, sie über Respekt und Höflichkeit belehren sollen. Aber mein Kopf war so mit anderen Sachen beschäftigt, dass ich einfach nicht daran dachte.

Stattdessen hetzte ich in die Klasse und konnte gerade noch dem nassen Schwamm ausweichen, der in meine Richtung flog. Er war nicht auf mich geworfen worden, sondern auf Martin, der ihn auch voll ins Gesicht bekam, so wie Peter dafür einen Eintrag ins Klassenbuch und einen Anruf bei seinen Eltern bekommen sollte.

Die Stunde und der restliche Tag vergingen genauso mies, wie ich mir das vorgestellt hatte, und ich vergaß den Vorfall im Gang mit dem Mädchen.

Erst als ich abends im Bett lag, musste ich wieder daran denken. Wie konnte jemand so ignorant sein und sich so impertinent einer Lehrerin gegenüber verhalten?

Was sollte das?

Ich war früher jedenfalls nicht so keck gewesen. So frech, respektlos, vielleicht sogar so mutig.

Wir hatten früher nicht so viel Chuzpe gehabt. Solche Unverschämtheiten hatten wir uns nicht erlaubt.

Aber ich rutschte wieder in diese verhärmte Litanei der verbitterten Kollegen. Also schüttelte ich den Gedanken beiseite.

Eigentlich ärgerte ich mich nicht so sehr über sie, sondern vielmehr über mich selbst. Ich hätte einfach anders reagieren müssen. Ich hätte den mir schuldigen Respekt einfordern sollen. Ich hätte es nicht auf sich beruhen lassen sollen, sondern mich durchsetzen müssen. All das hätte ich tun sollen. Aber ich war einfach nicht spontan genug gewesen, um in der Situation angemessen zu reagieren.

Das Ärgerliche lag nicht in ihrem Verhalten, sondern in meiner Reaktion. Jedenfalls nahm ich mir vor, beim nächsten Mal souveräner aufzutreten.

Als ich bemerkte, dass meine Gedanken an der perfekten Replik feilten, die ich ihr nicht gegeben hatte, versuchte ich unwillig an anderes zu denken.

Esprit d’Escalier.

Treppenwitz.

So nennt man die Schlagfertigkeit, die man erst dann besitzt, wenn man schon wieder auf der Treppe auf dem Weg nach draußen ist. Die Schlagfertigkeit, die nicht da war, als man sie brauchte, und die erst viel später einsetzt.

Ich hätte ihr sagen sollen… oder besser noch…

Es hatte etwas Armseliges, so an welken Worten der Vergangenheit zu feilschen. Und zu versuchen, eine innere Genugtuung zu erlangen im Angesicht der offensichtlichen Niederlage. Diese Gedanken wollte ich nicht weiter verfolgen. Ich hatte es in der Situation nicht geschafft, schlagfertig zu sein, nun machte es keinen Sinn mehr, es verspätet zu versuchen. Allein abends in meinem Bett.

Ich versuchte an etwas anderes zu denken.

Es gelang nicht. Seltsamerweise hatte ich immer dieses abwertende Lächeln, das ich nicht gesehen, nur erahnt hatte, vor meinem geistigen Auge. Und ihre Haltung, die so selbstgewiss war.

Wie aus einem James Dean Film geklaut.

Es waren keine Hintergedanken damit verbunden, aber etwas an ihrem Verhalten beschäftigte mich.

Vier

Die neue Stadt tat mir gut. Durch den Umzug in eine Umgebung war ich wie Phoenix aus der Asche aufgestiegen. Hier gab es keine schlechten Erinnerungen. Alles war neu. Ein neuer Rhythmus, neuer Lärm in den Straßen, neue Erfahrungen. Ich war zufrieden, und der ganze Trubel um den Umzug und die neue Schule beschäftigten mich, stressten mich auch, hielten mich auf jeden Fall vom Grübeln ab.

Es war eine gute Entscheidung gewesen, die Stadt zu wechseln und Hans hinter mir zu lassen.

Der einzige Makel bestand darin, dass ich hier niemanden kannte. In der Schule waren praktisch keine Kolleginnen oder Kollegen in meinem Alter.

Ich lief nicht mehr ziellos durch die Straßen in der irrsinnigen Hoffnung, Hans zu sehen. Ich hoffte nicht jeden Tag, dass er es sich anders überlegen und mich anrufen würde. Ich verleugnete mich nicht mehr, wenn jemand an der Tür klingelte, weil ich mit keinem Menschen sprechen wollte. Ich versank nicht mehr in Selbstmitleid.

Ich lebte einfach.

In der neuen Stadt schien die Sonne wieder, in der neuen Stadt fand der Sommer mich wieder.

Ich musste mich nicht mit der Frage herumplagen, ob wir noch Freunde sein könnten. Mein Herz musste nicht mehr schneller schlagen, wenn ich an seiner Wohnung vorbei kam und noch Licht im Wohnzimmer sah. Ich musste nicht mehr ständig an ihn denken, und ich musste nicht mehr all die Orte meiden, an denen wir eine gemeinsame Geschichte hatten.

Ich war wieder eine Frau und nicht mehr nur ein biologisch funktionierender Organismus. Ich war wieder existent.

Man sagt, dass Frauen besser damit zurechtkommen, verlassen zu werden als Männer. Für mich gilt das ganz sicher nicht. Das hatte ich gelernt.

Es war in der neun Stadt absolut in Ordnung. Ich hatte mit der Telefongesellschaft zu kämpfen, die mir keinen Anschluss frei schalten konnte, als sie es dann tat, da musste ich mit ihnen kämpfen, weil das Internet nicht funktionierte, als es dann lief, konnte ich wieder niemanden mehr anrufen. Es waren diese kleinen Dinge, über die ich mich ärgerte, und das in einem Maße, dass die existenzbedrohende Krise in den Hintergrund rückte. Die Welt drehte sich nicht nur um Hans. Das lernte ich, und ich war froh über diese Erkenntnis.

Der Kampf mit einer gesichtslosen Telefongesellschaft und bornierten Sachbearbeitern hielt mich von den Kämpfen mit den Monstern ab, die mich in den vorangegangenen Monaten in ihren Klauen gehalten und gewürgt hatten. Wenn man nur genug zermürbende Kleinkriege führen muss, dann wird man wohl auch von der größten existenzbedrohenden Katastrophe abgelenkt.

Und dennoch.

Mir fehlte ein Mensch.

Ich war allein in der Stadt. Es gab niemanden, mit dem ich reden konnte. Zwar hatte ich all die alten Freunde, die ich in der Zeit der Krise verleugnet hatte, wieder angerufen, aber sie erschienen mir nicht nur räumlich weit entfernt. Sie sprachen von Dingen und Menschen, die mir fremd wurden, die verblassten, und an denen ich tagtäglich weniger Anteil nahm. Das war der Preis für die Flucht. Der Tratsch, der Klatsch und die Gerüchte, an denen ich zuvor solch einen Gefallen gefunden hatte, verblassten nun und erschienen mir zunehmend trivial und uninteressant. Ich war nicht mehr Teil dieser Welt, aber eine neue hatte ich für mich noch nicht entdeckt.

In der Schule fand ich keine und keinen Kollegen, mit dem ich mich wirklich unterhalten konnte über private Dinge. Sie waren alle recht nett und hilfsbereit, ich hatte keinen Grund mich zu beklagen, aber sie waren praktisch alle zu alt, als dass ich irgendein wirkliches, privates Gespräch mit ihnen hätte führen können. Es lagen Welten und Jahrzehnte zwischen uns, das wurde mir schnell klar.

Ich glaube, es waren diese Umstände, die dazu beitrugen, dass ich auf das Mädchen aufmerksam wurde.

Unsere zweite Begegnung fand einige Tage später statt. Im Nachhinein frage ich mich, ob dieses zweite Treffen sich noch zufällig begab, oder ob sie mich damals bereits im Auge hatte.

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